Meine toten Kunden

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Vasco

Mitglied
Meine toten Kunden


Na, was ist jetzt, springt er? Dieser bärtige Kerl dort. Steht leicht vorn übergebeugt. Der ist am Ende. Das sehe ich ihm an. Der finstere Geist des alten Eisenbahntunnels muss in ihn gefahren sein. Mit aufgerissenen Augen starrt er an mir vorbei in Richtung Zugsignal.

Ich habe in den wenigen Jahren, in denen ich diese Arbeit hier mache, einen guten Blick für Leute entwickelt, die sich vor einen Zug werfen werden. Ich sehe es ihnen an. Es ist eine ideale Stelle hier, direkt hinter einem eingeleisigen Tunnel unweit des Rangierbahnhofs. Ein Tunnel aus den Anfangszeiten der Eisenbahn. Heute ist die Strecke nicht mehr lukrativ, aber für Pendlerbahnen und Güterzüge noch geduldet. Der Zugführer hat keine Chance zu bremsen, wenn man sich unmittelbar hinter dieser Tunnelausfahrt auf die Schienen stellt. Man stellt seinen Wagen oben auf dem Übergang ab, geht eine schmale Treppe abwärts, folgt dem Fußweg ein paar Schritt, und schlägt sich kurz seitwärts durch die Büsche. Dann ist das Ende des Lebens in dieser Welt erreicht.

Denn wen es bis hierher getrieben hat, den packt der ewig hungrige Tunnelgeist. Er dringt in ihn ein und tötet das bisschen verbliebene restliche Leben ab. Das Opfer beendet dann zumeist selbst seine Qualen. Ich warte stets geduldig, bis es soweit ist.

Im dem Bogen der Tunneleinfahrt ist die Jahreszahl 1885 in die Quadersteine eingehauen. Kaum noch zu entziffern. Darüber führt eine vor Jahren aufgegebene Straße. Der Straßenbelag darauf ist an zahlreichen Stellen aufgebrochen, Löwenzahn und andere Gewächse erobern sich hier ein Stück Natur zurück. Etwa in der Mitte der Brücke gibt es eine ummauerte Ausbuchtung mit Brüstung. Manchmal sehen die Leute erst eine Zeit lang hier herunter, bevor sie ihren letzten Sprung machen. Ein trostlos einsamer Blick ist das. Ein stilles Bahngleis, das vom Hauptnetz abzweigt und an einer niedergegangenen Schrebergartenkolonie vorbei in eine Kurve ins Nirgendwo eines Industriegebiets mündet. Hier gibt es keine Zeit mehr, keine Hast.

Der Kerl blickt weiter in meine Richtung. Sehen kann er mich nicht. Seine Lippen sind leicht geöffnet. Er atmet durch den Mund. Hat Angst. Sein Innerstes ist also noch nicht vollkommen erloschen, sondern erst am letzten Ende seiner Verzweiflung angekommen. Bald wird er die Erlösung suchen. Dieser hier ist aber noch nicht ganz so weit, und wird mich wohl noch einige Viertelstunden meiner Zeit kosten.

Diesen Platz hier hinter der alten Schrebergartenhütte ist der Ort, an dem ich auf meinen Einsatz warte. Ich bin auch selber schon drüben gestanden, auf dem Todesabsatz und habe zu dieser Hütte herübergesehen. Sie ist zugewuchert von wilden Birken, Ahorn, Efeu und Brombeerhecken. Einen Schemel, den ich in dieser Hütte fand, habe ich genau an dem Punkt aufgestellt, an dem ich die Todeskandidaten und das Zugsignal sehen kann. Und selber nicht gesehen werde.

Es gibt Menschen, die so verzweifelt sind, dass sie die Grenzsituation zwischen Leben und Tod suchen. Doch diese Leute erkenne ich rasch. Sie leiden sehr, doch ihr Selbstmitleid ist stärker. Die ziehen dann wieder zurück. Normalerweise stehlen sie mir nur meine Zeit. Doch manche kommen wieder.
Tatsächlich habe ich ein junges Mädchen hier gesehen, das zutiefst unglücklich schien. Jedenfalls heulte es. Da war mir schon klar, dass noch zu viel Leben in diesem Wesen steckt. Es würde nicht springen. Und so war es dann auch. Aber zwei Tage später ist sie wieder hier unterhalb der Brücke aufgetaucht. Nicht alleine allerdings. Ein junger Mann war an ihrer Seite. Beide waren sehr still und bedächtig. Ganz ruhig und überlegt. Innerlich völlig ausgebrannt. Menschliche Ruinen.
Der Verstand arbeitet noch bis zu letzten Sekunde, aber die Seele ist schon auf dem Weg ins Jenseits. Der Tunnelgeist hatte hier leichtes Spiel.

