Mein Vater und der Alte

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Rafi

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Mein Vater und der Alte

An dem Tag, an dem meine Mutter starb, rannte ich hinauf zum See. Tante Rene hatte mich losgeschickt, meinen Vater zu holen. Sie und der Arzt waren bei Mutter geblieben.
Es war ein heißer Tag. Einer der letzten in diesem trockenen August. Die Luft flimmerte, und der staubige Weg, der unser Dorf mit dem nahen Wald verband, flog unter meinen nackten Füßen dahin. Links von mir ließ der Hafer seine Ährenköpfe hängen, rechts leckten einige Kühe den Rest Gras vom harten, salzigen Boden.
Wie Sicheln durchschnitten meine Arme die Luft, meine Beine trommelten hastig den Takt auf dem Boden, und meine Lunge sog die Luft so schnell ein und stieß sie so schnell wieder aus, dass sie sich anfühlte, als wäre sie mit Glut gefüllt. Ich achtete nicht darauf. Nicht auf meine Lunge, nicht auf die Steine, die sich in die Hornhaut meiner Fußsohlen bohrten, und auch nicht auf die Kühe, die mir dumm kauend nachschauten. Ich wollte schnell bei Vater sein. Vielleicht konnte er, wenn er sich beeilte, noch ein letztes Mal Mutters Hand halten. Ihr ein letztes Mal zeigen, dass vielleicht doch ein Krümel Liebe für sie in ihm war.

Sie war lange krank gewesen. Seit sie im vergangenen Herbst diese Erkältung hatte, fühlte sie sich kraftlos. „Wie eine Hühnerbrühe ohne Huhn“, sagt sie und versuchte dabei ein Lächeln, welches ihr nicht gelang. Unter ihren müden Augen hatten sich dunkelviolette Ringe gebildet, oft sah ich sie in der Küche sitzen und den Kopf in die Hände stützen. Und ich hatte sie seufzen gehört; vor allem dann, wenn sie sich alleine glaubte. Wenn sie vergessen zu haben schien, dass ich überhaupt da war, und wenn Vater wieder oben am See war. Es hatte sich angehört wie das Förderband, mit dem im Herbst die Strohballen in die Scheune geschafft wurden. Es lief über vier oder fünf eiserne Rollen, und wenn ich oben in der Scheune stand, um die Ballen aufeinanderzustapeln, ratterte das Band über die Rollen. So hatte es sich ange­hört, wenn Mutter seufzte.

Ich glaube, Vater hatte sie nie seufzen gehört. Schon früher, bevor er seine Arbeit in der Stadt verloren hatte, war er die meiste Zeit oben am See gewesen. Und seit es für ihn selbst in der Nachbarschaft bei den Bauern oder in der Lederfabrik, deren beißender Gestank aus dem hohen Ziegelkamin oft über die Felder zu uns wehte, nur noch selten etwas zu tun gab, war er fast immer oben. Ganz früh am Morgen, meistens noch ehe ich wach war, nahm er seine Rute und machte sich auf den Weg. Im Winter, wenn der See zugefroren war, nahm er noch ein Beil mit, um das Eis aufzuhacken. Er kam immer erst am Abend zurück. Wenn es dunkel war und Mutter das Essen so lange für ihn warm gestellt hatte, dass es ganz breiig geworden war. Dann setzte Vater sich an den Tisch und aß schweigend; dabei sah er manchmal so aus wie das, was ihm aus dem Teller entgegenblickte: grau und fad. Seit er nicht mehr jeden Morgen mit seinem alten Fahrrad in die Stadt fuhr, betete er nicht mehr vor dem Essen. Er starrte nur auf seinen Teller mit dem Brei, sagte nichts und aß. Anders kannte ich meinen Vater nicht mehr.

