Meine Großmutter

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Retep

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Meine Großmutter


Viel von ihr reden würden wir, öfter an sie denken, sagte sie .Sie behielt Recht.
Ihre Mutter sah Engel, als sie starb, erzählte sie oft. Die Engel hätten sie abgeholt.

Ich erinnere mich an vieles, was sie gesagt und getan hat, ich erinnere mich an vieles, was ich ihr nicht gesagt oder was ich nicht getan habe.

1944, das großdeutsche Reich ging langsam zu Ende und mein Vater ließ ein riesiges Loch im Hof graben. Ein Fass wurde versenkt, Schmuck und Geschirr sollten versteckt werden. Auch ein Dolch der Hitlerjugend, für mich, für spätere Zeiten, wie mein Vater sagte.
Meine Omi öffnete das Fenster zum Hof, sah das Treiben, schüttelte den Kopf, lachte grässlich. Sie zeigte allen einen Vogel und rief: „Kiek ais!!!“ (Guck mal)
Dann stieß sie wüste Beschimpfungen gegen den „Führer“ aus, nannte ihn einen blödsinnigen Anstreicher.
Die Fensterläden mussten geschlossen werden, um sie vor weiteren unbedachten Äußerungen zu schützen. Sie tobte im Haus weiter.

Meine Oma hatte eine deftige Sprache, bezeichnete mich manchmal als Messhomel (Misthammel), liebte mich aber sehr, nahm mich oft in den Arm.

Nach dem letzten verheerenden Bombenangriff, fast ganz Swinemünde wurde zerstört, zogen wir fünf Kilometer weiter nach Ahlbeck zu einer Tante Anna, Omi blieb.
Meine Mutter schlich dann öfter nachts durch den Wald und besuchte ihre Eltern. Ich war alleine, sollte schlafen, schlich mich aber öfter in ein Zimmer, wo Onkel Max und Onkel Blunk mit einem dritten Mann Karten spielten, mit ihm sprachen und tranken. Ich habe ihn nie gehört noch gesehen.
Onkel Max hatte ein Holzbein, das fürchterlich knarrte, ein Arbeitsunfall, wie mir meine Mutter sagte.
Omi klärte mich auf, das sei kein Arbeitsunfall gewesen. Onkel Max habe noch nie in seinem Leben gearbeitet, man habe ihn, Onkel Blunk und Onkel Wilhelm aus dem Fenster eines Freudenhauses geschmissen, als sie dort betrunken randalierten. Onkel Wilhelm sei dabei umgekommen, um ihn sei es nicht schade gewesen.
„Gottes Mühlen mahlen langsam aber sicher!“ meinte sie froh.
Dass ich den Onkel Wilhelm weder sah noch hörte, sei leicht zu erklären.
Ich würde öfter lügen.

Im Schlafzimmer meiner Großeltern hing ein Bild, das mich stark beeindruckte, ein Engel brachte einen kleinen Jungen über einen schmalen Steg über einen Fluss, Krokodile waren unter ihnen, sperrten ihre Mäuler auf.
Ich fragte sie, ob dieser Schutzengel vielleicht Onkel Max beschützt habe, als er aus dem Fenster flog, dass er mit dem Leben davongekommen sei.
Omi lachte fürchterlich, ein Schutzengel könne Max nicht begleitet haben, da sei sie sich sicher. Wegen seiner Alkoholfahne wäre der Engel abgestürzt und von den Krokodilen gefressen worden.

Als Opa von Polen erschossen wurde, gingen wir nach Swinemünde zurück; er wurde im Winter beerdigt, es schneite; meine Omi stand da, schaute auf das Loch und weinte nicht.

Sie kam dann mit uns nach Ahlbeck, später nach Weimar, brachte mich in die Schule und wartete bis unser Lehrer erschien, sonst wäre ich nämlich vor ihr wieder zu Hause gewesen.
Später zogen wir nach Ulla, wo wir eine Gärtnerei besaßen, nachdem mein Vater aus dem Krieg zurückgekommen war.
Wir wohnten dort in einem Haus auf dem Land, hatten ein Plumpsklosett am Ende des Hofes, ein Schwein, einen Ochsen, Hühner und einen Hahn.
Dieser Hahn war äußerst frauenfeindlich:
Wenn Frauen aufs Klo gingen, mussten sie sich mit einem Knüppel gegen seine Angriffe schützen.
Meine Oma sah sich das eine längere Zeit an, ging dann mit einem Beil über den Hof, der Hahn unternahm seinen letzten Angriff.

1950 „flüchteten“ wir dann bei Nacht in den Goldenen Westen; es war Winter und kalt, meine Oma war dabei, keine von ihren Töchtern wollte sie bei sich haben.
Sie hatte ihre Federbetten bei ihren Töchtern zurückgelassen, sie sollten später nachgeschickt werden.
Die Betten kamen nie an und sie redete nicht mit ihren Töchtern, als sie zu meiner Konfirmation fünf Jahre später nach Ettenheim kamen.


