Meine 'etwas andere' Großmutter.

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Inu

Mitglied
*




Meine etwas andere Großmutter.

Von Kindheit an hörte ich: „Oma ist eine bitterböse Frau und macht dem Opa das Leben zur Hölle.“ Das sagte meine Stiefmutter, die Lisa.
Lisa war eine Fremde für die Leute hier. Sie kam nicht aus unserer Gegend, sondern von weit her ... aus Bayern.
„Das ist schon ein rechtes Kreuz mit der Frau!“, klagte Lisa.
Ich fühlte mich hin- und hergerissen. Meine Großeltern sah ich selten und wusste nicht, was sich zwischen ihnen abspielte. Doch ... die Oma war tatsächlich ... ich weiß nicht, wie ...

Als ich sie zum erstenmal bewusst wahrnahm -in den frühen 1950er Jahren- war ich noch klein und sie schon über sechzig. Eine hoch gewachsene, kräftige Frau. Mit Würde schob sie Ihren mächtigen Leib vor sich her. Oma trug ihr aschgraues Haar zu einem mageren Dutt zusammengewurstelt. Ihre fülligen Formen hielt eine geblümte Kittelschürze aus Baumwolle halbwegs zusammen. Ich glaube, sie besaß nicht ein einziges ‚gutes‘ Kleidungsstück.

Sie hatte eine hübsche Tochter, Rita, stolze Inhaberin des einzigen Wäschelädchens im Dorf, und außerdem noch vier Söhne, von denen ihr aber zwei nach deren Verheiratung aus den Augen gekommen waren, weil sie von hier weg zogen. Aber mein Vater und Onkel Peter - ihre beiden ältesten Söhne - samt ihren Frauen und uns, den Enkelkindern, wohnten gerade einmal drei Häuser weiter.

Mein Vater -der gute Bub- hatte in zweiter Ehe eine ‚Auswärtige‘ geheiratet, eben Lisa, mein Stiefmütterchen, die -davon war Oma überzeugt- irgendwann einmal unser aller Untergang sein würde. Werner, mein kleiner Bruder, war 'Bettseucher', und 'das arme Ding da' -damit meinte Oma mich- 'sah so elendig und dürr aus, dass es eine Geiß zwischen den Hörnern küssen konnte‘, weil es ja auch ‚nichts fraß', wie sie immer wieder betonte.
Onkel Peter ‚soff‘. Seine Frau, Tante Zilli, war ein ‚aufgetakeltes Flittchen‘. Cousine Else hatte ‚den leibhaftigen Teufel im Bauch‘.

Jaja, bei uns ging es zu wie in Sodom und Gomorrha und enterbt waren wir alle auch schon längst ... das wusste die ganze Nachbarschaft, denn Großmutter wurde nicht müde, es draußen vor unseren Fenstern laut zu verkünden, wenn sie sich wieder einmal über unser schändliches Treiben aufregte. Hereinkommen durfte sie nicht mehr ... sie hatte Hausverbot. Um Wunders was für Erbschätze sie uns alle bringen wollte, war auch niemandem so richtig klar.

Großmutter hielt sich eine Ziege namens Zarah. Einmal erzählte sie mir, dass sie für Zarah täglich Extra-Essen kochte. Doch da hat sie mich wohl veräppelt. Aber tatsächlich ... was Oma da immer im Blecheimer für die Geiß zurechtmanschte, sah verdammt nach Kartoffel– und Gemüse-Eintopf aus. Womöglich waren es aber nur die Überreste von ihrer und Opas Mahlzeiten.
Zarah stand Tag und Nacht im Zwischengeschoss des zweistöckigen Großelternhauses in einem finsteren Kabäuschen hinter der Treppe. Dort, wo sie später das Klo einbauten.
Zu ebener Erde wohnte damals Tante Rita und betrieb das besagte Wäschelädchen, das gutes Geld einbrachte, denn das Gebäude stand an der Haupt- und Durchgangsstraße unseres Ortes, dort wo es nach Brückenstadt ging.

Einmal schlenderte ich mit zwei Kameradinnen von der Schule heim. Auf dem Trottoir, genau vor den schön dekorierten Schaufenstern von Tante Ritas 'Pariser-Dessous-Boutique' standen zirka zehn Leute und gafften intensiv auf die Straße.
„O nein“, seufzte ich und die beiden Mädchen kicherten, denn da war meine Oma mit der Geiß und zog und zerrte das knochige Geschöpf am Strick mühsam hinter sich her. Zarah, störrisch und zickig wie sie nun einmal war, wollte nämlich nicht so, wie sie wollte. Ich wusste Bescheid: Die halb blinde und lendenlahme Zarah war wieder einmal auf dem Weg zu einer ihrer raren Vergnügungen. Oma würde sie nämlich zum Ziegenbock bringen, ans Ende des Ortes, wo fast nie jemand hin ging, weil es ganz bestialisch stank. Ein alter Mann betrieb den sogenannten ‚Bockstall‘ und dort wartete schon sprungbereit Zarahs Liebster für gewisse Momente, der wilde Cäsar. Zweimal im Jahr schaffte Oma ihre Geiß zwecks ‚Deckung‘ dorthin. Und das Ganze hatte auch einen Nutzen. Ich erinnere mich, dass da von irgendwelchen Wandhaken an der Giebelseite des Großelternhauses regelmäßig dunkelrot-abgehäutete Zicklein-Korpusse baumelten, aus deren Mündern dickflüssig das Blut tröpfelte. Bei diesem Anblick wurde mir immer schlecht. Nach einem halben Tag oder so war der Spuk vorbei. Das Fleisch wurde gegessen oder verkauft ... ich wollte es gar nicht so genau wissen.

Uns Kinder – wenn wir uns zu Oma hinauf verirrten - traktierte sie immer als erstes mit einer großen Tasse lauwarmer Geißenmilch. Die mochte keiner ... aber ich wusste: sie macht groß und stark. Wir tranken ohne Murren ... da mussten wir durch. Jedoch Omas frisches Schwarzbrot mit Geißenbutter schmeckte wirklich gut.