Den Weg zum See hätte ich mit verbundenen Augen gefunden. Ein oder zwei Mal hatte Vater mich mit hochgenommen. Dann saßen wir eine Weile schweigend nebeneinander am Ufer, starrten auf das Wasser und verfolgten die Schatten der großen Bäume dabei, wie sie langsam von links nach rechts wanderten und dabei wuchsen. Mir wurde langweilig, und ich begann zu zappeln und zu plappern. Mein Vater wollte das nicht. Er meinte, meine Unruhe vertreibe den Alten. Darum nahm er mich nicht mehr mit zum See. Er fing trotzdem nie etwas. Auch nicht, wenn er alleine war.
Viel öfter war ich, wenn meine Arbeit getan war, allein durch den Wald zum See gelaufen. Dann schlich ich mich nahe an die Stelle, an der ich meinen Vater wusste, verbarg mich hinter einem Busch oder einem Baumstamm und beobachtete ihn. Oft schien es mir dann, als würde die Zeit stillstehen. Mein Vater saß am Ufer des Sees auf einer dicken Wurzel, starrte hinaus auf das Wasser, auf dem an manchen Frühlingstagen das Sonnenlicht glitzerte, und regte sich nicht. Seine Füße hatten in all den Jahren eine Kuhle in die feuchte Ufererde gescharrt, in der nichts mehr wuchs. Wie eine blankpolierte Silberplatte lag der See vor ihm. Die Angelschnur stach in einem schrägen Winkel ins Wasser und hinter­ließ nur eine feine, sich schnell auflösende Spur aus Kräuselwellen, wenn mein Vater sie mit der Rute gemächlich zog. Das tat er nur selten. Er meinte, auch diese Unruhe vertreibe den Alten.
Der Alte – in unserem Dorf lachte man über ihn und über meinen Vater. „Da oben gibt es keinen Fisch“, sagten sie. „Erst recht keinen Karpfen.“
„Ich habe ihn gesehen“, beharrte mein Vater. „Ich habe ihn springen sehen. Er ist der größte Karpfen, der jemals gelebt hat. Ich habe ihn gesehen.“
Und dann breitete er die Arme weit aus und zeigte, wie groß der Alte sein sollte. Und er sagte, seine Arme würden nicht ausreichen, weil der Alte noch viel größer sei. So groß, sagte mein Vater, dass sein Schatten, wenn er aus dem Wasser spränge, um nach Fliegen und Libellen zu schnappen, an einer engen Stelle des Sees von einem bis zum anderen Ufer reiche. Sein Körper sei schwarz wie Teer und sein Maul zerrissen von den vielen Haken, an denen er bereits gehangen hätte. Es seien die Angelhaken meines Vaters gewesen, meinte er, alle. „Er ist stark, der Alte“, erzählte er, und dabei glänzten seine hellen Augen, und sein Blick richtete sich zum Wald und zum See, dahin, wo der Alte leben sollte. „Er ist stärker als ich. Noch. Aber eines Tages werde ich stärker sein. Dann wird der Alte müde sein, und ich werde ihn fangen. Eines Tages, wenn er weiß, dass er sterben muss. Wenn er keine Lust mehr hat, noch ein weiteres Jahr ganz alleine in seinem See zu leben, dann wird er sich nicht mehr von meinem Haken reißen. Die Einsamkeit dort oben macht ihn müde. Ich weiß es. Dann wird er zu mir kommen und sich von mir fangen lassen. Ich weiß es.“
Wenn mein Vater im Dorf so redete, lachten die Leute über ihn. Er senkte dann den Kopf und trottete nach Hause. Manchmal sah ich ihn, und er tat mir leid. Aber es machte mich auch wütend, dass er sich diesem Spott aussetzte, sich all das von den anderen gefallen ließ. Ich schämte mich, weil er sich mit seiner Geschichte zum Hanswurst machte, weil alle über ihn lachten. Manchmal lachte auch ich über ihn; ich lachte, damit niemand meine Tränen sah.

