Memoiren eines Reimdichters

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NewDawnK

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Teil 1 – Die Liebe unserer Mutter

Mutter war eine Frau mit Prinzipien. Bei ihr kamen nur Lebensmittel auf den Tisch, auf die sich unsere Mutter ihren eigenen Reim machen konnte. Alles andere lehnte sie kategorisch ab.

Seit ich denken kann, gab es bei uns Kartoffeln, und die reimten sich auf nichts - außer auf Kartoffeln. Mutter war eine ausgezeichnete Kartoffelköchin. Sie kochte abwechselungsreich und reichlich. An einem Tag in der Woche gab es Bratkartoffeln, an einem anderen Salzkartoffeln, dann wieder Ofenkartoffeln oder Stampfkartoffeln. An den Sonntagen vor Weihnachten backte sie, zur Freude von uns Kindern, kleine süße Marzipankartoffeln. Und wenn die Küche einmal kalt blieb, kamen entweder Salat aus Kartoffeln oder gar keine Kartoffeln auf den Tisch.

An einem Freitag, ich muss so 9 oder 10 Jahre alt gewesen sein, war alles anders als sonst. Freitags war gewöhnlich Tag der Pellkartoffeln. Ich kam wie immer gegen halb drei von der Schule heim, meine jüngeren Geschwistern hatten schon gegessen und tollten im Garten herum. Doch heute war irgendetwas anders als sonst. Schon an der Tür hörte ich Mutter fröhlich summen, was nicht ihre Art war, zumindest nicht an einem Pellkartoffel-Freitag, denn das Pellen von Kartoffeln für eine 11-köpfige Familie war wahrlich keine vergnügliche Angelegenheit.

Wie an jedem Schultag zog ich meine Jacke aus, hängte sie auf Bügel Nr. 3 an die Garderobe, streifte die Straßenschuhe ab, stellte sie neben Vaters Hausschuhe in den Schuhschrank, schlüpfte in meine Alltagspantoffeln und brachte die Schultasche in mein Zimmer im Obergeschoss. Im Bad wusch ich mir eilig die Hände und das Gesicht und strich vor dem Spiegel die Haare sorgfältig mit Spucke glatt, bevor ich die Treppe hinunter ins Esszimmer ging.

Und da sah ich ES. Auf einem Glasteller in der Mitte des Tisches lag ein hellgelbes päckchenförmiges Etwas. Mutter saß auf ihrem Stuhl und kicherte wie sonst nur Marianne Vollmer aus der zweiten Reihe im Biologieunterricht kichern konnte. In diesem Moment fand ich meine Mutter doof. So richtig doof. Doof, wie nur Söhne ihre Mütter doof finden können. Aber ich sagte nichts.
Ich inspizierte das Päckchen aus nächster Nähe und erkannte, dass es dem Inhalt der Butterdose, die bei Oma in den Sommerferien auf dem Frühstückstisch gestanden hatte, zum Verwechseln ähnlich sah.

Ich schaute unsere Mutter an, schaute von Mutter zur Butter und wieder zurück. Sie lächelte. „Lass es dir schmecken, mein Großer.“ Dann nickte sie mir aufmunternd zu, und ich verstand. Ich setzte mich, piekte mit der Gabel tief in eine der heißen, bis auf drei kleine Augen makellos gepellten Kartoffeln auf dem Teller vor mir, balancierte Gabel samt Kartoffelkopf vorsichtig in Richtung Butterpäckchen und strich ganz langsam an der schmelzenden Butter entlang.
Der warme Butterduft hatte den Raum erfüllt, und als die erste Kartoffel, besser gesagt die erste Butter-Pellkartoffel à la Mutter meines Lebens, in meinem Mund gelandet war und die Geschmacksknospen auf meiner Zunge zum mittäglichen Dienst antraten, kam die Offenbarung: Es schmeckte unvergleichlich gut! Ich konnte mich nicht erinnern, jemals etwas so Gutes gegessen zu haben, nicht einmal bei Oma.

Erst Jahre später, nachdem mich meine damalige Verlobte und jetzige Ehefrau und Mutter meiner Kinder in die kulinarischen Geheimnisse der Würzmittel Salz, Pfeffer und Maggi eingeweiht hatte, begriff ich: Unsere Mutter hatte immer wieder Mittel und Wege gefunden, wie sie ihren eigenen Grundsätzen treu bleiben und uns Kinder glücklich machen konnte.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Sehr schön geschilderte Erinnerungen - man sieht förmlich die dampfende Butterkartoffel vor sich.
Und schmeckt sie.
Bin gespannt auf die Fortsetzungen!
LG Doc
 

HelenaSofie

Mitglied
Herrlich, sehr gern gelesen. Ich konnte mich, durch deine sehr anschauliche Beschreibung, leicht als Beobachter in die Situaion hineindenken.

