Melanie

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Ich heiße Melanie, bin weiblich und noch nicht volljährig. Mit meinen Eltern und Großeltern bewohne ich ein Haus, das über mehrere Zimmer verfügt. Eins von diesen ist meins. Das Gebäude steht in einem Dorf, das zur Bundesrepublik Deutschland gehört. Es entstand in Zusammenarbeit meines Vaters mit meinem Großvater, unter Einbeziehung meiner Mama und meiner Oma. Weitere Hilfskräfte waren Handwerker, die nach ihrem Feierabend mitwirkten und dafür zusätzlich entlohnt wurden. Die Finanzlage meiner Eltern war bald so geschwächt, dass sie einige Jahre von einem gemeinsamen Urlaub nur träumten. Ihr Sinnen war darauf gerichtet, den persönlichen Wohlstand zu mehren und irgendwann einen Trabant statt einen Kinderwagen zu fahren. Als das Haus errichtet war, gingen sie daran, mich zu schaffen. Beabsichtigt war eigentlich ein Knabe, für den schon die Babysachen gekauft waren. Auch sein Vorname war schon erdacht.
Als aber ich erschien, bekam mein Vater melancholische Anwandlungen. So entstand mein Vorname.
Über die karge Zeit meiner Eltern weiß ich wenig. Was ich weiß, weiß ich vom Hören-Sagen. Mein Vater lobt sie als Diktatur des Proletariats, mein in München ansässiger Onkel Alois als Diktatur des Diktators Honecker.
Ich weiß, dass Hitler ein Diktator war und meine Deutschlehrerin eine Diktatorin ist, weil sie Diktate diktiert.
Vielleicht hatten sich Honecker und Hitler die Macht geteilt. Deutschland war ja in zwei Teile zersplittert. Auf unserer Seite befand sich die DDR und auf der Alois-Seite der Goldene Westen. In ihm sollte es Bananen in Hülle und Fülle geben. Wenn Onkel Alois in Begleitung seiner Gattin Zenzi meine Eltern besuchte, brachte er einige dieser gebogenen Früchte mit. Ich kann mich daran nicht erinnern, weil ich noch nicht geboren war.
Wenn ich hin und wieder eine Banane verzehre, dann deshalb, weil ihre Vitamine vorzeitiges Altern verhindern helfen. Ansonsten verabscheue ich Bananen, weil sie so schnell schwarz und matschig werden. Unbegreiflich ist mir, dass man wegen dieser Südfrüchte eine hohe Mauer in Berlin zerstörte und die DDR zugrunde richtete. Bananen sind aus meiner Sicht Grundnahrungsmittel für Affen.
Mein nichtdeutscher Freund Örkan benutzte einmal Bananenschalen, um Personen zu Fall zu bringen. Das war als Scherz gedacht. Als man ihn als Verursacher ermittelt hatte, brach ein Sturm der Entrüstung los. Die Mehrheit der Dorfbevölkerung nahm Aufstellung vor der Unterkunft der Örkan-Eltern. Lautstark wurde die Ausweisung der türkischen Einwanderer gefordert. Zwei Jugendliche mit polierter Schädeldecke riefen: „Deutschland den Deutschen!“ und „Ausländer raus!“ Sie erhielten zahlreichen Beifall. Das ermutigte sie, mit Steinen nach dem Haus zu werfen. Dass dabei zwei Fensterscheiben zu Bruch gingen, störte sie nicht.
Mein Vater verlangte die sofortige Einstellung meines Liebesverhältnisses mit Örkan. Ich würde irgendwann ein Kopftuch tragen müssen, begründete er seine Forderung. Ich wies ihn darauf hin, dass Örkan kein Kopftuch trage. Er blieb unerbittlich, und so bin ich seit einiger Zeit wieder Single.
Es werden ja noch weitere Ausländer in Deutschland eintreffen, tröstete ich mich. Vielleicht verliebe ich mich dann in einen Afro-Amerikaner. Als ich meinem Vater das trotzig mitteilte, bekam er einen seiner berüchtigten marxistisch-leninistischen Wutanfälle. Zornig umkrallte er den Gipskopf Goethes, der auf seinem Schreibtisch steht und von seiner Intelligenz zeugen soll. Ich glaubte, er wolle ihn mir an den Kopf werfen. Das tat er aus väterlichem Verantwortungsbewusstsein nicht, sondern brüllte, ich solle mich nach einem klassenbewussten Deutschen, notfalls einem sowjetischen Komsomolzen umsehen, mit dem ich eine unverbrüchliche Freundschaft eingehen könnte. Liebe würde sich später von selbst entwickeln.
Ich linderte seinen Zorn mit dem Hinweis, dass in keiner Klasse unserer Schule ein sujetischer Konsumbolze sitze. Es seien 75 % Einheimische und 20% Unheimische.
Er stutzte, rechnete kurz und sagte dann, dass ich 5% unterschlagen habe. Die setzen sich aus Lehrern und pädagogischen Hilfskräften wie Reinigungspersonal und Hausmeister zusammen, machte ich die 100 voll. Er schloss seinen Wutanfall mit dem Satz „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ Ich bin also gezwungen, mich nach einem Proletarier umzusehen.
 



 
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