Meine Bäume: Kerons Prüfung

Ballfreund

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„Hier sind die Zertifikate.“ Ich lege der Prüfers (so ist die geschlechtsneutrale Bezeichnung des Berufs) die zehn Besitzurkunden hin. Sie mag etwas über 30 Jahre alt sein. Kurzes dunkles Haar rahmt ihr längliches Gesicht ein, das durch ihre Brille eine gewisse Strenge aufweist. Natürlich ist der Effekt gewollt, denn es gibt kaum noch Brillenträger in Nordamerika. Wer äußerlich auf diese Weise streng erscheinen möchte, der ist meist doch nicht so streng, sondern eher unsicher. Das lässt hoffen.

Die Prüfers gleicht jedes Zertifikat sorgfältig mit ihrem Datenbestand ab. Jetzt bloß nicht ablenken. Sie muss die Frage stellen, sonst fliegt alles auf.

„Wie ich sehe, gehören Ihnen die Bäume noch nicht so lange. Wie kommt das?“ Gut so.

„Meine alten Bäume hatten einen schlechten Standort. Ich musste sie verkaufen.“

„Ich habe hier keine lückenlose Aufzeichnungen über Ihren früheren Baumbesitz. Nach der letzten Prüfung vor fünfzehn Jahren haben Sie Ihre damaligen Bäumen veräußert.“ Auch diese Frage habe ich erwartet, aber ihre Stimme klingt ein wenig zu beiläufig. Mal sehen was da noch kommt.

„Ich hatte parallel selbst ein paar Bäume aufgezogen, so dass ich nicht alle Bäume benötigte. Als die eigenhändig aufgezogenen Bäume etwa C4-Niveau hatten, habe ich mich von den Bäumen getrennt, die ich bei meiner vorigen Prüfung angegeben hatte. Das war für mich lukrativer. Ich habe die neuen Bäume nie registrieren lassen.“

„Stehen diese jungen Bäume noch?“ Jetzt ist ihre Stimme nicht mehr beiläufig, sondern eher geschäftsmäßig. Das klingt gar nicht so schlecht in dieser Alt-Tonlage.

„Wahrscheinlich nicht. Ich habe an die hiesige Papierfabrik verkauft.“

„Können Sie mir die Quittungen zeigen?“ Das ist ungeplant. Und nun? Provozieren? Nein, erst mal Zeit gewinnen.

„Darauf bin ich gar nicht vorbereitet. Da muss ich mal suchen. Einen Moment bitte.“ Zum Glück sind wir im Wohnzimmer. Ich erhebe mich von der Couch und gehe durch den Flur die Treppe rauf ins Arbeitszimmer. Jetzt heißt es Zeit schinden. Mal sehen. Die Wanduhr zeigt 14:28Uhr. Ich gehe meine Schreibtischschubladen durch. Warum will sie die Quittungen sehen? Weiß sie, dass ich keine Quittungen habe? Steckt vielleicht die Firma dahinter?

Jetzt ist es 14:31Uhr. Ich widme mich den Ordnern im Regal und rufe ihr runter: „Bitte nehmen Sie noch vom Kaffee, es dauert noch etwas.“ Bei der Prüfung vor fünfzehn Jahren war dem Prüfers egal, wie lange ich meine Bäume hatte. Er war, wie es das Gesetzt verlangt, am Tag nach meinem 35. Geburtstag zu mir nach Hause gekommen und hatte sich die Zertifikate für die zehn Bäume der Kategorie C4 zeigen lassen. Der damalige Prüfers war wohl etwa 60 Jahre alt, hatte in seinem Stammbaum mindestens einen Zweig auf dem asiatischen Kontinent und ein Faible für europäische Anzüge. Nach einer Tasse Tee und etwa 25 Minuten war er auch schon wieder zur Tür hinaus und ich hatte meinen Nachweis pflichtgemäß absolviert.

Jetzt ist es 14:42Uhr. Ich öffne den Schrank etwas lauter, damit sie mitbekommt, dass ich noch suche. Bloß ruhig bleiben. Wenn ich sie richtig einschätze, hat sie ihre Tasse Kaffee getrunken. Sie wird nun wahrscheinlich nochmal gründlich nach mir recherchiert haben. Da das nicht so lange dauert, schaut sie sich nun bestimmt im Wohnzimmer um. Sie hatte vorhin schon einen kurzen Blick auf die Vitrine geworfen. Mal sehen, ob ich sie richtig einschätze.
Jetzt ist es 14:49Uhr. Das war eine angemessene Zeit für eine ernsthafte Suche. Ich gehe wieder runter.