Kurz nach dem Waldrand begann der Weg steil anzusteigen. Der Schatten war kühl und dicht. Mein Körper war von der Sonne so erhitzt, dass ich glaubte, die Blätter der Büsche müssten verdorren, wenn sie mich berührten. Ich sprang über Steine und Wurzeln, bückte mich im Laufen unter tiefhängenden Ästen und achtete kaum auf die Sträucher, die an den Ärmeln meines Hemdes zerrten. Eine Brombeer­ranke peitschte nach mir und hinterließ eine blutige Schramme auf meiner Wange. Ich sprang auf einen kleinen Ast, dessen Ende sich schmerzhaft in meine Ferse bohrte. Ich hörte meinen Atem, der sich keuchend aus mir befreite und befahl meinen Beinen, keine Rücksicht zu nehmen. Sie sollten noch höher springen und noch schneller laufen. Sie sollten meinem Vater sagen, dass er nach Hause musste. Zu Mutter, die starb. Ein einziges Mal sollte sie wenigstens noch spüren, dass er sie liebte. Mehr als seinen verfluchten Fisch, der doch nur ein Hirngespinst war. Mehr als seinen Hass auf die Welt, in dem er sich suhlte wie die Sau im Schlamm. Mehr auch als mich, der ich seine Liebe nicht mehr brauchte und nicht mehr wollte, auch wenn ich mich manchmal danach sehnte.
In diesem Sommer war ich dreizehn geworden. Es war ein außergewöhnlich heißer Sommer. Ein Sommer in Schlesien, und ich wusste damals noch nicht, dass es der letzte seiner Art sein würde. Außer unserem Dorf, den Feldern und dem Wald mit seinem See hatte ich bis dahin noch nicht viel gesehen. Die Welt bestand für mich aus meinen Eltern und Tante Rene; von allem anderen hatte ich nur in der Schule gehört. Und von den Männern, die manchmal erzählten, wenn wir in der Erntezeit eine Pause machten, um unser Schmalzbrot zu essen. Sie sagten, es würde bald Krieg geben und dass dann alles anders sein würde. Die Welt dreht sich weiter, sagten sie, wie ein Karussell. Immer weiter. Der eine springt auf dabei, ein anderer fällt ab. Ich hatte noch nie ein Karussell gesehen.
Meine Mutter aber erzählte manchmal, dass sie, als ich noch nicht da war, einmal in Breslau gewesen sei, auf einer Kirmes. Und da, so erzählte sie, sei sie Karussell gefahren. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Mutter jemals auf irgendetwas aufspringen würde. In meinen Träumen stand sie als magere Gestalt vor einem sich drehenden Etwas, die den Mut zum Sprung nicht fand und sich schließlich müde und gebeugt abwandte. So, wie sie sich immer von allem abwandte, was sie nicht verstand. Sie war eine stille Frau, die selten lachte. In ihrem Gesicht hatten die Jahre Furchen hinterlassen wie die Pflüge auf den Äckern ringsum. Die Haut an ihrem Hals war faltig und weich, manchmal sah ich ihr Herz darunter schlagen. Ihre Stimme hatte die gleiche Farbe wie der Nachthimmel, aber sie benutzte sie selten. Mit meinem Vater sprach sie so gut wie nie. Auch von ihm hatte sie sich längst abgewandt. Und er drehte sich weiter nur um sich selbst, in seiner ganz eigenen Welt, in der es nur ihn und den Fisch gab, den er den Alten nannte. In den Jahren meiner Kindheit war es mir nie aufgefallen, dass ihr Haar, welches sie zu einem Dutt geknotet trug, immer grauer wurde. Bis es schließlich schlohweiß war. Als meine Mutter starb, war sie fünfunddreißig.

Vor meinem Vater hatte ich insgeheim Angst. Er sprach noch weniger als meine Mutter, und wenn er etwas sagte, dann waren es Worte, deren Farbe den Feldwegen glich; braun und schwer wenn es regnete, grau und staubig im Sommer, rutschig und hart wie an einem Januarmorgen. Es gab keinen anderen Menschen im Dorf, dessen Augen trauriger waren als die meines Vaters. Früher, als ich noch viel kleiner war, und als er noch nicht ganz so oft hoch zum See ging, da lachte er manchmal. Dabei warf er den Kopf mit dem dichten braunen Haar zurück in den Nacken, und es klang wie das Rufen der Bauern, wenn sie am Abend ihre Kühe zusammentrieben, um sie in den Stall zu bringen. Er ließ mich Bier probieren und einmal auch an seiner Zigarette ziehen, die er selbst drehte, und die seine Finger gelb färbte. Ich mochte es, wenn ich mit meiner Hand über sein großes Gesicht strich. Seine Bartstoppeln kratzten, dann lächelte er, und ich roch den Schweiß, der in seiner Kleidung hing, als sei er dort eingenäht. An dem Tag, an dem er seine Arbeit verlor und als gebrochener Mann nach Hause kam, hatte er sein Lachen in der Stadt gelassen. Er war mürrisch geworden und leise. Das einzige, über das Vater überhaupt noch sprach, war der Alte. Anfangs glaubte ich meinem Vater. Später, als ich größer wurde, nicht mehr. Ich war oft genug selbst oben am See im Wald gewesen. Nie hatte ich einen Fisch dort gesehen, nie etwas anderes als Mückenschwärme, Libellen, Häher und meinen Vater. Nie. Er machte mir Angst, weil er die Leute im Dorf dazu brachte, über ihn zu lachen. Und weil er selbst nicht mehr lachte. Er hatte sich in seine eigene Welt eingeschlossen wie in einem Zimmer. Einsamkeit gab es darin und Kummer und Leid. Sonst nichts. Niemand, auch ich nicht, durfte dieses Zimmer jemals betreten, in dem mein Vater ganz allein lebte und den Alten jagte. Ich hatte Angst vor meinem Vater, weil er ein Fremder geworden war, der keine Liebe in sich trug.

