Memoiren eines Reimdichters - Teil 2

NewDawnK

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Tante Martha

Tante Martha war ein Engel. An jedem dritten Samstag im Monat kam sie zu Besuch. „Martha, du bist ein Engel.“ sagte unsere Mutter dann und verschwand für ein paar Stunden allein in der Stadt. Wenn sie heimkam, war sie stets gut gelaunt. Mal hatte sie eine neue Frisur, mal steckte ein neues Kleid oder ein neues Paar Schuhe in ihrer Einkaufstasche.

An den Tante-Martha-Samstagen im Winter bauten wir Schneemänner und Schneedrachen, trugen wilde Schneeballschlachten aus und rodelten mit unseren Schlitten die Kuhweide von Bauer Schulte hinunter. Abends saßen wir mit roten Nasen und glühenden Wangen eng aneinander gekuschelt auf der Bank neben dem Kachelofen, während uns Tante Martha selbst geschriebene Gedichte vorlas.

In den Sommermonaten fuhren wir hinaus an den Badesee. Am Ufer breitete die Tante eine rot karierte Picknickdecke aus, setzte ihren Strohhut auf und betete mit geschlossenen Augen und einem Lächeln zwischen den Ohren die Sonne an, während wir Kinder uns im Wasser vergnügten. Nach dem Abrubbeln gab es selbst gebackene Plätzchen und Kakao aus einer großen, silbernen Thermoskanne.

An einem dritten Samstag im August warteten wir vergebens auf Tante Martha. Auch die folgenden Samstage verstrichen, ohne dass sie sich blicken ließ. Wenn wir von ihr sprachen, seufzte Mutter nur „Ach, das arme Engelchen.“ Einige Wochen später besuchten wir die Tante im Krankenhaus. Sie sah noch viel dünner und klappriger aus als sonst. Ihre Wangen waren blass und eingefallen, graue Ringe hatten sich um ihre Augen gelegt. Aber das Augenzwinkern, mit dem sie uns Kinder begrüßte, war noch immer dasselbe.

Irgendwann im Winter stellte Mutter fest: „Es wäre wirklich besser für Martha, wenn sie jetzt gehen könnte.“ Und so geschah es. Mitte Januar ging Tante Martha fort. Niemand konnte mir sagen, wohin genau sie gegangen war. „Es geht ihr gut, da wo sie jetzt ist, bei den anderen Engeln.“ sagte unsere Mutter leise, aber bestimmt. Dann schwieg sie, und ich fragte nicht weiter.

Am folgenden Wochenende feierten wir in der kleinen Kapelle am Friedhof die Abreise unserer Tante in einer großen Zeremonie mit vielen bunten Blumen und Tante Marthas Lieblingsmusik. Die ganze Verwandtschaft hatte sich an diesem Tag versammelt. Wir sangen feierliche Lieder und beteten gemeinsam für ihr Wohlergehen. Es war sehr schade, dass sie nicht persönlich anwesend sein konnte. Die Feier hätte ihr bestimmt gefallen, vor allem die Blumen. Ich versuchte mir jede kleine Einzelheit gut einzuprägen, damit ich ihr später alles genau berichten konnte. Dass viele der Gäste traurig waren und manche sogar weinten, konnte ich gut verstehen. Auch mir fehlte sie. Aber ich freute mich schon auf die Ansichtskarten, die sie uns schicken würde.

Als schließlich „Non, je ne regrette rien“ aus dem Kassettenrekorder ertönte, nahm mich Tante Marlies fest an die Hand. Leise verließen wir die Kapelle und zusammen mit Tante Margot marschierten wir auf dem schmalen Fußweg an der Landstraße entlang hinunter ins Dorf, um die Kaffeetafel für die Gäste vorzubereiten.
Der Weg wurde mir arg lang, und so fragte ich Tante Marlies, die schweigend neben mir ging, auf halber Strecke:
„Duuhuu, Tante Marlies, warum seid ihr heute alle so pechschwarz angezogen?“
„Weil heute keine Modenschau ist“ erwiderte sie, und ich sah, wie eine Träne auf einen Knopf ihres schwarzen Mantels tropfte und still zersprang.
„Und warum weinst du jetzt?“
Tante Marlies blieb stumm, und Tante Margot, die vor uns gegangen war, drehte sich zu mir um.
„Weißt du, deine Tante ist nahe am Wasser gebaut, deshalb.“
„Nahe am Wasser? Hast du am Badesee ein Haus gebaut?“ fragte ich staunend.
Tante Margot lachte, und ihre Schwester sog die raue Winterluft geräuschvoll ein.
„Ach, ihr beide könnt mich mal am Abend besuchen.“
„Am Abend? Heute Abend? Nimmst du mich im Auto mit?“ fragte ich und freute mich schon.
„Nein, nicht heute, vielleicht am Sankt-Nimmerleins-Tag, da ist das Badewetter besser.“
Nun lachten die beiden Schwestern ihr Schwesternlachen, und für einen Augenblick war es so, als ob auch Tante Martha lachte. Deshalb fragte ich nicht weiter, nahm mir aber fest vor, den Namenstag von Sankt Nimmerlein in Mutters Heiligenkalender nachzuschlagen.