Liebe Grüße
HelenaSofie
 

NewDawnK

Mitglied
Teil 1 – Die Liebe unserer Mutter

Mutter war eine Frau mit Prinzipien. Bei ihr kamen nur Lebensmittel auf den Tisch, auf die sich unsere Mutter ihren eigenen Reim machen konnte. Alles andere lehnte sie kategorisch ab.

Seit ich denken kann, gab es bei uns Kartoffeln, und die reimten sich auf nichts - außer auf Kartoffeln. Mutter war eine ausgezeichnete Kartoffelköchin. Sie kochte abwechselungsreich und reichlich. An einem Tag in der Woche gab es Bratkartoffeln, an einem anderen Salzkartoffeln, dann wieder Ofenkartoffeln oder Stampfkartoffeln. An den Sonntagen vor Weihnachten backte sie, zur Freude von uns Kindern, kleine süße Marzipankartoffeln. Und wenn die Küche einmal kalt blieb, kamen entweder Salat aus Kartoffeln oder gar keine Kartoffeln auf den Tisch.

An einem Freitag, ich muss so 9 oder 10 Jahre alt gewesen sein, war alles anders als sonst. Freitags war gewöhnlich Tag der Pellkartoffeln. Ich kam wie immer gegen halb drei von der Schule heim, meine jüngeren Geschwistern hatten schon gegessen und tollten im Garten herum. Doch heute war irgendetwas anders als sonst. Schon an der Tür hörte ich Mutter fröhlich summen, was nicht ihre Art war, zumindest nicht an einem Pellkartoffel-Freitag, denn das Pellen von Kartoffeln für eine 11-köpfige Familie war wahrlich keine vergnügliche Angelegenheit.

Wie an jedem Schultag zog ich meine Jacke aus, hängte sie auf Bügel Nr. 3 an die Garderobe, streifte die Straßenschuhe ab, stellte sie neben Vaters Hausschuhe in den Schuhschrank, schlüpfte in meine Alltagspantoffeln und brachte die Schultasche in mein Zimmer im Obergeschoss. Im Bad wusch ich mir eilig die Hände und das Gesicht und strich vor dem Spiegel die Haare sorgfältig mit Spucke glatt, bevor ich die Treppe hinunter ins Esszimmer ging.

Und da sah ich ES. Auf einem Glasteller in der Mitte des Tisches lag ein hellgelbes päckchenförmiges Etwas. Mutter saß auf ihrem Stuhl und kicherte wie sonst nur Marianne Vollmer aus der zweiten Reihe im Biologieunterricht kichern konnte. In diesem Moment fand ich meine Mutter doof. So richtig doof. Doof, wie nur Söhne ihre Mütter doof finden können. Aber ich sagte nichts.
Ich inspizierte das Päckchen aus nächster Nähe und erkannte, dass es dem Inhalt der Butterdose, die bei Oma in den Sommerferien auf dem Frühstückstisch gestanden hatte, zum Verwechseln ähnlich sah.

Ich schaute unsere Mutter an, schaute von Mutter zur Butter und wieder zurück. Sie lächelte. „Lass es dir schmecken, mein Großer.“ Dann nickte sie mir aufmunternd zu, und ich verstand. Ich setzte mich, piekte mit der Gabel tief in eine der heißen, bis auf drei kleine Augen makellos gepellten Kartoffeln auf dem Teller vor mir, balancierte Gabel samt Kartoffelkopf vorsichtig in Richtung Butterpäckchen und strich ganz langsam an der schmelzenden Butter entlang.
Der warme Butterduft hatte den Raum erfüllt, und als die erste Kartoffel, besser gesagt die erste Butter-Pellkartoffel à la Mutter meines Lebens, in meinem Mund gelandet war und die Geschmacksknospen auf meiner Zunge zum mittäglichen Dienst antraten, kam die Offenbarung: Es schmeckte unvergleichlich gut! Ich konnte mich nicht erinnern, jemals etwas so Gutes gegessen zu haben, nicht einmal bei Oma.

Erst Jahre später, nachdem mich meine damalige Verlobte und jetzige Ehefrau und Mutter meiner Kinder in die kulinarischen Geheimnisse der Würzmittel Salz, Pfeffer und Maggi eingeweiht hatte, begriff ich: Unsere Mutter hatte immer wieder Mittel und Wege gefunden, wie sie ihren eigenen Grundsätzen treu bleiben und uns Kinder glücklich machen konnte.



Disclaimer:
Dieser Text ist Teil eines fiktiven Tagebuches (siehe Forentext). Alle geschilderten Handlungen und Personen, inklusive der Hauptperson, wurden von mir frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind rein zufällig und ganz sicher nicht beabsichtigt. Ich bitte deshalb höflichst darum, von Beileidsbekundungen jedweder Art abzusehen. Anmerkungen zum Text nehme ich gerne entgegen.
 



 
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