Als meine Mutter diese schlimme Erkältung bekommen hatte, musste sie einige Tage im Bett liegen. Vater blieb zu Hause und bereitete das Essen. Er ließ es zu lange auf dem Herd. Er konnte es nicht besser. Unser Nachbar schlachtete ein Huhn für uns, aus dem Vater eine Suppe für meine Mutter kochte.
Danach ging es ihr besser. Aber seit dem Herbst hörte sie nicht mehr auf zu husten. Es war, als würde mit jedem Anfall etwas mehr ihres Lebens aus ihr herausgeschleudert. Einmal, als sie am Fenster stand und die ersten Sonnenstrahlen des neuen Jahres in sich aufsaugte, sah ich, dass sie nach einem Hustenanfall mit dem Ärmel über die beschlagene Scheibe wischte. Aber ein paar Tropfen hellroten Blutes hatte sie übersehen; ich entdeckte sie.
Mein Vater hatte sie auch bemerkt. Er richtete sich auf, und sein großer Körper spannte sich, und seine rauen Hände sahen so aus, als wollten sie Mutter halten. Doch dann, als ich schon glaubte, er würde zu ihr gehen und sie stützen, fiel er schier in sich zusammen. Er senkte den Kopf, wandte sich ab, und sein Blick begegnete meinem. Einen Atemzug lang starrten wir beide uns an. In diesem Augenblick wusste ich, dass er niemals jemanden würde halten können; er hielt sich selbst nicht mehr. Meine Mutter ließ sich auf einen Schemel sinken und dabei keuchte sie. Ihr Atem ging rasselnd, und mein Vater stand vor mir und tat nichts. Dann nahm er seine Rute und ging hoch in den Wald zum See. Ich begann, meinen Vater zu hassen.
Als der Sommer sich mit aller Kraft aufbäumte, fiel es meiner Mutter immer schwerer, Luft zu holen. Nach der kleinsten Anstrengung musste sie sich setzen und mühsam zu Atem kommen. Es schien, als würde die Hitze ihren Körper, der immer weniger wurde, austrocknen. Vater blieb nicht zu Hause, blieb nicht bei ihr. Er verließ sie und mich, um einem Geist nachzujagen. Jeden Tag war er oben am See bei seinem Fisch, über den die Leute früher gelacht hatten. Jetzt lachten sie nicht mehr. Sie redeten nicht mehr mit meinem Vater und er nicht mit ihnen. Sie verstanden nicht, warum er nicht bei seiner Frau blieb, die krank war und zwischen den Mühlsteinen ihrer Sorgen zerrieben wurde. Er konnte es ihnen nicht erklären, vielleicht wollte er es auch nicht. Ich aber verstand ihn. Trotz allem. Ich wusste, was in ihm vorging, weil ich Tante Rene und Mutter über ihn hatte sprechen hören. „Er jagt einer verrückten Idee nach“, hatte Tante Rene gesagt. „Jahrein, jahraus hockt er oben im Wald und hält seinen Angelhaken ins Wasser. Er sollte lieber Geld verdienen und für seine Familie sorgen.“
„Er kann nicht“, hatte meine Mutter leise geantwortet. „Es ist doch alles, was er noch hat.“
„Aber ein Mann muss die Familie ernähren“, schimpfte Tante Rene. „Es wäre besser, wenn du mit dem Jungen in die Stadt gehst. Du brauchst einen guten Arzt, der deine Schwindsucht behandelt. Und einen guten Mann, der für euch sorgt.“
„Wenn ich ihn verlasse, stirbt er. Er liebt mich und den Jungen. Wir und sein Fisch sind alles, was er noch hat. Du verstehst das nicht, Rene.“
Ich verstand es ebenfalls nicht, aber ich glaubte meiner Mutter. Wenn sie so empfand, dann wollte auch ich das tun. Vielleicht liebte mein Vater uns wirklich. Vielleicht konnte er es nur nicht zeigen. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre der Alte. Dann wäre mein Vater jeden Tag mit mir zusammen gewesen, dann hätte er mir gezeigt, dass er mich liebte. Dafür hätte ich auch den Haken ins Maul genommen und mich nicht losgerissen.