Täglich hatte meine Großmutter ihre Miele-Zentrifuge im Einsatz. Oben hinein schüttete sie die Zarah-Milch, dann kurbelte sie und o Wunder ... aus einem der zwei metallenen Arme floss der Rahm, aus dem anderen die Magermilch. Der Rahm kam am nächsten Tag in ein hölzernes Butterfass, in dem sich ein sogenannter Schläger oder Stößer befand. Oma setzte sich auf einen Hocker, nahm das Butterfass auf den Schoß und dann hörte man nur noch das eine Geräusch ... stampf, stampf, stampf ... sie machte tausendmal die gleiche Armbewegung.
„Is bald kärisch, is bald kärisch, is bald kärisch“ murmelte sie dazu litaneihaft und - was immer das auch bedeutete -für sie war es das Zauberwort und beschleunigte den Vorgang anscheinend so beträchtlich, dass die Zeitspanne, bis sich in der verbliebenen Flüssigkeit ein fester, weißer Butterklumpen formte, statt zwei Stunden nur noch etwas mehr als eine betrug. Aber Omas Geduld war groß. Sie stampfte und stampfte ...
Am Ende, wenn der herrliche Aufstrich aufs Brot kam, hatte sich die ganze Mühe gelohnt.

Was gibt es sonst noch von meiner Großmutter zu berichten? Dass sie eines Morgens – wir Kinder waren in der Schule - unserem geliebten Terrarium im Garten einen Besuch abstattete und es mit dem Spaten ratziputz kurz und klein schlug. Blindschleichen und Eidechsen meuchelte sie gnadenlos. Wir fanden zwischen Splitterglas und ausgerissenen Pflanzenstengeln nur noch ihre toten, zerstückelten Hüllen. Ich hoffe bis heute, dass sich zumindest die Frösche retten konnten.
„Ihr braucht gar nicht zu heulen“, sagte Oma und ließ uns wissen: wenn WIR schon so dumm waren und nicht begriffen, was für ein grausiges Ende diese giftstrotzenden Nattern- und Echsenzähne für uns bereit hielten, so war ja immer noch SIE da, um die Todesbisse von ihren Enkeln abzuwenden. Auf ihre Art.

Auch meine und meiner Cousine Jungfräulichkeit und zukünftiges Lebensglück lagen Oma sehr am Herzen.
Obwohl sie hätte wissen müssen, dass mich eh kein Junge ansah und Else, die Durchtriebene, ohnehin nicht mehr zu retten war, nahm sie uns feierlich zur Seite, als sie uns zufällig außer Haus erwischte. Da zählten wir so dreizehn, vierzehn Jahre.

„Kommt her, ihr Früchtchen“, rief sie feierlich, „ich werde euch jetzt einmal richtig aufklären:
Wie ihr wisst, gibt es zwei Sorten Menschen“, sagte sie, „die Katholischen und die Evangelischen!“
(Wir waren natürlich alle katholisch, die ganze Familie Kern war katholisch. So weit, so gut.)
„Also ... wenn ein Mann euch etwas von Liebe erzählt, fragt ihn zuerst nach seiner Religion. Stellt sich heraus, dass er lutheranisch ist, dann macht euch ganz schnell aus dem Staub. Lasst ihn links liegen! Denn mit so einem dürft ihr euch nicht abgeben. Wenn er aber danach noch immer was von euch will und nicht locker lässt, dann hebt den nächsten Stein auf oder was an Passendem gerade in der Nähe ist und ... haut es ihm über den Schädel.“

„Oma ... “, stotterte Else, „ was soll ich aber machen, wenn ich den Typen gern hab?“
„Und vor ich jemand einen Feldstein auf den Kopp kloppe, muss er ja erst einmal in meiner Nähe sein!“, sagte ich verwirrt.
„Also merkt euch das“, erläuterte Großmutter, „die Religion ist alles, und alles andere ist Mumpitz. Solltet ihr euch je mit einem Evangelischen einlassen, werdet ihr in der Hölle schmoren!“

Als Oma oben keine Zähne mehr hatte und mit einer Prothese vom Dentisten heim kam, und als sie sich dann zum erstenmal zum Essen hinsetzte und merkte, dass da mit dem Kauen so ganz und gar nichts klappte und es außerdem noch höllisch weh tat, da nahm sie das Ding aus dem Mund und legte es auf den Tellerrand.
„Friss doch allein, du Miststück“, fauchte sie das Gebiss an und zog sich stolz und verletzt ins Schlafzimmer zurück. Ich war nicht dabei. Aber mein kleiner Bruder hat es gesehen.

Als Großvater im Krankenhaus an Herzschwäche starb, war ich auch nicht dabei. Doch Onkel Peter – unter anderen. Als es zu Ende ging, weinte und schluchzte die Oma zum Steinerweichen.
„Jetzt brauchst du auch nicht mehr zu heulen, Margaret“, sagte Opa. Es waren seine letzten, geflügelten Worte.

Danach saß die Oma einen Sommer lang täglich im zweiten Stock ihres Hauses, wo vom offenen Küchenfenster aus die Blicke frei und tief hinunter schweifen ins üppige, grüne Tal und noch ferner hin über die Wälder und wo der Himmel sehr hoch und weit ist. Und wenn die Schwalben zu hunderten umher segelten und tief herab stießen, wusste sie, dass es bald regnen würde. Und sie tat nichts, saß nur da und schaute. Schaute. Stundenlang.

"O Gott", sagte sie, "was passiert eigentlich, wenn meine Seele eines Tages da oben herumfliegt" -sie zeigte zu den Wolken, zum Firmament- "was ist, wenn sie dann an der Seele vom Opa vorbei saust und wir uns gar nicht mehr kennen?"



*
 

Inu

Mitglied
Danke Flammi
es freut mich, dass ich Dich unterhalten habe. Aber meine Großmutter war wirklich so. Nichts ist erfunden. Ich schwöre

Liebe Grüße
Dir
Inu
 
H

HFleiss

Gast
Meine etwas andere Großmutter

Liebe Inu,

ich bin endlich wieder von AOl geschaltet worden und lese gleich als erstes deinen Text von der wunderlichen Oma. Ja, wunderlich, wunderlich. Äpfel fallen nicht weit vom Stamm, und da muss sich kein Mensch über ihre Enkelin wundern - sag ich mal (grins). Ach, Mensch Inu, ich beneide dich - auf dem Dorf (oder war es eine Kleinstadt?) gibt es so herrlich literarische Typen - hier in der Großstadt fährt man S-Bahn, U-Bahn oder Autobahn, sieht hin und wieder weg, und das war es dann und man weiß gar nichts voneinander. Was ich zu deinem Text zu meckern habe, hier: Ich würde mich auf eine Szene festlegen - es sei denn, du versuchst eine Charakterisierung (wie ich es gemacht habe in Vorbereitung meiner Kindheitsgeschichte, dass du dir nämlich die einzelnen Personen erst mal vornimmst und überlegst, was hatten sie denn so Besonderes an sich). Mir gefällt zum Beispiel die Zerschlagung des Terrariums unheimlich, da könntest du eine prima Geschichte draus machen, da könntest du auch gleich die Religion mit unterbringen (Schlange!) und alles flott nebenbei erzählen. Gut, nur ein gutgemeinter Tipp. Hat mir trotzdem wirklich gut gefallen. Nur ein Lapsus: gut rentiert ist dopfeltgemopfelt. Rentieren kommt von Rente, und das heißt Ertrag.