Das war vor drei Jahren. Ein paar Tage zuvor hatte ich diese abgelegene Schrebergartenhütte hier aufgebrochen. Nicht, dass ich erwartet hätte, etwas von Wert hier zu finden. Nein, ich war um ein kostenloses Nachtlager verlegen. Es gibt so Zeiten, da bin ich völlig blank. Da habe ich dann leider nur wenige Freunde. Frauen noch weniger. Und so eine Zeit war das im August. Ich mache also diesen Bruch und habe mich für ein paar Tage in der Hütte einquartiert. Gehörte wohl einem ehemaligen Eisenbahner. Jedenfalls war das leicht aus dem Inventar und den Bildern an den Wänden zu schließen. Warum er in den drei Jahren, die ich hier nun wohne, noch nie aufgetaucht ist, weiß ich nicht. Vielleicht lebt er nicht mehr. Einsam verstorben, keine Nachkommen. Niemand weiß etwas von seinem verlotterten Garten und dem kleinen Haus beim alten Eisenbahntunnel. Errichtet in glücklicheren Tagen.
Vielleicht hat ihn auch eines Tages der Tunnelgeist gepackt. Ich weiß es nicht. Aber ich bin froh, dass ich Unterkunft und Einkommen hier gefunden habe.

Nun, an jenem Augustabend war ich gerade von einer wenig erfolgreichen Tour zurückgekehrt, als das erwähnte Pärchen langsam die Treppe herabgestiegen kam. Kühlen Blicks gingen sie unbeirrt auf die erwähnte Stelle zu. Sie hielten einander die Hände und ich erkannte zweifelsfrei jenes Mädchen, das zwei Tage zuvor hier bereits weinend gestanden hatte. Ihr Freund zückt ein Messer und sticht ihr in die Herzgegend. Sie klappt sofort zusammen. Ich natürlich sofort die Hand am Stiefelschaft. Dort habe ich ebenfalls ein Messer. Man weiß ja nie, es gibt so viel Gesindel überall.
Ein leises Sirren der Schienen war zu vernehmen und das Zugsignal zeigte Grün. Das Sirren wurde unvermittelt lauter, der obligatorische Pfiff der Lok bei Einfahrt in den Tunnel ertönte. Er sprang.

Es war fürchterlich, und ich will gar nicht im Einzelnen berichten, welche Gliedmaßen ich wo gefunden habe. Mir war nur klar, dass ich mich schleunigst verdünnisieren musste. Als ich zur Treppe hastete, fiel mein Blick zuerst auf einen Schlüsselbund, dann auf einen Geldbeutel. Beides musste dem Armen beim Aufprall aus den Taschen geschleudert worden sein. Vielleicht war das damals nicht meine beste Idee, aber ich nahm seine Dinge an mich. Ich fand 150 Kröten und seinen Ausweis darin.

Kühl überlegt war es nun so, dass ich da eine Adresse hatte; und einen Schlüssel dazu. Ich musste mich beeilen, denn natürlich würde der Lokführer Meldung machen und wenn sie dann auch noch die Leiche des Mädchens fanden, dann war mit viel Polizei zu rechnen. Ich nahm den Achtzehndreißiger und stand alsbald im Hinterhof einer Mietkaserne. Ein Kind kam heraus gerannt und schon war ich drinnen. Im Briefkasten nichts Brauchbares. In der Bude dann eine schöne Nachttischlampe, ein Füllfederhalter und eine Jeans die mir gepasst hat.

Seitdem habe ich ungefähr zwei Dutzend Wohnungen kennen gelernt, deren Bewohner kurz zuvor das Zeitliche gesegnet haben. Das Grauen erfasst mich immer dann, wenn ich die Lebensgeschichte aus der Einrichtung, aus den Bildern an den Wänden, den Tagebüchern und Briefen die ich in Schreibtischen finde, erahnt habe. Häufig ist es so eine sinnlose Verschwendung menschlichen Lebens. Die Einsamkeit. Das Gefühl, verloren zu haben – oder zu sein. Auch Unerfüllte Liebe. Mir geht das dann sehr nahe.