Als ich den See fast erreicht hatte, blieb ich stehen. Ich keuchte, und es hörte sich beinahe so an wie bei meiner Mutter. Langsam und darauf achtend, dass ich nicht auf einen trockenen Zweig trat, ging ich weiter. Ich nahm nicht den direkten Weg zum See, der von den vielen Jahren, die mein Vater ihn benutzt hatte, ausgetreten war: breit und erdig, vollkommen unbewachsen und so aussehend, als wäre er schon immer da gewesen, als gehöre der Weg zum Wald von Anbeginn. Ich aber bog ab auf einen Trampelpfad, der sich zwischen den Büschen durch das Unterholz wandt, schmal und bewachsen und kaum sichtbar. Von meinen eigenen Füßen angelegt in all den Jahren, die ich meinen Vater heimlich beobachtet hatte.
Ich schreckte einen Vogel auf, der schimpfend den Baumwipfeln entgegenflatterte. Schweiß stand auf meiner Stirn, meine Zunge war trocken, und meine Hose und mein Hemd klebten an meinem Körper. Ich roch mich selbst, ich hörte mein Herz schlagen, ich spürte die feuchte und kühle Waldluft, in die ich mich einbettete wie in ein frisches Laken. Und dann sah ich den See zwischen den dürren Zeigen im späten Sonnenlicht glitzern.
Mein Vater saß an der Stelle, an der er immer saß. Wie eine Statue, wie ein abgestorbener Baumstamm, wie einer der großen Findlinge, die überall im Wald verstreut lagen. Kein Muskel regte sich, er machte kein Geräusch, und es hätte mich nicht gewundert, wenn selbst sein Atem stillgestanden hätte. Vielleicht dreißig Meter von mir entfernt hielt er seine Angelrute mit beiden Händen fest umklammert und starrte auf den lächerlich kleinen See hinaus, den man leicht mit wenigen Zügen hätte durchschwimmen können. Ich fragte mich, welches dieser beiden Leben wohl sein wahres war; jenes, welches er als Schatten bei uns zu Hause führte, oder dieses, in dem er als jagender Stein im Wald am Ufer eines Sees, kaum mehr als ein Teich, sich selbst verhöhnte.
Ich teilte die Zweige des Busches, hinter dem ich mich schon oft verborgen hatte und machte einen Schritt auf meinen Vater zu. Noch immer regte er sich nicht, obwohl ich sicher war, dass er mich gehört hatte. Jetzt gab ich mir keine Mühe mehr, leise zu sein. Es wurde Zeit, mich zu zeigen, ihm alles zu zeigen. Viel zu lange schon hatte er sich versteckt; jetzt musste auch er sich zeigen. Wir hatten nichts mehr zu verbergen. Am wenigsten uns selbst.

„Du sollst nach Hause kommen“, sagte ich, als ich ihn erreicht hatte und mit den Händen in den Hosentaschen neben ihm stand. „Mutter geht es nicht gut.“
Noch immer regte sich nichts an ihm, und ich dachte, auch in ihm würde sich nichts regen. Doch dann sah ich, dass in dem Schmutz, den der Wald auf sein Gesicht gemalt hatte, Spuren gezeichnet waren. Spuren von getrockneten Tränen.
Verlegen scharrte ich mit dem Fuß ein Loch in die feuchte Walderde. Ich schaute meinen Vater nicht an; dazu fehlte mir der Mut. Auch seine Augen trafen mich nicht. Mein Blick ging ein Stück nach oben, fand den Flicken auf Vaters Hose, der ein Loch verbarg, welches von einem Sturz mit dem Fahrrad rührte. Ich erinnerte mich, dass Mutter damals ein Stück Stoff gesucht hatte, das die gleiche Farbe wie Vaters Hose hatte; sie hatte keins gefunden, darum war der Flicken immer ein bisschen heller als der Rest. Ich sah die Wurzel, auf der er saß; sie war unter seinem Gewicht gebogen wie ein Kelch. Seine Fäuste umklammerten die schwarze Rute, die er lange vor meiner Geburt mit seinem Vater, den ich nie kennengelernt hatte, im Wald geschnitten und geschnitzt hatte. Es war eine stabile Rute aus Haselnuss; biegsam und doch stark genug, auch einen großen Fisch aus dem Wasser zu stehlen. Da, wo meines Vaters Hände sich um sie schlossen wie festgewachsen, war sie mit einem schmutzigen Tuch umwickelt. Durch Drahtösen, die mein Vater an der Angel befestigt hatte, lief die feine Schnur, deren eines Ende um ein dickes Stück Holz gewickelt war, welches als eine Art Kurbel diente. Das andere Ende hielt den Haken und wartete im Wasser auf einen Fisch. Ein Fisch, das wurde mir in diesem Augenblick klar, der niemals anbeißen würde; auch wenn die Knöchel an Vaters Fäusten noch weißer hervorträten.