Gruß
Hanna
 

Inu

Mitglied
Liebe Hanna

Du schreibst:
ich bin endlich wieder von AOl geschaltet worden und lese gleich als erstes deinen Text von der wunderlichen Oma. Ja, wunderlich, wunderlich. Äpfel fallen nicht weit vom Stamm, und da muss sich kein Mensch über ihre Enkelin wundern - sag ich mal (grins).
:)Schön, dass Du wieder da bist, Du edles Sreitross und gleich mit einem munteren Spruch auf den Lippen ... wart nur ab (grins auch)
Ach, Mensch Inu, ich beneide dich - auf dem Dorf (oder war es eine Kleinstadt?) gibt es so herrlich literarische Typen -
Die Großmutter war noch eine der 'harmloseren' Gestalten in meinem Leben
Nur ein Lapsus: gut rentiert ist dopfeltgemopfelt. Rentieren kommt von Rente, und das heißt Ertrag.
Du hast Recht. Das ist kein passendes Wort. Ich hab es gerade geändert. Danke.
Ich würde mich auf eine Szene festlegen
Ich finde, das wäre zu wenig. Eigentlich will ich die kleine Geschichte, obwohl man sie als abgeschlossene Erzählung bezeichnen kann ( Rumpelsstilz hat sie hierher verschoben ) noch in meinen Roman 'Minou' einfügen, weil ich denke, die Großmutter ist bisher zu kurz gekommen.
Aber die Geschichte steht jetzt lose hier, weil ich glaube, auch als Einzelwerk hat sie ihre Berechtigung.

Ich freu mich, dass Du Dich gleich auf meine Großmutter gestürzt hast und wünsche Dir (wieder) gutes Schaffen :)

Liebe Grüße
Inu
 
H

HFleiss

Gast
Meine etwas andere Großmutter

Inu, des Autors ist des Menschen Wille. So viel Skurrilismus muss aber doch ausgebeutet werden, eine herrliche Frau, schade, dass sie nur am Rande vorkommt.

Gruß
Hanna
 

Inu

Mitglied
Liebe Hanna
So viel Skurrilismus muss aber doch ausgebeutet werden, eine herrliche Frau, schade, dass sie nur am Rande vorkommt.
Es liegt nicht an mangelndem Material, ich leide augenblicklich eher an mangelnder Schreiblust.

LG
Inu
 
H

HFleiss

Gast
Meine etwas andere Großmutter

Tja, Inu, was kann man da tun? Lies mal, was der Frey über Schreibblockaden schreibt. (Falls du den Frey nicht hast: Er fragt, was soll zum Beispiel ein Handwerker sagen: Meister, ich kann heute nicht, ich habe eine Holzblockade.) Vielleicht erheitert dich das, und du greifst wieder in die Tastatur - mit frischem Mut?

Gruß
Hanna
 

Inu

Mitglied
*




Meine etwas andere Großmutter.

Von Kindheit an hörte ich: „Oma ist eine bitterböse Frau und macht dem Opa das Leben zur Hölle.“ Das sagte meine Stiefmutter, die Lisa.
Lisa war eine Fremde für die Leute hier. Sie kam nicht aus unserer Gegend, sondern von weit her ... aus Bayern.
„Das ist schon ein rechtes Kreuz mit der Frau!“, klagte Lisa.
Ich fühlte mich hin- und hergerissen. Meine Großeltern sah ich selten und wusste nicht, was sich zwischen ihnen abspielte. Doch ... die Oma war tatsächlich ... ich weiß nicht, wie ...

Als ich sie zum erstenmal bewusst wahrnahm -in den frühen 1950er Jahren- war ich noch klein und sie schon über sechzig. Eine hoch gewachsene, kräftige Frau. Mit Würde schob sie Ihren mächtigen Leib vor sich her. Oma trug ihr aschgraues Haar zu einem mageren Dutt zusammengewurstelt. Ihre fülligen Formen hielt eine geblümte Kittelschürze aus Baumwolle halbwegs zusammen. Ich glaube, sie besaß nicht ein einziges ‚gutes‘ Kleidungsstück.

Sie hatte eine hübsche Tochter, Rita, stolze Inhaberin des einzigen Wäschelädchens im Dorf. Außerdem noch vier Söhne, von denen ihr aber zwei nach deren Verheiratung aus den Augen gekommen waren, weil sie von hier weg zogen. Aber mein Vater und Onkel Peter - ihre beiden ältesten Söhne - samt ihren Frauen und uns, den Enkelkindern, wohnten gerade einmal drei Häuser weiter.

Mein Vater -der gute Bub- hatte in zweiter Ehe eine ‚Auswärtige‘ geheiratet, eben Lisa, mein Stiefmütterchen, die -davon war Oma überzeugt- irgendwann einmal unser aller Untergang sein würde. Werner, mein kleiner Bruder, war 'Bettseucher', und 'das arme Ding da' -damit meinte Oma mich- 'sah so elendig und dürr aus, dass es eine Geiß zwischen den Hörnern küssen konnte‘, weil es ja auch ‚nichts fraß', wie sie immer wieder betonte.
Onkel Peter ‚soff‘. Seine Frau, Tante Zilli, war ein ‚aufgetakeltes Flittchen‘. Cousine Else hatte ‚den leibhaftigen Teufel im Bauch‘.

Jaja, bei uns ging es zu wie in Sodom und Gomorrha und enterbt waren wir alle auch schon längst ... das wusste die ganze Nachbarschaft, denn Großmutter wurde nicht müde, es draußen vor unseren Fenstern laut zu verkünden, wenn sie sich wieder einmal über unser schändliches Treiben aufregte. Hereinkommen durfte sie nicht mehr ... sie hatte Hausverbot. Um Wunders was für Erbschätze sie uns alle bringen wollte, war auch niemandem so richtig klar.