In Ettenheim war alles anders als sie gewohnt war, die Kühe waren ihr zu dreckig, die Leute sprachen einen Dialekt, den sie kaum verstand, waren dazu noch katholisch!
Anfangs ging sie noch in die Kirche, einkaufen, setzte sich in einen kleinen Park mit einem runden Springbrunnen und schaute den vorbeigehenden Leuten nach.

Der Springbrunnen im Park wurde umgebaut, war jetzt nicht mehr rund, sondern hatte sechs Ecken. Wegen einer Prozession der „ollen katholischen Böcke“ wurde vor ihrem Aussichtsfenster ein Altar errichtet, sie konnte nicht mehr auf die Straße sehen.
Sie verließ nun das Haus nicht mehr.

Sie kochte, las die Zeitung und die Bibel, zog jeden Morgen die beiden Taschenuhren meines Großvaters auf und schaute aus dem Fenster. Viele Jahre lang schaute sie auf das Leben, das dort vorbeizog.

Sie unterstützte uns mit ihrer Rente, meine Eltern hatten sich getrennt, mein Vater war verschwunden, sie stritt öfter mit meiner Mutter um Kleinigkeiten.

Ihr Zimmer war mit einer Durchreiche mit Klappe mit unserer Küche verbunden. Nach einem Streit zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Ab und zu flog die Klappe auf, und sie stieß wüste Beschimpfungen aus.
Aufhängen wollte sie sich öfter, rannte dann die Treppe zum Boden hinauf. Das beunruhigte aber niemanden mehr, wie waren das schon gewöhnt, sie hatte ja auch kein Seil dabei.

Ich fing an Medizin zu studieren, kam nur am Wochenende nach Hause. Sie hatte dann für mich gekocht, gab mir auch öfter Geld.
Sie meinte, das Studium könne nichts werden, man brauche mindestens zwei Generationen, um aus unserer Misere heraus zu kommen.

Als dann Gabi, meine damalige Freundin und spätere Frau, öfter ins Haus kam, war sie äußerst eifersüchtig und misstrauisch, versetzte ihr einmal im dunklen Flur einen Faustschlag. Das erfuhr ich aber erst später.
„Jung, heirat die schwarze Hex nicht!“, sagte sie öfter.


Dann wurde sie krank, lag nur noch im Bett.

Als Gabi und ich im März 1963 am Bahnhof standen, wir warteten auf den Zug, wollten nach Münchweier fahren, wo das Hochzeitsessen stattfinden sollte, kam meine Schwester Regine uns nach. Omi sei tot, sagte sie.

Zu ihrer Beerdigung kamen ihre Töchter, die ihr ihre Federbetten nicht nachgeschickt hatten, sie konnte nicht mehr mit ihnen reden.

84 Jahre hatte sie gelebt, lange Zeit in der Fremde, nicht in der Heimat, wie sie immer sagte.

Ich sehe sie noch öfter heute, wie sie da am Fenster sitzt, hinaus schaut, was hat sie wohl gedacht?
Sie war wohl sehr einsam, und ich habe das damals nicht gemerkt.

Wenn sie ärgerlich war, hat sie oft gesagt, dass ihre Hand aus dem Grab wachsen und auf uns zeigen würde.
Ich bin selten an ihrem Grab, die Hand schaut nicht heraus, aber der Grabstein steht immer wieder schief.
Ob sie wohl auch Engel wie ihre Mutter gesehen hat, als sie starb?

Manchmal hält das Leben einen Moment an, nur einen kleinen Augenblick, geht dann weiter und etwas bleibt zurück, geht nicht mit dem Leben weiter mit.
Aber das merkt man erst später, wenn es längst passiert ist.
 

Ralf Langer

Mitglied
Hallo retep,
sehr eindringlich dieser "lebenswurf" von der Großmutter,
von der ich gerne glaube das sie tatsächlich gelebt hat.
Es gelingt dir, in diesen wenigen Zeilen ein echtes Bild von dieser Frau und ihrer Zeit.

Da steckt viel Potential drin.
Gerne ermutigte ich dich, dies Stück zu etwas größerem zu weben.

lg Ralf
 

Retep

Mitglied
Hallo Ralf,

ja, diese Frau hat tatsächlich gelebt und ich habe sie geliebt. Viele Geschichten gibt es über sie. Daraus könnte ich etwas Größeres machen.

Gruß

Retep
 

Lammla

Mitglied
Möchte mich der Ansicht von Ralf Langer anschließen: Der Text ist keine Erzählung, sondern eine Skizze zum Roman.
 



 
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