„Es gibt den Alten“, sagte mein Vater plötzlich in die Stille hinein, und mir schien es, als reiße seine Stimme eine Kuhle in die Luft, in der er sich verstecken wollte. „Ich habe ihn gesehen.“
Ich erinnerte mich an die Leute in unserem Dorf, die immer über ihn gelacht hatten. Ich konnte nicht mehr lachen. In mir waren nur noch Trauer und Wut und Hass. Ich ballte meine Fäuste, und vielleicht wäre ich in diesem Moment auf meinen Vater losgegangen, hätte er nicht gesagt: „Ich weiß, dass es ihn gibt. Ich habe ihn oft gesehen, wie sein schwarzer, glänzender Leib aus dem Wasser gesprungen kam und er eine Libelle fing. Dann starrte er mich an und schien mich auszulachen.“
„Alle lachen über dich“, sagte ich bebend. „Alle im Dorf. Weil es den Alten gar nicht gibt. Es gibt überhaupt keinen Fisch in diesem See. Noch nie hast du irgendetwas gefangen. Du hast immer nur hier oben gesessen und Mutter allein gelassen. Und mich. Für einen Fisch, den es gar nicht gibt!“
Einen Herzschlag lang schwieg er. Dann antwortete er müde: „Aber ich weiß, dass es ihn gibt. Ich selbst habe ihn vor langer Zeit in diesem See ausgesetzt. Einen Karpfen, kaum größer als mein Finger. Und er ist von Jahr zu Jahr gewachsen und stärker geworden und schwärzer. Die Einsamkeit hat ihn stark gemacht. Die Einsamkeit macht einen immer stärker, oder sie bringt einen um. Der Alte ist nicht gestorben. Ist nur stärker geworden. Ich bin’s nicht.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich starrte nur auf das dunkler werdende Wasser und fragte mich, ob es in seinen Tiefen wirklich einen Fisch gab, der all die Jahre einsam seine Kreise gezogen und darauf gewartet hatte, endlich befreit zu werden.

„Lebt sie noch?“, unterbrach mein Vater ein weiteres Mal meine Gedanken.
„Ich weiß nicht“, sagte ich traurig. „Du musst dich beeilen. Tante Rene sagt, wenn du sie noch einmal sehen willst, dann musst du dich beeilen. Sie atmet nur noch Blut.“
Erst jetzt wandte mein Vater sein großes Gesicht zu mir. In seinen Augen schimmerten Tränen. Ich hätte gerne mit meiner Hand seine Bartstoppeln berührt, so wie früher, doch es war nicht der rechte Augenblick. „Ohne sie hat es keinen Sinn mehr“, sagte er.
Dann stand er auf und schaute noch einmal hinaus auf den See. Er nahm seine Rute in beide Hände, hob sein rechtes Knie, und dann bog er die Angel darüber, bis sie brach. „Es ist vorbei“, sagte er, während er sich zum Wald umdrehte und den Weg nach Hause ging. „Jetzt hat der Alte doch gewonnen.“
Er ließ mich allein zurück. Allein mit dem Wald und dem See und den zerbrochenen Stücken seiner Rute. In der Ferne hörte ich ein Gewitter grollen.

Als ich mich am Abend dieses heißen Augusttages auf den Heimweg machte, drehte ich mich noch ein letztes Mal um und blickte auf den See, der wie ein dunkler Spiegel in vollkommener Ruhe vor mir in seiner Grube im Wald lag. Und plötzlich bewegte sich das Wasser. Ein schwarzer Schatten schoss daraus hervor, genau unter einem im letzten Sonnenlicht tanzenden Schwarm Mücken. So groß, dass er mir den Atem raubte. Ich sah seine schwarzen Schuppen glitzern, seine fleischigen Lippen, die von den vielen Haken ausgefranst waren, seine kalten Augen, die mich eine Sekunde lang anstarrten und auszulachen schienen. Ich hörte seinen mächtigen Körper zurück ins Wasser platschen und wusste, dass ich meinen Vater liebte.
 

rothsten

Mitglied
Hallo Rafi,

Deine Texte sind ein Grund, sich öfter mal in die "Erzählungen" zu verirren. Du kannst schreiben, keine Frage. An Deinem Stil kann ich wenig aussetzen. Versuch vielleicht, etas weniger Deinem Talent innerer Wahrnehmung nachzugeben. Frage Dich immer: Braucht der Text diese Beschreibung wirklich, wirklich, wirklich, oder lass ich es nur deshalb stehen, weil es gut klingt? (Es klingt übrigens meistens gut ;)).