Großmutter hielt sich eine Ziege namens Zarah. Einmal erzählte sie mir, dass sie für Zarah täglich Extra-Essen kochte. Doch da hat sie mich wohl veräppelt. Aber tatsächlich ... was Oma da immer im Blecheimer für die Geiß zurechtmanschte, sah verdammt nach Kartoffel– und Gemüse-Eintopf aus. Womöglich waren es aber nur die Überreste von ihrer und Opas Mahlzeiten.
Zarah stand Tag und Nacht im Zwischengeschoss des zweistöckigen Großelternhauses in einem finsteren Kabäuschen hinter der Treppe. Dort, wo sie später das Klo einbauten.
Zu ebener Erde wohnte damals Tante Rita und betrieb das besagte Wäschelädchen, das gutes Geld einbrachte, denn das Gebäude stand an der Haupt- und Durchgangsstraße unseres Ortes, dort wo es auf direktem Weg nach Brückenstadt ging.

Einmal schlenderte ich mit zwei Kameradinnen von der Schule heimwärts. Auf dem Trottoir, genau vor den schön dekorierten Schaufenstern von Tante Ritas 'Pariser-Dessous-Boutique' standen zirka zehn Leute und gafften intensiv auf die Straße.
„O nein“, seufzte ich und die beiden Mädchen kicherten, denn da war meine Oma mit der Geiß und zog und zerrte das knochige Geschöpf am Strick mühsam hinter sich her. Zarah, störrisch und zickig wie sie nun einmal war, wollte nämlich nicht so, wie Oma wollte. Ich wusste Bescheid: Die halb blinde und lendenlahme Zarah war wieder einmal auf dem Weg zu einer ihrer raren Vergnügungen. Oma würde sie nämlich zum Ziegenbock bringen, ans Ende des Ortes, wo fast nie jemand hin ging, weil es ganz bestialisch stank. Ein alter Mann betrieb den sogenannten ‚Bockstall‘ und dort wartete schon sprungbereit Zarahs Liebster für gewisse Momente, der wilde Cäsar. Zweimal im Jahr schaffte Oma ihre Geiß zwecks Begattung dorthin. Und das Ganze hatte auch einen Nutzen. Ich erinnere mich, dass da von irgendwelchen Wandhaken an der Giebelseite des Großelternhauses regelmäßig dunkelrot-abgehäutete Zicklein-Korpusse baumelten, aus deren Mündern dickflüssig das Blut tröpfelte. Bei diesem Anblick wurde mir immer schlecht. Nach einem halben Tag oder so war der Spuk vorbei. Das Fleisch wurde gegessen oder verkauft ... ich wollte es gar nicht so genau wissen.

Uns Kinder – wenn wir uns zu Oma hinauf verirrten - traktierte sie immer als erstes mit einer großen Tasse lauwarmer Geißenmilch. Die mochte keiner ... aber ich wusste: sie macht groß und stark. Wir tranken ohne Murren ... da mussten wir durch. Jedoch Omas frisches Schwarzbrot dick mit Geißenbutter bestrichen, schmeckte wirklich gut.

Täglich hatte meine Großmutter ihre Miele-Zentrifuge im Einsatz. Oben hinein schüttete sie die Zarah-Milch, dann kurbelte sie und o Wunder ... aus einem der zwei metallenen Arme floss der Rahm, aus dem anderen die Magermilch. Der Rahm kam dann in ein hölzernes Butterfass, in dem sich ein sogenannter Schläger oder Stößer befand. Oma setzte sich auf einen Hocker, nahm das Butterfass auf den Schoß und danach hörte man nur noch das eine Geräusch ... stampf, stampf, stampf ... sie machte tausendmal die gleiche Armbewegung.
„Is bald kärisch, is bald kärisch, is bald kärisch“ murmelte sie dazu litaneihaft und - was immer das auch bedeutete -für sie war es das Zauberwort und beschleunigte den Vorgang anscheinend so beträchtlich, dass die Zeitspanne, bis sich in der verbliebenen Flüssigkeit ein fester, weißer Butterklumpen formte, statt zwei Stunden nur noch etwas mehr als eine betrug. Aber Omas Geduld war groß. Sie stampfte und stampfte ...
Am Ende, wenn der herrliche Aufstrich aufs Brot kam, hatte sich die ganze Mühe gelohnt.

Was gibt es sonst noch von meiner Großmutter zu berichten? Dass sie eines Morgens – wir Kinder waren in der Schule - unserem geliebten Terrarium im Garten einen Besuch abstattete und es mit dem Spaten ratziputz kurz und klein schlug. Blindschleichen und Eidechsen meuchelte sie gnadenlos. Wir fanden zwischen Splitterglas und ausgerissenen Pflanzenstengeln nur noch ihre toten, bis zur Unkenntlichkeit zerstückelten Hüllen. Ich hoffe bis heute, dass sich zumindest die Frösche retten konnten.
„Ihr braucht gar nicht zu heulen“, sagte Oma und ließ uns wissen: wenn WIR schon so dumm waren und nicht begriffen, was für ein grausiges Ende diese giftstrotzenden Nattern- und Echsenzähne für uns bereit hielten, so war ja immer noch SIE da, um die Todesbisse von ihren Enkeln abzuwenden. Auf ihre Art.

Auch meine und meiner Cousine Jungfräulichkeit und zukünftiges Lebensglück lagen Oma sehr am Herzen.
Obwohl sie hätte wissen müssen, dass mich eh kein Junge ansah und Else, die Durchtriebene, ohnehin nicht mehr zu retten war, nahm sie uns feierlich zur Seite, als sie uns zufällig außer Haus erwischte. Da zählten wir so dreizehn, vierzehn Jahre.