Als alle Gäste gegangen waren, notierte ich in meinem Tagebuch:

27. Januar 1968

Tante Martha reist ans Meer
Den weißen Wolken hinterher.
Heute Nacht liegt sie am Strand
Bis zum Hals im warmen Sand.
Und die Engel tanzen Reigen,
Dazu flüstern Engelsgeigen,
Und es singt die Engelschar:
Martha, du bist wunderbar.

Opa hat gesagt, wenn Engel reisen, ist das Wetter immer schön. Heute war der Himmel blitzeblau!


In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen, denn nun hatte auch mich das Reisefieber erwischt. Ich malte mir aus, wie Tante Martha in ihrem Bikini und mit Badelatschen an den Füßen am Strand von Honolulu die rot karierte Picknickdecke ausbreitete, ihr blau geblümtes Sonntagsgeschirr aus dem Koffer packte und mit ihren Engelfreundinnen Kaffee trank und Anisplätzchen aß. Auf dem Kopf trug sie ihren großen, gelben Strohhut, der von der langen Reise leicht ramponiert war. Nach dem Kaffeetrinken beteten alle Engelfrauen gemeinsam die Sonne an.
Vielleicht konnte ich sie eines Tages am Strand besuchen? Vielleicht sogar an einem schönen, sonnigen Sankt-Nimmerleins-Tag? Dieser Gedanke tröstete mich.

Erst viele Jahre später erfuhr ich, dass echte Engel grundsätzlich ohne Gepäck reisen und auch nie eine Urlaubsadresse hinterlassen. Tante Martha hat keine einzige Ansichtskarte geschrieben, und ihre Adresse kannten wir auch nicht. Somit stand fest, dass wir einen echten Engel in unserer Familie hatten.

Meinen weiteren Tagebuchaufzeichnungen zufolge blieb das Wetter in diesem Jahr bis weit in den März hinein schön. Meist war es sonnig, heiter und für die Jahreszeit sehr mild.



Disclaimer:
Dieser Text ist Teil eines fiktiven Tagebuches (siehe Forentext). Alle geschilderten Handlungen und Personen, inklusive der Hauptperson, wurden von mir frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind rein zufällig und ganz sicher nicht beabsichtigt. Ich bitte deshalb höflichst darum, von Beileidsbekundungen jedweder Art abzusehen. Anmerkungen zum Text nehme ich gerne entgegen.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Auch diesen Teil habe ich wieder gern gelesen, zeigt er doch, wie Kinder Bemerkungen und Sprüche von Erwachsenen verstehen können. Oder nicht verstehen.
Edith Piaf auf einer Beerdigung ist ungewöhnlich. Gab es denn auch Kirchenlieder?
;-)
Es war sicher Tante Marthas Wunsch gewesen.

LG Doc, jetzt in Tanten-Erinnerung schwelgend
 

NewDawnK

Mitglied
Edith Piaf auf einer Beerdigung ist ungewöhnlich. Gab es denn auch Kirchenlieder?
;-)
Woher soll ich das denn wissen? Sind das etwa meine Memoiren? ;)

Ernsthaft: Von den Trauerlieder, die lt. Google heutzutage auf Beerdigungen gespielt werde, war dies das einzige, das in etwa in die 1960er passte. Vermutlich bekam man damals auf Beerdigungen ausschließlich Kirchenlieder zu hören. Ich werde das mal recherchieren. Danke für den Tipp.
 



 
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