Ich nehme immer das Bargeld mit. Es tröstet mich. Und Batterien, wenn ich sie finde. Und Kleinigkeiten, die ich brauchen kann. Manchmal auch ein Bild der Bedauernswerten. So schön sind sie im Leben. Und gefallen mir besser, als in Einzelteilen entlang dieser Bahnlinie.

Der Blick des Bärtigen ist jetzt gefasster. Natürlich sieht er das grüne Licht des Zugsignals. Von jetzt an dauert es noch etwa 45 Sekunden. Die letzte dreiviertel Minute seines Lebens. Ich höre das Sirren der Gleise. Ich blicke zum Tunnel. Ich habe seit Wochen keine Einnahmen mehr gehabt. Aber dieser hier wird mein neuer Kunde sein. Die Warnpfeife der Lokomotive schrillt. Er dreht sich um und springt. Die Lok schießt aus der Tunnelausfahrt.

Der übliche dumpfe Knall. Wenn ich Pech habe, muss ich eine ziemliche Strecke laufen, bis ich ihn finde. Doch dieses Mal kann ich schon nach kaum dreißig Metern einen Korpus erkennen. Natürlich habe ich mir angewöhnt, eine Taschenlampe bei mir zu tragen. Dann geht das viel schneller in der Dämmerung. Und ich muss schnell sein, denn die Polizei scheint Wind bekommen zu haben. Jedenfalls sind sie bei den letzten Vorfällen immer schon nach kurzer Zeit hier aufgetaucht. Aber heute habe ich wohl Glück. Das abgerissene Jackenstück in dem noch sein linker Arm hängt, hat eine Tasche im Futter. Und dort finde ich üblicherweise die Geldbeutel. Mit den Schlüsseln hingegen ist es oft schwieriger.

Doch was erzähle ich das alles hier eigentlich? Such' Dir gefälligst ein eigenes Revier. Das hier sind meine Kunden.
 

Vasco

Mitglied
Hallo Lapismont,
freut mich, dass Dir der böse Text gefällt. Ich war schon in der Versuchung die "Wohnungsbegehungen" ausführlicher aus der Sicht des Empathiegestörten zu beschreiben. Aber die Würze der Kürze wollte ich dann noch nicht aufgeben.

LG,
Vasco
 

Vasco

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Meine toten Kunden


Na, was ist jetzt? Springt er? Dieser bärtige Kerl dort. Steht leicht vorn übergebeugt. Der ist am Ende. Das sehe ich ihm an. Der finstere Geist des alten Eisenbahntunnels muss in ihn gefahren sein. Mit aufgerissenen Augen starrt er an mir vorbei in Richtung Zugsignal.

Ich habe in den wenigen Jahren, in denen ich diese Arbeit hier mache, einen Blick für Leute entwickelt, die sich vor einen Zug werfen werden. Man kann es ihnen ansehen. Es ist eine ideale Stelle hier, direkt hinter einem eingleisigen Tunnel unweit des Rangierbahnhofs. Ein Tunnel aus den Anfangszeiten der Eisenbahn. Heute ist die Strecke nicht mehr lukrativ, aber für Pendlerbahnen und Güterzüge noch geduldet. Der Zugführer hat keine Chance zu bremsen, wenn man sich unmittelbar hinter dieser Tunnelausfahrt auf die Schienen stellt. Man stellt seinen Wagen oben auf dem Übergang ab, geht eine schmale Treppe abwärts, folgt dem Fußweg ein paar Schritt, und schlägt sich kurz seitwärts durch die Büsche. Dann ist das Ende des Lebens in dieser Welt erreicht. Von hier noch ein kleiner Satz und man steht auf den Schienen.

Denn wen es bis hierher getrieben hat, den packt der ewig hungrige Tunnelgeist. Er dringt in den Unglücklichen ein und tötet das verbliebene restliche Leben ab. Die Opfer beenden dann zumeist selbst ihre Qualen. Ich warte stets geduldig, bis es soweit ist.

Im dem Bogen der Tunneleinfahrt ist die Jahreszahl 1885 in die Quadersteine eingehauen. Kaum noch zu entziffern. Darüber führt eine vor Jahren aufgegebene Straße. Der Straßenbelag darauf ist an zahlreichen Stellen aufgebrochen, Löwenzahn und andere Gewächse erobern sich hier ein Stück Natur zurück. Etwa in der Mitte der Brücke gibt es eine ummauerte Ausbuchtung mit Brüstung. Manchmal sehen die Leute erst eine Zeit lang hier herunter, bevor sie ihren letzten Sprung machen. Ein trostlos einsamer Blick ist das. Ein stilles Bahngleis, das vom Hauptnetz abzweigt und an einer niedergegangenen Schrebergartenkolonie vorbei in eine Kurve ins Nirgendwo eines Industriegebiets mündet. Hier gibt es keine Zeit mehr, keine Hast.