„Kommt her, ihr Früchtchen“, rief sie feierlich, „ich werde euch jetzt einmal richtig aufklären:
Wie ihr wisst, gibt es zwei Sorten Menschen“, sagte sie, „die Katholischen und die Evangelischen!“
(Wir waren natürlich alle katholisch, die ganze Familie Kern war katholisch. So weit, so gut.)
„Also ... wenn ein Mann euch etwas von Liebe erzählt, fragt ihn zuerst nach seiner Religion. Stellt sich heraus, dass er lutheranisch ist, dann macht euch ganz schnell aus dem Staub. Lasst ihn links liegen! Denn mit so einem dürft ihr euch nicht abgeben. Wenn er aber danach noch immer was von euch will und nicht locker lässt, dann hebt den nächsten Stein auf oder was an Passendem gerade in der Nähe ist und ... schlagt es ihm über den Schädel.“

„Oma ... “, stotterte Else, „ was soll ich aber machen, wenn ich den Typen gern hab?“
„Und vor ich jemand einen Feldstein auf den Kopp kloppe, muss er ja erst einmal in meiner Nähe sein!“, sagte ich verwirrt.
„Also merkt euch das“, erläuterte Großmutter, „die Religion ist alles, und alles andere ist Mumpitz. Solltet ihr euch je mit einem Evangelischen einlassen, werdet ihr in der Hölle schmoren!“

Als Oma oben keine Zähne mehr hatte und mit einer Prothese vom Dentisten heim kam, und als sie sich dann zum erstenmal zum Essen hinsetzte und merkte, dass da mit dem Kauen so ganz und gar nichts klappte und es außerdem noch höllisch weh tat, da nahm sie das Ding aus dem Mund und legte es auf den Tellerrand.
„Friss doch allein, du Miststück“, fauchte sie das Gebiss an und zog sich stolz und verletzt ins Schlafzimmer zurück. Ich war nicht dabei. Aber mein kleiner Bruder hat es gesehen.

Als Großvater im Krankenhaus an Herzschwäche starb, war ich auch nicht dabei. Doch mein Vater. Er erzählte: Als es zu Ende ging, weinte und schluchzte die Oma zum Steinerweichen.
„Jetzt brauchst du auch nicht mehr zu heulen, Margaret“, sagte Opa. Es waren seine letzten, geflügelten Worte.

Danach saß die Oma einen Sommer lang täglich im zweiten Stock ihres Hauses, wo vom offenen Küchenfenster aus die Blicke frei und tief hinunter schweifen ins üppige, grüne Tal und noch ferner hin über die Wälder und wo der Himmel sehr hoch und weit ist. Und wenn die Schwalben zu hunderten umher segelten und tief herab stießen, wusste sie, dass es bald regnen würde. Und sie tat nichts, saß nur da und schaute. Schaute. Stundenlang.

"O Gott", sagte sie, "was passiert eigentlich, wenn meine Seele eines Tages da oben herumfliegt" -sie zeigte zu den Wolken, zum Firmament- "was ist, wenn sie dann an der Seele vom Opa vorbei saust und wir uns gar nicht mehr kennen?"



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Inu

Mitglied
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Meine etwas andere Großmutter.

Von Kindheit an hörte ich: „Oma ist eine bitterböse Frau und macht dem Opa das Leben zur Hölle.“ Das sagte meine Stiefmutter, die Lisa.
Lisa war eine Fremde für die Leute hier. Sie kam nicht aus unserer Gegend, sondern von weit her ... aus Bayern.
„Das ist schon ein rechtes Kreuz mit der Frau!“, klagte Lisa.
Ich fühlte mich hin- und her gerissen. Meine Großeltern sah ich selten und wusste nicht, was sich zwischen ihnen abspielte. Doch ... die Oma war tatsächlich ... ich weiß nicht, wie ...

Als ich sie zum erstenmal bewusst wahrnahm - in den frühen 1950er Jahren - war ich noch klein und sie schon über sechzig. Eine hoch gewachsene, kräftige Frau. Mit Würde schob sie Ihren mächtigen Leib vor sich her. Oma trug ihr aschgraues Haar zu einem mageren Dutt zusammengewurstelt. Ihre fülligen Formen hielt eine geblümte Kittelschürze aus Baumwolle halbwegs zusammen. Ich glaube, sie besaß nicht ein einziges ‚gutes‘ Kleidungsstück.

Sie hatte eine hübsche Tochter, Rita, stolze Inhaberin des einzigen Wäschelädchens im Dorf. Außerdem noch vier Söhne, von denen ihr aber zwei nach deren Verheiratung aus den Augen gekommen waren, weil sie von hier weg zogen. Aber mein Vater und Onkel Peter - ihre beiden ältesten Söhne - samt ihren Frauen und uns, den Enkelkindern, wohnten gerade einmal drei Häuser weiter.

Mein Vater - der gute Bub - hatte in zweiter Ehe eine ‚Auswärtige‘ geheiratet, eben Lisa, mein Stiefmütterchen, die - davon war Oma überzeugt - irgendwann einmal unser aller Untergang sein würde. Werner, mein kleiner Bruder, war 'Bettseucher', und 'das arme Ding da' - damit meinte Oma mich - 'sah so elendig und dürr aus, dass es eine Geiß zwischen den Hörnern küssen konnte‘, weil es ja auch ‚nichts fraß', wie sie immer wieder betonte.
Onkel Peter ‚soff‘. Seine Frau, Tante Zilli, war ein ‚aufgetakeltes Flittchen‘. Cousine Else hatte ‚den leibhaftigen Teufel im Bauch‘.

Jaja, bei uns ging es zu wie in Sodom und Gomorrha und enterbt waren wir alle auch schon längst ... das wusste die ganze Nachbarschaft, denn Großmutter wurde nicht müde, es draußen vor unseren Fenstern laut zu verkünden, wenn sie sich wieder einmal über unser schändliches Treiben aufregte. Hereinkommen durfte sie nicht mehr ... sie hatte Hausverbot. Um Wunders was für Erbschätze sie uns alle bringen wollte, war auch niemandem so richtig klar.

Großmutter hielt sich eine Ziege namens Zarah. Einmal erzählte sie mir, dass sie für Zarah täglich Extra - Essen kochte. Doch da hat sie mich wohl veräppelt. Aber tatsächlich ... was Oma da immer im Blecheimer für die Geiß zurechtmanschte, sah verdammt nach Kartoffel– und Gemüse-Eintopf aus. Womöglich waren es aber nur die Überreste von ihrer und Opas Mahlzeiten.
Zarah stand Tag und Nacht im Zwischengeschoss des zweistöckigen Großelternhauses in einem finsteren Kabäuschen hinter der Treppe. Dort, wo sie später das Klo einbauten.
Zu ebener Erde wohnte damals Tante Rita und betrieb das besagte Wäschelädchen, das gutes Geld einbrachte, denn das Gebäude stand an der Haupt- und Durchgangsstraße unseres Ortes, dort wo es auf direktem Weg nach Brückenstadt ging.