„Es tut mir leid, aber ich habe die Quittungen gerade nicht gefunden. Das ist ja immer so, wenn man etwas dringend benötigt. Da hat Murphys Gesetz wieder mal zugeschlagen. Sind die Quittungen wichtig?“ Sie steht vor der Vitrine und begutachtet meine Sammlung von Flöten. Genau wie ich dachte.

„Vielleicht. Sie arbeiten doch bei der Papierfabrik?“ Da ist wieder diese unschuldige beiläufige Stimme. Also spielen wir doch Katz und Maus. Mist. Jetzt nur ruhig bleiben und in die Offensive gehen.

„Ja. Ich bin dort seit etwa 8 Jahren Einkäufers für Bäume. Vorher war ich mehrere Jahre Technikers in der Qualitätskontrolle. Das wurde auf die Dauer zu eintönig. Als dann die Stelle eines Einkäufers frei wurde, habe ich gewechselt. Nun bin ich häufig auf Reisen und sehe nebenbei etwas von der Welt. Aus jedem Land, das ich im Rahmen meiner Arbeit bereise, bringe ich eine für das Land typische Flöte mit. Meine Sammlung haben Sie ja schon gesehen. Meine Kinder haben mich auf die Idee gebracht. Die haben in ihren jungen Jahren auf der Flöte musiziert. Ich selber kann keine Flöte spielen. Haben Sie Kinder?“

„Ja, ich habe einen kleinen Sohn. Seine Interessen liegen im Schwimmen und nicht in der Musik. Ich nehme an, als Einkäufers gehen die Zertifikate der eingekauften Bäume durch Ihre Hände?“ Nun gut, du lässt dich nicht so einfach vom Thema abbringen. Also Flucht nach vorn.

„Wollen Sie etwa behaupten, dass die Zertifikate, die ich Ihnen hier vorgelegt habe, gar nicht mein Eigentum sind?“

„Ein interessanter Gedanke. Sind die Zertifikate denn Ihr Eigentum?“ Auch eine Alt-Stimme kann honigsüß sein. So ein Biest.

„Natürlich sind sie das. Haben Sie da etwa Zweifel?“

„Ja, die habe ich.“ Oha. Kokett kann sie auch. Dann wollen wir mal unseren Charme spielen lassen.

„Das klingt hart aus Ihrem Munde. Das habe ich von einer so hübschen Dame gar nicht erwartet. Aber ich kann Sie beruhigen. Die Bäume sind mein Eigentum und wenn Sie mir bis morgen Zeit lassen, dann kann ich Ihnen auch sicher die Quittungen vorlegen.“

„Glauben Sie, dass Sie die Quittungen bis morgen finden?“

„Aber natürlich doch. Obwohl ich ehrlich gesagt nicht verstehe, warum das so wichtig ist. Das Gesetz aus dem Jahre 2053 in seiner Novellierung aus dem Jahr 2087 sieht eigentlich nur vor, dass ich die Zertifikate an meinem 50. Geburtstag vorlegen muss. Ich glaube das steht in §64. Außerdem steht doch in §11, dass ich jederzeit den Besitz meiner Bäume nachweisen können muss. Bei den zu erwartenden Strafen würde doch niemand das Risiko eingehen, nicht die erforderlichen Bäume in seinem Besitz zu haben. So dumm bin ich nicht. Und ich kenne keinen Paragrafen, in dem steht, dass ich meine Baumkäufe irgendwie belegen müsste. Aber kommen Sie doch gerne morgen wieder vorbei. Dann zeige ich Ihnen die Quittungen. Darf ich Sie dabei zum Mittagessen einladen? Oder gilt das schon als Bestechung?“

„Ja! Das gilt tatsächlich schon als Bestechung.“

„Dann holen Sie sich die Genehmigung von ihrem Vorgesetzten. Deklarieren Sie es als Arbeitsessen. Ich bestätige Ihnen auch, dass ich anders keine Zeit hätte.“ Na los. Gib dir einen Ruck und sag zu.