Der Kerl blickt weiter in meine Richtung. Sehen kann er mich nicht. Seine Lippen sind leicht geöffnet. Er atmet durch den Mund. Hat Angst. Sein Innerstes ist also noch nicht vollkommen erloschen, aber kurz vor dem Ende seiner Verzweiflung angekommen. Bald wird er die Erlösung suchen. Dieser hier ist aber noch nicht ganz so weit, und wird mich wohl noch einige Viertelstunden meiner Zeit kosten.

Diesen Platz hier hinter der alten Schrebergartenhütte ist der Ort, an dem ich auf meinen Einsatz warte. Ich bin auch selber schon drüben gestanden, auf dem Todesabsatz und habe zu dieser Hütte herübergesehen. Das Gelände ist zugewuchert von wilden Birken, Ahorn, Efeu und Brombeerhecken, von der Hütte kaum das Dach zu sehen. Einen Schemel, den ich in dieser Hütte fand, habe ich genau an dem Punkt aufgestellt, an dem ich die Todeskandidaten und das Zugsignal sehen kann. Und selber nicht gesehen werde.

Es gibt Menschen, die so verzweifelt sind, dass sie die Grenzsituation zwischen Leben und Tod suchen. Doch diese Leute erkenne ich rasch. Sie leiden sehr, doch ihr Selbstmitleid ist stärker. Die ziehen dann wieder zurück. Normalerweise stehlen sie mir nur meine Zeit. Doch manche kommen wieder.
Tatsächlich habe ich ein junges Mädchen hier gesehen, das zutiefst unglücklich schien. Jedenfalls heulte es. Da war mir schon klar, dass noch zu viel Leben in diesem Wesen steckte. Es würde nicht springen. Und so war es dann auch. Aber zwei Tage später ist sie wieder hier unterhalb der Brücke aufgetaucht. Nicht alleine allerdings. Ein junger Mann war an ihrer Seite. Beide waren sehr still und bedächtig. Ganz ruhig und überlegt. Innerlich völlig ausgebrannt. Menschliche Ruinen.
Der Verstand arbeitet noch bis zu letzten Sekunde, aber die Seele ist schon auf dem Weg ins Jenseits. Der Tunnelgeist hatte hier leichtes Spiel.

Das war vor drei Jahren. Ein paar Tage zuvor hatte ich diese abgelegene Schrebergartenhütte hier aufgebrochen. Nicht, dass ich erwartet hätte, etwas von Wert hier zu finden. Nein, ich war um ein kostenloses Nachtlager verlegen. Es gibt so Zeiten, da bin ich völlig blank. Da habe ich dann leider nur wenige Freunde. Frauen noch weniger. Und so eine Zeit war das im August. Ich mache also diesen Bruch und habe mich für ein paar Tage in der Hütte einquartiert. Gehörte wohl einem ehemaligen Eisenbahner. Jedenfalls war das leicht aus dem Inventar und den Bildern an den Wänden zu schließen. Warum er in den drei Jahren, die ich hier nun wohne, noch nie aufgetaucht ist, weiß ich nicht. Vielleicht lebt er nicht mehr. Einsam verstorben, keine Nachkommen. Niemand weiß etwas von seinem verlotterten Garten und dem kleinen Haus beim alten Eisenbahntunnel. Errichtet in glücklicheren Tagen.
Vielleicht hat ihn auch eines Tages der Tunnelgeist gepackt. Ich weiß es nicht. Aber ich bin froh, dass ich Unterkunft und Einkommen hier gefunden habe.

Nun, an jenem Augustabend war ich gerade von einer wenig erfolgreichen Tour zurückgekehrt, als das erwähnte Pärchen langsam die Treppe herabgestiegen kam. Kühlen Blicks gingen sie unbeirrt auf die erwähnte Stelle zu. Sie hielten einander die Hände und ich erkannte zweifelsfrei jenes Mädchen, das zwei Tage zuvor hier bereits weinend gestanden hatte. Ihr Freund zückt ein Messer und sticht ihr in die Herzgegend. Sie klappt sofort zusammen. Ich natürlich sofort die Hand am Stiefelschaft. Dort habe ich ebenfalls ein Messer. Man weiß ja nie, es gibt so viel Gesindel überall.
Ein leises Sirren der Schienen war zu vernehmen und das Zugsignal zeigte Grün. Das Sirren wurde unvermittelt lauter, der obligatorische Pfiff der Lok bei Einfahrt in den Tunnel ertönte.
Er sprang.