Einmal schlenderte ich mit zwei Kameradinnen von der Schule heimwärts. Auf dem Trottoir, genau vor den schön dekorierten Schaufenstern von Tante Ritas 'Pariser-Dessous-Boutique' standen zirka zehn Leute und gafften intensiv auf die Straße.
„O nein“, seufzte ich und die beiden Mädchen kicherten, denn da war meine Oma mit der Geiß und zog und zerrte das knochige Geschöpf am Strick mühsam hinter sich her. Zarah, störrisch und zickig wie sie nun einmal war, wollte nämlich nicht so, wie Oma wollte. Ich wusste Bescheid: Die halb blinde und lendenlahme Zarah war wieder einmal auf dem Weg zu einer ihrer raren Vergnügungen. Oma würde sie nämlich zum Ziegenbock bringen, ans Ende des Ortes, wo fast nie jemand hin ging, weil es ganz bestialisch stank. Ein alter Mann betrieb den sogenannten ‚Bockstall‘ und dort wartete schon sprungbereit Zarahs Liebster für gewisse Momente, der wilde Cäsar. Zweimal im Jahr schaffte Oma ihre Geiß zwecks Begattung dorthin. Und das Ganze hatte auch einen Nutzen. Ich erinnere mich, dass da von irgendwelchen Wandhaken an der Giebelseite des Großelternhauses regelmäßig dunkelrot-abgehäutete Zicklein-Korpusse baumelten, aus deren Mündern dickflüssig das Blut tröpfelte. Bei diesem Anblick wurde mir immer schlecht. Nach einem halben Tag oder so war der Spuk vorbei. Das Fleisch wurde gegessen oder verkauft ... ich wollte es gar nicht so genau wissen.

Uns Kinder – wenn wir uns zu Oma hinauf verirrten - traktierte sie immer als erstes mit einer großen Tasse lauwarmer Geißenmilch. Die mochte keiner ... aber ich wusste: sie macht groß und stark. Wir tranken ohne Murren ... da mussten wir durch. Jedoch Omas frisches Schwarzbrot dick mit Geißenbutter bestrichen, schmeckte wirklich gut.

Täglich hatte meine Großmutter ihre Miele-Zentrifuge im Einsatz. Oben hinein schüttete sie die Zarah-Milch, dann kurbelte sie und o Wunder ... aus einem der zwei metallenen Arme floss der Rahm, aus dem anderen die Magermilch. Der Rahm kam dann in ein hölzernes Butterfass, in dem sich ein sogenannter Schläger oder Stößer befand. Oma setzte sich auf einen Hocker, nahm das Butterfass auf den Schoß und danach hörte man nur noch das eine Geräusch ... stampf, stampf, stampf ... sie machte tausendmal die gleiche Armbewegung.
„Is bald kärisch, is bald kärisch, is bald kärisch“ murmelte sie dazu litaneihaft und - was immer das auch bedeutete - für sie war es das Zauberwort und beschleunigte den Vorgang anscheinend so beträchtlich, dass die Zeitspanne, bis sich in der verbliebenen Flüssigkeit ein fester, weißer Butterklumpen formte, statt zwei Stunden nur noch etwas mehr als eine betrug. Aber Omas Geduld war groß. Sie stampfte und stampfte ...
Am Ende, wenn der herrliche Aufstrich aufs Brot kam, hatte sich die ganze Mühe gelohnt.

Was gibt es sonst noch von meiner Großmutter zu berichten? Dass sie eines Morgens - wir Kinder waren in der Schule - unserem geliebten Terrarium im Garten einen Besuch abstattete und es mit dem Spaten ratziputz kurz und klein schlug. Blindschleichen und Eidechsen meuchelte sie gnadenlos. Wir fanden zwischen Splitterglas und ausgerissenen Pflanzenstengeln nur noch ihre toten, bis zur Unkenntlichkeit zerstückelten Hüllen. Ich hoffe bis heute, dass sich zumindest die Frösche retten konnten.
„Ihr braucht gar nicht zu heulen“, sagte Oma und ließ uns wissen: wenn WIR schon so dumm waren und nicht begriffen, was für ein grausiges Ende diese giftstrotzenden Nattern- und Echsenzähne für uns bereit hielten, so war ja immer noch SIE da, um die Todesbisse von ihren Enkeln abzuwenden. Auf ihre Art.

Auch meine und meiner Cousine Jungfräulichkeit und zukünftiges Lebensglück lagen Oma sehr am Herzen.
Obwohl sie hätte wissen müssen, dass mich eh kein Junge ansah und Else, die Durchtriebene, ohnehin nicht mehr zu retten war, nahm sie uns feierlich zur Seite, als sie uns zufällig außer Haus erwischte. Da zählten wir so dreizehn, vierzehn Jahre.

„Kommt her, ihr Früchtchen“, rief sie, "ich werde euch jetzt einmal richtig aufklären:
Wie ihr wisst, gibt es zwei Sorten Menschen“, sagte sie, „die Katholischen und die Evangelischen!“
(Wir waren natürlich alle katholisch, die ganze Familie Kern war katholisch. So weit, so gut.)
„Also ... wenn ein Mann euch etwas von Liebe erzählt, fragt ihn zuerst nach seiner Religion. Stellt sich heraus, dass er lutheranisch ist, dann macht euch ganz schnell aus dem Staub. Lasst ihn links liegen! Denn mit so einem dürft ihr euch nicht abgeben. Wenn er aber danach noch immer was von euch will und nicht locker lässt, dann hebt den nächsten Stein auf oder was an Passendem gerade in der Nähe ist und ... schlagt es ihm über den Schädel.“

„Oma ... “, stotterte Else, „ was soll ich aber machen, wenn ich den Typen gern hab?“
„Und vor ich jemand einen Feldstein auf den Kopp kloppe, muss er ja erst einmal in meiner Nähe sein!“, sagte ich verwirrt.
„Also merkt euch das“, erläuterte Großmutter, „die Religion ist alles, und alles andere ist Mumpitz. Solltet ihr euch je mit einem Evangelischen einlassen, werdet ihr in der Hölle schmoren!“

Als Oma oben keine Zähne mehr hatte und mit einer Prothese vom Dentisten heim kam, und als sie sich dann zum erstenmal zum Essen hinsetzte und merkte, dass da mit dem Kauen so ganz und gar nichts klappte und es außerdem noch höllisch weh tat, da nahm sie das Ding aus dem Mund und legte es auf den Tellerrand.
„Friss doch allein, du Miststück“, fauchte sie das Gebiss an und zog sich stolz und verletzt ins Schlafzimmer zurück. Ich war nicht dabei. Aber mein kleiner Bruder hat es gesehen.

