kleinebärin
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Die Gardinen sind wie immer zugezogen, verwehren uns den Blick nach draußen auf den im Sonnenlicht liegenden weitläufigen Gartens.
Er sitzt mir gegenüber auf dem Sofa, ordnet mit langsamen, bedächtigen Bewegungen Papiere, die er auf dem Sofa und dem Tisch verteilt hat. "Rechnungen, nichts als Rechnungen" murmelt er, wirft mir einen mißtrauischen Blick zu und schiebt sie eilig, bevor ich einen Blick darauf werfen kann, in Schnellhefter. Dann überkommt ihn das Bedürfnis zur Toilette gehen zu müssen „Ich muss Wasser lassen“. So wie unzählige Male zuvor an diesem Tag und in der zurückliegenden Nacht, im Zwanzig-Minuten Rhythmus. So wie an allen Tagen und in allen Nächten der zurückliegenden Monate.
Sehr häufiger Harndrang, konstatiere ich, zurückzuführen auf die Herzinsuffizienz. Die Arbeitsleistung des Herzens beträgt nach Aussagen seines behandelnden Kardiologen gerade noch fünfzehn Prozent.
Mühsam erhebt er sich, steht mit leichtem Schwanken auf, geht mit tastenden, zittrigen Schritten zur Toilette. Ich eile ihm zur Hilfe, ergreife seine Hand um ihn zu stützen.
Und ich fühle nichts, kein Mitleid mit ihm, bin wie erstarrt und gelähmt.
Später am Nachmittag dann fahre ich an den See, laufe wie betäubt am Ufer entlang, finde mich irgendwann auf einer Bank sitzend wieder. Lange bleibe ich dort. Allmählich erst nehme ich die stille Wasseroberfläche wahr, die ruhig dahin gleitenden schwarzen Seehühner und die Schwalben hoch oben am Himmel. Ich spüre die angenehme Abendkühle auf meinen bloßen Armen und Beinen, und ich sehe, dass meine Füße, die in Sandalen stecken, gebräunt sind. Erst jetzt weicht die Lähmung von mir. Macht Platz für Gefühle des Schmerzes in meinem Inneren und der Hilflosigkeit. Nichts kann er loslassen, abgeben. Will noch stets alles selber regeln, in der Hand halten. Bis zum Platz des Kabels und kleinsten Nagels…
* * *
Den langen Weg, auf dem mit jedem abnehmenden Kilometer die Hoffnung wuchs, dass wir dieses Mal miteinander ins Gespräch kämen, hatte ich hinter mich gebracht.
Um ihn am Nachmittag in seinem letzten Sommer zu besuchen.
Zuvor hatte ich in der Bäckerei Streuselkuchen gekauft. Weil er den so gerne isst. In der Hoffnung erstand ich ihn, an diesem warmen, sonnigen Tag mit ihnen im Garten sitzen zu können. Unter dem alten Apfelbaum, mit dem ich seit den Kindertagen befreundet war, der seine gebogenen Äste auf so hungrige Weise noch stets der Sonne entgegenstreckt. Wider besseres Wissen erstand ich ihn. Als könnten sie sich zugestehen, jemals etwas in Ruhe zu genießen. Sie, die sich nicht mal den Besuch eines Cafes gönnten, sondern stattdessen ihren Kaffee in einem Stehcafe tranken.
Wir saßen zuerst im Wohnzimmer. Dann aßen wir den Kuchen in der Küche, weil sie keine Zeit hatten mit mir im Garten zu sitzen.
Meinen Vater hielt es nicht auf seinem Stuhl, kaum dass er seine Tasse ausgetrunken hatte.
Er machte sich zitternd, gebeugt, mit schleppenden Schritten, in unerträglicher Langsamkeit, mit einem so anrührend nutzlosen, viel zu kleinen Spazierstock in der Hand, auf den Weg um das Haus zur Garage. Dort war einer der Handwerker, den er tags zuvor beauftragt hatte, damit beschäftigt die Innenwände der Garage weiß zu kalken. Ich folgte ihm, versuchte ihn zu überreden sich in den Garten zu setzen. Doch mit verbissenem Gesicht, mich mit einer ärgerlichen Bewegung abwehrend, schaffte er es bis zu der Garage. Stellte sich vor das geöffnete Tor, verfolgte leicht schwankend jede Bewegung des Arbeiters. Mit diesem wechselte ich einen besorgten Blick, das Angebot des Mannes, ihm einen Stuhl zu holen, wies er erbost mit harscher Stimme ab. Mit Fassungslosigkeit verfolgte ich, wie er dem Handwerker Anweisungen erteilt, das Streichen korrigierte und die Plätze für Kabel und Nägel anordnete.