„Was soll ich sagen, Herr Treewater, …“

„Sag‘ doch bitte Keron zu mir!“

„…, aber ich denke nicht, dass ich morgen wiederkommen muss.“

„Warum denn nicht? Wir könnten doch eine nette Zeit verbringen.“

„Ja, das könnten wir sicherlich, Herr Treewater. Ich bin mir auch sicher, dass Sie bis morgen irgendwie die Quittungen beibringen könnten.“ Sie bleibt geschickt auf Distanz.

„Aber …? Haben Sie etwa einen eifersüchtigen Lebensgefährten? Oder warum geben Sie mir eine Abfuhr?“

„Wenn Sie so bewandert in den Paragrafen sind, dann kennen Sie doch auch sicher den §78?“ Mist. Das ist der Betrugsparagraf. Was kommt jetzt?

„Ich glaube, das ist der Betrugsparagraf, oder? Worauf wollen sie hinaus?“

„Wussten Sie, dass drei Ihrer Bäume dieses Jahr schon zweimal bei Überprüfungen angegeben worden sind?“ Oh nein. Wie konnte mir das passieren. Habe ich doch nicht genug nach der Herkunft der Bäume recherchiert? Und nun? Erst mal dumm stellen.

„Äh … . Nein. Und was bedeutet das?“

„Wissen Sie, es gibt da diese Unsitte, dass Menschen kurz vor der Überprüfung die erforderlichen Bäume kaufen und sie später wieder verkaufen. Das ist nicht im Sinne des Gesetzes, da nur bei Dauerbesitz der zehn Bäume gewährleistet ist, dass für jeden Menschen genug Sauerstoff auf der Erde ist. So teilen sich letztendlich viele Personen nur den Baumbestand für letztendlich eine Person. Das ist ungesetzlich und strafbar. Wer so etwas praktiziert geht ein hohes persönliches Risiko ein, wenn eine außerordentliche Prüfung ansteht. Aber da solche Prüfungen selten stattfinden, ist das Risiko gering, erwischt zu werden. Für uns Prüfers ist es daher sehr verdächtig, wenn uns in kurzer Zeit mehrmals dieselben Bäume präsentiert werden. Können Sie mir folgen?“ Leider nur zu gut. Und Sie erklärt das noch in diesem netten Tonfall. Und gleich wird sie mich zur Schlachtbank führen.

„Ich verstehe. Und Sie glauben, ich sei einer dieser Betrüger?“

„Vielleicht! Es spricht immerhin sehr viel gegen Sie, Herr Treewater. Und Sie kennen ja die Mindeststrafe für Baum-Betrug, oder?“ Leider ja.

„Fünf Jahre Sklaverei.“

„Nicht so hart, Herr Treewater. Es sind fünf Jahre Sozialarbeit.“

„Nennen Sie es, wie Sie wollen. Die Arbeitsbedingungen dieser ‚Sozialarbeit‘ sind hinreichend bekannt. Ich nenne es Sklaverei, wie die meisten anderen Menschen auch. Da hilft kein Schönreden. Und was erwarten Sie jetzt von mir? Wie überzeuge ich Sie, dass ich kein Betrüger bin?“

„Das geht ganz einfach. Ich mache in der Datenbank einen Vermerk, dass bei der nächsten Prüfung dieselben Bäume nachgewiesen werden müssen und ich vermerke, dass innerhalb der nächsten neun Jahre eine weitere überraschende Prüfung bei Ihnen erfolgt. Sind dann bei der nächsten Prüfung die Bäume vorhanden, so sind sie über jeden Betrugsverdacht erhaben.“ Ja, das wäre so einfach, wenn nicht mein Chef diese Bäume nächste Woche fällen lassen und zu Papier verarbeiten würde. Und innerhalb einer Woche kann ich keine zehn anderen Bäume beschaffen, die ich ihm stattdessen gebe. Es muss noch eine andere Lösung geben.