Dein Text ist keine in heimische Süßwasser verfrachtete Adaption von Hemingway. Dein Angler (der Vater) flieht vor seinem Leben aber versucht, sich selbst zu fangen, sich quasi mittels Haken im Hier und Jetzt zu ankern. Das wird spätestens klar, als Du ihn den Karpfen beschreiben lässt - ein übernatürliches Wesen. Klar, die Viecher können alt, ziemlich groß und gerissen werden. Aber ein Kampf auf Augenhöhe kann -anders als beim Alten Mann und dem Meer- hier niemals stattfinden. Er angelt aus einem paradoxen Fluchttrieb, dem Entkommen vor sich selbst. Er schickt selbst den Sohn weg, weil er "stört". Das ist furchtbar gut, denn es verkehrt eines der Sinnbilder für das Vater-Sohn-Ding: gemeinsames Fischen.

Mir gefällt der Mittelteil mit den Rückblenden bzgl Muttern nicht ganz so gut. Es haut mich etwas aus dem Fluss, es soll den Vater erklären, ich brauche das aber irgendwie gar nicht. Ich bin noch nicht ganz schlüssig, ob ich das in dieser Breite darstellte. Spontane Tendenz: eher nein.

Was Deinen Text zu einem echtem Drama macht:

Ich hörte seinen mächtigen Körper zurück ins Wasser platschen und wusste, dass ich meinen Vater liebte.
= die verzweifelte Suche des Sohnes nach Liebe und Anerkennung seines Vaters, komprimiert in einem Satz. Es geht so weit, dass er selbst den Karpfen sieht. Ein furchtbares Ende, aber auch furchtbar gut geschrieben.



Ich achtete nicht darauf. Nicht auf meine Lunge, nicht auf die Steine, die sich in die Hornhaut meiner Fußsohlen bohrten,
Das hängt schief. Hornhaut ist totes Gewebe, die merkt nichts mehr. Schreib doch: " ... Steine, die sich in meine Fußsohlen bohrten ..."

Er kam immer erst am Abend zurück. Wenn es dunkel war und Mutter das Essen so lange für ihn warm gestellt hatte, dass es ganz breiig geworden war. Dann setzte Vater sich an den Tisch und aß schweigend; dabei sah er manchmal so aus wie das, was ihm aus dem Teller entgegenblickte: [strike]grau und fad[/strike].
Tolles Bild! Aber "grau und fad" stört mich. Du setzt grandios mein Kopfkino in Gang, diese Beschreibung aber empfinde ich als Bevormundung. Weg damit.

ich lachte, damit niemand meine Tränen sah.
Das ist mir zu direkt, zu sprunghaft. Lass den Satz besser weg.

lg
 

Rafi

Mitglied
Lieber rothsten – vielen Dank. Fast treibt mir Deine Kritik ja die Schamesröte ins Gesicht. Ich meine: Mit Hemingway verglichen zu werden, Mann – das ist ja schon mal 'was …
Die einzelnen Kritikpunkte nehme ich so, wie Du sie geleistet hast, sehr gerne an. Da muss man nicht mal länger drüber nachdenken, um zu wissen, dass Du recht hast. Bis auf einen, bei dem ich mir noch nicht so ganz sicher bin: Der Teil mit der Mutter erklärt meiner Meinung und meinem Empfinden nach recht viel vom Innenleben des Protagonisten. Ist das nicht auch wichtig? Hm, ich weiß halt noch nicht …
Dennoch: Noch einmal ganz herzlichen Dank!
Gruß
Rafi
 
A

aligaga

Gast
Na, na -

zwischen Hemingways knochentrockener Erzählprosa („Mein Alter“, zum Beispiel, oder „Großer doppelherziger Strom“) und diesem bemühten Rührstückerl hier liegen schon noch ein paar Welten.