Ich konnte seinen Anblick nicht mehr ertragen, jeder Blick in sein angestrengtes blasses Gesicht empfand ich wie einen Schlag gegen mich. Auf dem Weg zu meinem Auto sah ich, wie meine Mutter auf dem Bürgersteig vor dem Haus kniete, mit einem Messer in der Hand kratzte sie das Gras aus den Fugen der roten Pflastersteine. „So gehört es sich“ rief sie mir mit hochrotem Kopf zu, „der Gärtner, der für diese Arbeit sein Geld umsonst kriegt, dem werde ich zeigen, was gründliche Arbeit ist!“
Deutsche gründliche Arbeit, fügte ich in Gedanken ihren Worten unwillkürlich hinzu, stieg in meinen Wagen und fuhr los…
Er sitzt mir gegenüber auf dem Sofa, ordnet mit langsamen, bedächtigen Bewegungen Papiere, die er auf dem Sofa und dem Tisch verteilt hat. "Rechnungen, nichts als Rechnungen" murmelt er, wirft mir einen mißtrauischen Blick zu und schiebt sie eilig, bevor ich einen Blick darauf werfen kann, in Schnellhefter. Dann überkommt ihn das Bedürfnis zur Toilette gehen zu müssen „Ich muss Wasser lassen“. So wie unzählige Male zuvor an diesem Tag und in der zurückliegenden Nacht, im Zwanzig-Minuten Rhythmus. So wie an allen Tagen und in allen Nächten der zurückliegenden Monate.
Sehr häufiger Harndrang, konstatiere ich, zurückzuführen auf die Herzinsuffizienz. Die Arbeitsleistung des Herzens beträgt nach Aussagen seines behandelnden Kardiologen gerade noch fünfzehn Prozent.
Mühsam erhebt er sich, steht mit leichtem Schwanken auf, geht mit tastenden, zittrigen Schritten zur Toilette. Ich eile ihm zur Hilfe, ergreife seine Hand um ihn zu stützen.
Und ich fühle nichts, kein Mitleid mit ihm, bin wie erstarrt und gelähmt.
Später am Nachmittag dann fahre ich an den See, laufe wie betäubt am Ufer entlang, finde mich irgendwann auf einer Bank sitzend wieder. Lange bleibe ich dort. Allmählich erst nehme ich die stille Wasseroberfläche wahr, die ruhig dahin gleitenden schwarzen Seehühner und die Schwalben hoch oben am Himmel. Ich spüre die angenehme Abendkühle auf meinen bloßen Armen und Beinen, und ich sehe, dass meine Füße, die in Sandalen stecken, gebräunt sind. Erst jetzt weicht die Lähmung von mir. Macht Platz für Gefühle des Schmerzes in meinem Inneren und der Hilflosigkeit. Nichts kann er loslassen, abgeben. Will noch stets alles selber regeln, in der Hand halten. Bis zum Platz des Kabels und kleinsten Nagels…
* * *
Den langen Weg, auf dem mit jedem abnehmenden Kilometer die Hoffnung wuchs, dass wir dieses Mal miteinander ins Gespräch kämen, hatte ich hinter mich gebracht.
Um ihn am Nachmittag in seinem letzten Sommer zu besuchen.
Zuvor hatte ich in der Bäckerei Streuselkuchen gekauft. Weil er den so gerne isst. In der Hoffnung erstand ich ihn, an diesem warmen, sonnigen Tag mit ihnen im Garten sitzen zu können. Unter dem alten Apfelbaum, mit dem ich seit den Kindertagen befreundet war, der seine gebogenen Äste auf so hungrige Weise noch stets der Sonne entgegenstreckt. Wider besseres Wissen erstand ich ihn. Als könnten sie sich zugestehen, jemals etwas in Ruhe zu genießen. Sie, die sich nicht mal den Besuch eines Cafes gönnten, sondern stattdessen ihren Kaffee in einem Stehcafe tranken.
Wir saßen zuerst im Wohnzimmer. Dann aßen wir den Kuchen in der Küche, weil sie keine Zeit hatten mit mir im Garten zu sitzen.
Meinen Vater hielt es nicht auf seinem Stuhl, kaum dass er seine Tasse ausgetrunken hatte.
Er machte sich zitternd, gebeugt, mit schleppenden Schritten, in unerträglicher Langsamkeit, mit einem so anrührend nutzlosen, viel zu kleinen Spazierstock in der Hand, auf den Weg um das Haus zur Garage. Dort war einer der Handwerker, den er tags zuvor beauftragt hatte, damit beschäftigt die Innenwände der Garage weiß zu kalken. Ich folgte ihm, versuchte ihn zu überreden sich in den Garten zu setzen. Doch mit verbissenem Gesicht, mich mit einer ärgerlichen Bewegung abwehrend, schaffte er es bis zu der Garage. Stellte sich vor das geöffnete Tor, verfolgte leicht schwankend jede Bewegung des Arbeiters. Mit diesem wechselte ich einen besorgten Blick, das Angebot des Mannes, ihm einen Stuhl zu holen, wies er erbost mit harscher Stimme ab. Mit Fassungslosigkeit verfolgte ich, wie er dem Handwerker Anweisungen erteilt, das Streichen korrigierte und die Plätze für Kabel und Nägel anordnete.
Ich konnte seinen Anblick nicht mehr ertragen, jeder Blick in sein angestrengtes blasses Gesicht empfand ich wie einen Schlag gegen mich. Auf dem Weg zu meinem Auto sah ich, wie meine Mutter auf dem Bürgersteig vor dem Haus kniete, mit einem Messer in der Hand kratzte sie das Gras aus den Fugen der roten Pflastersteine. „So gehört es sich“ rief sie mir mit hochrotem Kopf zu, „der Gärtner, der für diese Arbeit sein Geld umsonst kriegt, dem werde ich zeigen, was gründliche Arbeit ist!“
Deutsche gründliche Arbeit, fügte ich in Gedanken ihren Worten unwillkürlich hinzu, stieg in meinen Wagen und fuhr los…