„Eigentlich ist der Vorschlag gar nicht so schlecht. Allerdings muss ich zugeben, dass ich beim Erwerb der Bäume etwas voreilig war. Ich habe sie mit den Augen eines Einkäufers für die Papierherstellung gekauft und musste feststellen, dass ich für einen längerfristigen Besitz doch andere Ansprüche an Baumart und Standort habe. Ich hatte vor, die Bäume in ein bis zwei Jahren an meine Firma gewinnbringend zu verkaufen und dann Bäume zu erwerben, die eine solidere Zukunftsperspektive haben. Das passt nun nicht gerade zu Ihrem Vorschlag. Können wir es nicht so machen, dass Sie vermerken, dass in drei Jahren die zusätzliche Prüfung stattfindet, aber es nicht unbedingt dieselben Bäume sein müssen?“ So gewinne ich zumindest die notwendige Zeit.

„Tut mir leid. Da ist nichts zu machen. Angenommen den Fall, dass Sie wirklich ein Betrüger sind, dann würde Ihnen das genug Zeit verschaffen, den Betrug zu vertuschen. Das kann ich nicht zulassen.“ Sie ist also doch so streng, wie ihre Brille aussieht.

„Gibt es denn keine Möglichkeit für mich, meinen Baumbestand noch mal zu ändern?“ Die Mitleidstour muss doch auch bei ihr wirken.

„Nein!“ Na gut, dann wird jetzt gebettelt. Mal sehen, wie gut sie ihr Handwerk versteht.

„Fällt Ihnen wirklich kein Paragraf ein, der eine Hintertür bietet?“

„Nun, es gäbe vielleicht doch noch eine Möglichkeit. Die Prüfungsverordnung sieht vor, dass Verstöße gegen Auflagen der Prüfers mit Geldbußen geahndet werden. Da sie beabsichtigen, den Baumbestand zu ändern, wäre das ein angekündigter Verstoß gegen die von mir beabsichtigten Auflagen. Ferner gehe ich davon aus, dass Sie die angekündigte Maßnahme umsetzen, egal ob ich den Vermerk mache oder nicht. Wir könnten es so machen, dass ich den Vermerk lasse, wenn Sie bis zur nächsten Prüfung regelmäßig einen entsprechenden Geldbetrag bezahlen.“ Jetzt habe ich dich. Du bist also doch bestechlich. Und nach der ersten Zahlung kannst du dich nicht mehr wehren. Ein Hinweis auf Korruption und du bist deinen Job los. Oder du erkaufst dir mein Schweigen.

„Das ist ein fairer Vorschlag.“

„Gut. Da Sie ja noch keinen Verstoß begangen haben, kann ich Sie natürlich zu keiner Zahlung eines Bußgeldes auffordern. Ich bin aber ermächtigt, in solchen Fällen, zu einer Spende für gemeinnützige Zwecke aufzufordern. Damit ich das überwachen kann, gebe ich Ihnen mit diesem Schreiben vor, wohin Sie das Geld überweisen müssen. Es geht an eine der vielen Baumstiftungen. Bitte beachten Sie, dass Sie auf die genannte Kostenstelle einzahlen.“ Also doch nicht bestechlich. Das Geld werde ich schon aufbringen und das ist allemal besser, als fünf Jahre Sozialarbeit in einem der ärmsten Länder der Welt abzuleisten.

„Danke, das werde ich machen. Kommen Sie trotzdem morgen zum Essen vorbei?“ Ich geleite sie zur Tür.

„Danke für die Einladung, aber das geht wirklich nicht. Danke für den Kaffee. Ich muss nun weiter. Einen schönen Tag noch.“ Schade, da geht meine Chance auf eine bessere Lösung.

„Ihnen auch einen schönen Tag. Auf Wiedersehen.“
-
„Hallo Pete. Ich rufe gerade aus dem Auto an. Ich habe soeben wieder einen von einer Papierfabrik geprüft, der sich von seiner Firma Zertifikate geliehen hat. Wahrscheinlich wusste sein Chef noch nicht einmal etwas davon. Ich habe die Nummer mit dem Betrugsparagrafen durchgezogen. Ein gewisser Keron Treewater wird jetzt für ein paar Jahre regelmäßig Geld auf deine persönliche Kostenstelle buchen. Wir teilen wie gehabt und du gibst Bescheid, falls das Geld ausbleibt. Und nimm dir morgen Mittag frei. Ich lade Dich zum Mittagessen ein. Tschüs.“
 
Hallo Ballfreund,

nette Geschichte, die in der Zukunft spielt. Sie hat mich unterhalten und für Kurzweil gesorgt. Finde es schön, wenn ein Autor soviel Fantasie hat.

LG SilberneDelfine
 



 
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