Es war fürchterlich, und ich will gar nicht im Einzelnen berichten, welche Gliedmaßen ich wo gefunden habe. Mir war nur klar, dass ich mich schleunigst verdünnisieren musste. Als ich zur Treppe hastete, fiel mein Blick zuerst auf einen Schlüsselbund, dann auf einen Geldbeutel. Beides musste dem Armen beim Aufprall aus den Taschen geschleudert worden sein. Vielleicht war das damals nicht meine beste Idee, aber ich nahm seine Dinge an mich. Ich fand 150 Kröten und seinen Ausweis darin.

Kühl überlegt war es nun so, dass ich da eine Adresse hatte; und einen Schlüssel dazu. Ich musste mich beeilen, denn natürlich würde der Lokführer Meldung machen und wenn sie dann auch noch die Leiche des Mädchens fanden, dann war mit viel Polizei zu rechnen. Ich nahm den Achtzehndreißiger und stand alsbald im Hinterhof einer Mietkaserne. Ein Kind kam heraus gerannt und schon war ich drinnen. Im Briefkasten nichts Brauchbares. In der Bude dann eine schöne Nachttischlampe, ein Füllfederhalter und eine Jeans die mir gepasst hat.

Seitdem habe ich ungefähr zwei Dutzend Wohnungen kennen gelernt, deren Bewohner kurz zuvor das Zeitliche gesegnet haben. Das Grauen erfasst mich immer dann, wenn ich die Lebensgeschichte aus der Einrichtung, aus den Bildern an den Wänden, den Tagebüchern und Briefen die ich in Schreibtischen finde, erahnt habe. Häufig ist es so eine sinnlose Verschwendung menschlichen Lebens. Die Einsamkeit. Das Gefühl, verloren zu haben – oder zu sein. Auch Unerfüllte Liebe. Mir geht das dann sehr nahe.

Ich nehme immer das Bargeld mit. Es tröstet mich. Und Batterien, wenn ich sie finde. Und Kleinigkeiten, die ich brauchen kann. Manchmal auch ein Bild der Bedauernswerten. So schön sind sie im Leben. Und gefallen mir besser, als in Einzelteilen entlang dieser Bahnlinie.

Der Blick des Bärtigen ist jetzt gefasster. Natürlich sieht er das grüne Licht des Zugsignals. Von jetzt an dauert es noch etwa 45 Sekunden. Die letzte dreiviertel Minute seines Lebens. Ich höre das Sirren der Gleise. Ich blicke zum Tunnel. Ich habe seit Wochen keine Einnahmen mehr gehabt. Aber dieser hier wird mein neuer Kunde sein. Die Warnpfeife der Lokomotive schrillt. Er dreht sich um und springt. Die Lok schießt aus der Tunnelausfahrt.

Der übliche dumpfe Knall. Wenn ich Pech habe, muss ich eine ziemliche Strecke laufen, bis ich ihn finde. Doch dieses Mal kann ich schon nach kaum dreißig Metern einen Korpus erkennen. Natürlich habe ich mir angewöhnt, eine Taschenlampe bei mir zu tragen. Dann geht das viel schneller in der Dämmerung. Und ich muss schnell sein, denn die Polizei scheint Wind bekommen zu haben. Jedenfalls sind sie bei den letzten Vorfällen immer schon nach kurzer Zeit hier aufgetaucht. Aber heute habe ich wohl Glück. Das abgerissene Jackenstück in dem noch sein linker Arm hängt, hat eine Tasche im Futter. Und dort finde ich üblicherweise die Geldbeutel. Mit den Schlüsseln hingegen ist es oft schwieriger.

Doch was erzähle ich das alles hier eigentlich? Such' Dir gefälligst ein eigenes Revier. Das hier sind meine Kunden.
 
Hallo Vasco,

eine sehr intensive, ja böse Geschichte, der eine wirklich interessante Idee zu Grunde liegt. Ich würde es auch nicht ausführlicher machen (ehr noch ein wenig knapper, aber das ist ja immer Geschmackssache).
Toll! Hat mir sehr gefallen!
 
A

arra

Gast
Hat mir auch sehr gut gefallen.
Kreativität macht auch vor dem Tod nicht Halt.
Sie nutzt ihn für ihre eigenen Zwecke.

LG
arra
 



 
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