Als Großvater im Krankenhaus an Herzschwäche starb, war ich auch nicht dabei. Doch mein Vater. Er erzählte: Als es zu Ende ging, weinte und schluchzte die Oma zum Steinerweichen.
„Jetzt brauchst du auch nicht mehr zu heulen, Margaret“, sagte Opa. Es waren seine letzten, geflügelten Worte.

Danach saß die Oma einen Sommer lang täglich im zweiten Stock ihres Hauses, wo vom offenen Küchenfenster aus die Blicke frei und tief hinunter schweifen ins üppige, grüne Tal und noch ferner hin über die Wälder und wo der Himmel sehr hoch und weit ist. Und wenn die Schwalben zu hunderten umher segelten und tief herab stießen, wusste sie, dass es bald regnen würde. Und sie tat nichts, saß nur da und schaute. Schaute. Stundenlang.

"O Gott", sagte sie, "was passiert eigentlich, wenn meine Seele eines Tages da oben herumfliegt" - sie zeigte zu den Wolken, zum Firmament - "was ist, wenn sie dann an der Seele vom Opa vorbei saust und wir uns gar nicht mehr kennen?"



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Inu

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Meine etwas andere Großmutter.

Von Kindheit an hörte ich: „Oma ist eine bitterböse Frau und macht dem Opa das Leben zur Hölle.“ Das sagte meine Stiefmutter, die Lisa.
Lisa war eine Fremde für die Leute hier. Sie kam nicht aus unserer Gegend, sondern von weit her ... aus Bayern.
„Das ist schon ein rechtes Kreuz mit der Frau!“, klagte Lisa.
Ich fühlte mich hin- und her gerissen. Meine Großeltern sah ich selten und wusste nicht, was sich zwischen ihnen abspielte. Doch ... die Oma war tatsächlich ... ich weiß nicht, wie ...

Als ich sie zum erstenmal bewusst wahrnahm - in den frühen 1950er Jahren - war ich noch klein und sie schon über sechzig. Eine hoch gewachsene, kräftige Frau. Mit Würde schob sie Ihren mächtigen Leib vor sich her. Oma trug ihr aschgraues Haar zu einem mageren Dutt zusammengewurstelt. Ihre fülligen Formen hielt eine geblümte Kittelschürze aus Baumwolle halbwegs zusammen. Ich glaube, sie besaß nicht ein einziges ‚gutes‘ Kleidungsstück.

Sie hatte eine hübsche Tochter, Rita, stolze Inhaberin des einzigen Wäschelädchens im Dorf. Außerdem noch vier Söhne, von denen ihr aber zwei nach deren Verheiratung aus den Augen gekommen waren, weil sie von hier weg zogen. Aber mein Vater und Onkel Peter - ihre beiden ältesten Söhne - samt ihren Frauen und uns, den Enkelkindern, wohnten gerade einmal drei Häuser weiter.

Mein Vater - der gute Bub - hatte in zweiter Ehe eine ‚Auswärtige‘ geheiratet, eben Lisa, mein Stiefmütterchen, die - davon war Oma überzeugt - irgendwann einmal unser aller Untergang sein würde. Werner, mein kleiner Bruder, war 'Bettseucher', und 'das arme Ding da' - damit meinte Oma mich - 'sah so elendig und dürr aus, dass es eine Geiß zwischen den Hörnern küssen konnte‘, weil es ja auch ‚nichts fraß', wie sie immer wieder betonte.
Onkel Peter ‚soff‘. Seine Frau, Tante Zilli, war ein ‚aufgetakeltes Flittchen‘. Cousine Else hatte ‚den leibhaftigen Teufel im Bauch‘.

Jaja, bei uns ging es zu wie in Sodom und Gomorrha und enterbt waren wir alle auch schon längst ... das wusste die ganze Nachbarschaft, denn Großmutter wurde nicht müde, es draußen vor unseren Fenstern laut zu verkünden, wenn sie sich wieder einmal über unser schändliches Treiben aufregte. Hereinkommen durfte sie nicht mehr ... sie hatte Hausverbot. Um Wunders was für Erbschätze sie uns alle bringen wollte, war auch niemandem so richtig klar.

Großmutter hielt sich eine Ziege namens Zarah. Einmal erzählte sie mir, dass sie für Zarah täglich Extra - Essen kochte. Doch da hat sie mich wohl veräppelt. Aber tatsächlich ... was Oma da immer im Blecheimer für die Geiß zurechtmanschte, sah verdammt nach Kartoffel– und Gemüse-Eintopf aus. Womöglich waren es aber nur die Überreste von ihrer und Opas Mahlzeiten.
Zarah stand Tag und Nacht im Zwischengeschoss des zweistöckigen Großelternhauses in einem finsteren Kabäuschen hinter der Treppe. Dort, wo sie später das Klo einbauten.
Zu ebener Erde wohnte damals Tante Rita und betrieb das besagte Wäschelädchen, das gutes Geld einbrachte, denn das Gebäude stand an der Haupt- und Durchgangsstraße unseres Ortes, dort wo es auf direktem Weg nach Brückenstadt ging.

Einmal schlenderte ich mit zwei Kameradinnen von der Schule heimwärts. Auf dem Trottoir, genau vor den schön dekorierten Schaufenstern von Tante Ritas 'Pariser-Dessous-Boutique' standen zirka zehn Leute und gafften intensiv auf die Straße.
„O nein“, seufzte ich und die beiden Mädchen kicherten, denn da war meine Oma mit der Geiß und zog und zerrte das knochige Geschöpf am Strick mühsam hinter sich her. Zarah, störrisch und zickig wie sie nun einmal war, wollte nämlich nicht so, wie Oma wollte. Ich wusste Bescheid: Die halb blinde und lendenlahme Zarah war wieder einmal auf dem Weg zu einer ihrer raren Vergnügungen. Oma würde sie nämlich zum Ziegenbock bringen, ans Ende des Ortes, wo fast nie jemand hin ging, weil es ganz bestialisch stank. Ein alter Mann betrieb den sogenannten ‚Bockstall‘ und dort wartete schon sprungbereit Zarahs Liebster für gewisse Momente, der wilde Cäsar. Zweimal im Jahr schaffte Oma ihre Geiß zwecks Begattung dorthin. Und das Ganze hatte auch einen Nutzen. Ich erinnere mich, dass da von irgendwelchen Wandhaken an der Giebelseite des Großelternhauses regelmäßig dunkelrot-abgehäutete Zicklein-Korpusse baumelten, aus deren Mündern dickflüssig das Blut tröpfelte. Bei diesem Anblick wurde mir immer schlecht. Nach einem halben Tag oder so war der Spuk vorbei. Das Fleisch wurde gegessen oder verkauft ... ich wollte es gar nicht so genau wissen.