Dem großen Ernest wäre es zu seiner Zeit nie eingefallen, etwas wie
Die Luft flimmerte, und der staubige Weg, der unser Dorf mit dem nahen Wald verband, flog unter meinen nackten Füßen dahin. Links von mir ließ der Hafer seine Ährenköpfe hängen, rechts leckten einige Kühe den Rest Gras vom harten, salzigen Boden.
Wie Sicheln durchschnitten meine Arme die Luft, meine Beine trommelten hastig den Takt auf dem Boden, und meine Lunge sog die Luft so schnell ein und stieß sie so schnell wieder aus, dass sie sich anfühlte, als wäre sie mit Glut gefüllt. Ich achtete nicht darauf. Nicht auf meine Lunge, nicht auf die Steine, die sich in die Hornhaut meiner Fußsohlen bohrten, und auch nicht auf die Kühe, die mir dumm kauend nachschauten. Ich wollte schnell bei Vater sein. Vielleicht konnte er, wenn er sich beeilte, noch ein letztes Mal Mutters Hand halten. Ihr ein letztes Mal zeigen, dass vielleicht doch ein Krümel Liebe für sie in ihm war
zu Papier und seine Leser damit zum Schmunzeln zu bringen, während sie darüber grübelten, warum ein Ich-Protz detailliert über sein Körperbefinden rapportiert, im gleichen Atemzug aber behauptet, nicht darauf zu achten. Wie soll man sich das vorstellen? Wie geht das?

Wer schon mal ein Haberfeldtreiben mitgemacht hat, weiß, dass Hafer keine Ähren ausbildet, sondern Rispen, die immer hängen, dass man Haselnussstöcke, die zum Angeln verwendet wurden, nie geschält hat, weil sie sonst ihre Festigkeit verloren hätten (Ernest sagte, dass es immer Dumme gäbe, die ihre Gesplißte ins Gras legten und noch Dümmere, die draufträten), dass dicke Karpfen niemals hinter Libellen herhüpfen (sie springen allenfalls während der Laichzeit im Juni, wenn sie sich um ein Weibchen bemühen); sie sind zudem über Wasser nie schwarz, sondern olivfarben bis goldbraun – vor allem dann, wenn sie Schuppen tragen.

Am kuriosesten empfinde ich den Schluss der Geschichte. Obwohl die Mutter im Sterben liegt, trödelt der Kleine am See herum, bis es Abend wird. Das passt gar nicht zu der eingangs so theatralisch beschriebenen Eile. Sonderbar.

Dass alte Männer gern allein zum Angeln gehen, ist nichts Ungewöhnliches; dass sie nicht immer zu den „Beuteheimträgern“ gehören, auch nicht. Viele mögen gar keinen Fisch und hocken trotzdem stundenlang ab. Einen „See“ ohne Fischbestand gibt’s hierzulande nicht; an dem hier scheint ungewöhnlich, dass er „oben im Wald“ liegt. Normalerweise finden sich Seen unten im Talraum; die höher gelegenen sind in aller Regel künstlich geschaffene Stauräume.

Wie schon mehrfach angemerkt, @Rafi – deine Geschichten leiden ein wenig an ihrer Weitschweifigkeit und sind in manchen Details dabei gleichzeitig zu unpräzis. Das mindert ihren literarischen Wert recht eindeutig.

Tipp: Straffen und der Fantasie der Leser vertrauen. Die sind nicht besonders daran interessiert, wie eine historische Angel funktioniert (besser: nicht funktioniert) hat. Wichtig ist, dass sie am Schluss entzweibricht. Alles andere ist pillepalle.

Gruß

aligaga
 

Rafi

Mitglied
Wie schon mehrfach angemerkt, Aligaga – Deine Kritiken sind doch immer wieder sowas von wertvoll …
Gruß
Rafi
 
A

aligaga

Gast
Ich helf gern, @Rafi,

deshalb gleich noch ein Tipp: Wenn's nur einen einzigen Angler am See gibt und nur einen (umständlich eingesetzten) Schuppenkarpfen, dann kann der, wenn er vorher noch von keinem "wirklich" ausgemacht wurde, schlechterdings keine
fleischigen Lippen, die von den vielen Haken ausgefranst waren
haben, nicht wahr? Ausbessern!

Gruß

aligaga
 

HelenaSofie

Mitglied
Hallo Rafi,

ein interessanter, ausdrucksstarker Text!
Einige Tipps dazu hast du schon bekommen. Die Textstellen, die die Mutter betreffen, würde ich nicht herausnehmen. Sie tragen für mich wesentlich zum Verständnis und dem daraus folgenden Verhalten von Vater und Sohn bei.
Am Anfang hat mich die genaue Beschreibung der Umgebung (Hafer, Kühe) irritiert. Diese kann nur durch einen guten Beobachter so wahrgenommen werden. Das passt nicht zur Situation des Jungen, der nur das eine Ziel hat, so schnell wie möglich bei seinem Vater zu sein. Ich würde einiges weglassen. Vielleicht dann so:
"Sie und der Arzt waren bei Mutter geblieben.
Ich wollte schnell bei Vater sein."

Liebe Grüße
HelenaSofie
 



 
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