Uns Kinder – wenn wir uns zu Oma hinauf verirrten - traktierte sie immer als erstes mit einer großen Tasse lauwarmer Geißenmilch. Die mochte keiner ... aber ich wusste: sie macht groß und stark. Wir tranken ohne Murren ... da mussten wir durch. Jedoch Omas frisches Schwarzbrot dick mit Geißenbutter bestrichen, schmeckte wirklich gut.

Täglich hatte meine Großmutter ihre Miele-Zentrifuge im Einsatz. Oben hinein schüttete sie die Zarah-Milch, dann kurbelte sie und o Wunder ... aus einem der zwei metallenen Arme floss der Rahm, aus dem anderen die Magermilch. Der Rahm kam dann in ein hölzernes Butterfass, in dem sich ein sogenannter Schläger oder Stößer befand. Oma setzte sich auf einen Hocker, nahm das Butterfass auf den Schoß und danach hörte man nur noch das eine Geräusch ... stampf, stampf, stampf ... sie machte tausendmal die gleiche Armbewegung.
„Is bald kärisch, is bald kärisch, is bald kärisch“ murmelte sie dazu litaneihaft und - was immer das auch bedeutete - für sie war es das Zauberwort und beschleunigte den Vorgang anscheinend so beträchtlich, dass die Zeitspanne, bis sich in der verbliebenen Flüssigkeit ein fester, weißer Butterklumpen formte, statt zwei Stunden nur noch etwas mehr als eine betrug. Aber Omas Geduld war groß. Sie stampfte und stampfte ...
Am Ende, wenn der herrliche Aufstrich aufs Brot kam, hatte sich die ganze Mühe gelohnt.

Was gibt es sonst noch von meiner Großmutter zu berichten? Dass sie eines Morgens - wir Kinder waren in der Schule - unserem geliebten Terrarium im Garten einen Besuch abstattete und es mit dem Spaten ratziputz kurz und klein schlug. Blindschleichen und Eidechsen meuchelte sie gnadenlos. Wir fanden zwischen Splitterglas und ausgerissenen Pflanzenstengeln nur noch ihre toten, bis zur Unkenntlichkeit zerstückelten Hüllen. Ich hoffe bis heute, dass sich zumindest die Frösche retten konnten.
„Ihr braucht gar nicht zu heulen“, sagte Oma und ließ uns wissen: wenn WIR schon so dumm waren und nicht begriffen, was für ein grausiges Ende diese giftstrotzenden Nattern- und Echsenzähne für uns bereit hielten, so war ja immer noch SIE da, um die Todesbisse von ihren Enkeln abzuwenden. Auf ihre Art.

Auch meine und meiner Cousine Jungfräulichkeit und zukünftiges Lebensglück lagen Oma sehr am Herzen.
Obwohl sie hätte wissen müssen, dass mich eh kein Junge ansah und Else, die Durchtriebene, ohnehin nicht mehr zu retten war, nahm sie uns feierlich zur Seite, als sie uns zufällig außer Haus erwischte. Da zählten wir so dreizehn, vierzehn Jahre.

„Kommt her, ihr Früchtchen“, rief sie, "ich werde euch jetzt einmal richtig aufklären:
Wie ihr wisst, gibt es zwei Sorten Menschen“, sagte sie, „die Katholischen und die Evangelischen!“
(Wir waren natürlich alle katholisch, die ganze Familie Kern war katholisch. So weit, so gut.)
„Also ... wenn ein Mann euch etwas von Liebe erzählt, fragt ihn zuerst nach seiner Religion. Stellt sich heraus, dass er lutheranisch ist, dann macht euch ganz schnell aus dem Staub. Lasst ihn links liegen! Denn mit so einem dürft ihr euch nicht abgeben. Wenn er aber danach noch immer was von euch will und nicht locker lässt, dann hebt den nächsten Stein auf oder was an Passendem gerade in der Nähe ist und ... schlagt es ihm über den Schädel.“

„Oma ... “, stotterte Else, „ was soll ich aber machen, wenn ich den Typen gern hab?“
„Und vor ich jemand einen Feldstein auf den Kopp kloppe, muss er ja erst einmal in meiner Nähe sein!“, sagte ich verwirrt.
„Also merkt euch das“, erläuterte Großmutter, „die Religion ist alles, und alles andere ist Mumpitz. Solltet ihr euch je mit einem Evangelischen einlassen, werdet ihr in der Hölle schmoren!“

Als Oma oben keine Zähne mehr hatte und mit einer Prothese vom Dentisten heim kam, und als sie sich dann zum erstenmal zum Essen hinsetzte und merkte, dass da mit dem Kauen so ganz und gar nichts klappte und es außerdem noch höllisch weh tat, da nahm sie das Ding aus dem Mund und legte es auf den Tellerrand.
„Friss doch allein, du Miststück“, fauchte sie das Gebiss an und zog sich stolz und verletzt ins Schlafzimmer zurück. Ich war nicht dabei. Aber mein kleiner Bruder hat es gesehen.

Als Großvater im Krankenhaus an Herzschwäche starb, war ich auch nicht dabei. Doch mein Vater. Er erzählte: Als es zu Ende ging, weinte und schluchzte die Oma zum Steinerweichen.
„Jetzt brauchst du auch nicht mehr zu heulen, Margaret“, sagte Opa. Es waren seine letzten, geflügelten Worte.

Danach saß die Oma einen Sommer lang täglich im zweiten Stock ihres Hauses, wo vom offenen Küchenfenster aus die Blicke frei und tief hinunter schweifen ins üppige, grüne Tal und noch ferner hin über die Wälder und wo der Himmel sehr hoch und weit ist. Und wenn die Schwalben zu hunderten umher segelten und tief herab stießen, wusste sie, dass es bald regnen würde. Und sie tat nichts, saß nur da und schaute. Schaute. Stundenlang.

"O Gott", sagte sie, "was passiert eigentlich, wenn meine Seele eines Tages da oben herumfliegt" - sie zeigte zu den Wolken, zum Firmament - "was ist, wenn sie dann an der Seele vom Opa vorbei saust und wir uns gar nicht mehr kennen?"



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