Menetekel (1. Fassung)

5,00 Stern(e) 1 Stimme

Markus Veith

Mitglied
Menetekel

Die Haltestellenansagen kommen mir vor wie Glockenschläge. Für die Stunden, die mir noch bleiben. Vor dem Gang zum Schaffott.
Diese Stunde läutet Ritterstraße.
Mein Rucksack wiegt wie ein Beutel Wackersteine. Zu viele Wörter drin. Das letzte Durchlesen des Textes hat bis auf Verzweiflung wenig gebracht: Versäumte Korrekturen und Streichungen, i-Männchen-Rechtschreibfehler. Vor fast vier Jahren geschrieben. Seitdem schubladenverstaubt. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich noch genommen werden konnte. "Warum hast du noch nichts eingereicht? Du bist doch noch keine dreißig. Diese Woche - allerletzter Aufschub. Sieh zu!!"
Diese Stunde klingt nach Westentor.
Was kann man mit einer 1 und drei Nullen alles anfangen? Sparen, klar. Ich kann davon auch über einen Monat lang mein Leben leben. Mit allem drum und dran. Ohne Scheiß, das geht. Wenn der regelmäßige Gang zum Thrombozythenverkauf weiter eingehalten wird. - Drei Nullen. Ein warmer Regen für das leere Kontenbecken. Und doch nur ein Tropfen auf dem brenzligen Schuldenstein.
Meine letzte Stunde singt mir ein Klagenlied. "Kampstraße."
Im letzten Jahr war die Straße an diesem Tag naß vom Regen, und die Menschen wurden beschrieben mit reich bezahlten Worten, die sie nicht verstanden, weil ihren Ohren das Hirn im Weg war, angesichts hochgradig prominenter Literatur.
Drei-Zeilen-Satz. Zehn Substantive, zu viele Adjektive. Ich weiß um meine Schwächen. Diesen Durchschnitt hält die Großzahl meiner alten Texte. Ein Text von vier nominierten, von denen aber nur einer gewinnt. Geschickt eingefädelt: Drei von vier Autoren schenken Lesungen. Das ist billiges Programm. Das ist LesArt 2001. Nachwuchspreis ‚Junger Autoren', Altersgrenze 30. Hauptsponsor S-Punkt, rot. Lesung der Nachwuchs-Texte in der Volkshochschule. Schön abseits vom Geschehen des großen Promi-Ringelreigen: Preisverleihung erst später am Abend in der Hauptfiliale, wo auch die wirklich wichtigen und gekonnten Lesungen stattfinden. Wo Heidenreich liest. ‚Brigitte'-Kolumnistin. Autorin wirklich wichtiger, bekannt-illustrer Literatur. ‚Darf's ein bißchen mehr sein? Else Stratmann wiegt ab.' - Aber auch ‚Der Welt im Rücken'; so viel Zeit muß für das Geld schon drin sein.
Ich versuche, mir nichts vorzumachen. Mir keine Worte zurecht zu legen für den Fall, dass ich diese schöne Drei-Nullen-1 bekommen würde. Mit Würde hat das hier nichts zu tun: Nachwuchs hat jung zu sein und ich bin bald dreißig. Nachwuchs bedeutet öffentlich, dass der Preisträger zur Schule gehen und zur Scheckübergabe ein schüchternes ‚Danke' hinbekommen soll, aber bitte nicht mehr. Das will die Öffentlichkeit sehen. Man darf ihr nur nicht das Gefühl geben, für ein abgekartetes Spiel bezahlt zu haben. Welch Glück, dass sich dieses Jahr ein Traumkandidat bietet, der inzwischen auch woanders Ehrung heimsen durfte. Und auch noch zu Recht. Das ist das Schöne.
Der Preis steht von vornherein fest. Keine Experimente. Möglich, dass du mal möglich warst, alter Schreiberling, aber mach dir doch nichts vor: Hier geht es nicht um Nachwuchsförderung, hier geht es um Promotion.
Ich weiß, dass ich ein Sockenloch in meinen Schuhen breiter laufe. Ich weiß um den Wert von Leben. Glaube hält aufrecht. Manchmal ist er das Einzige, was noch aufrecht hält. Der Glaube nach den kleinen, süßen Erfolgen zwischendurch. Glaube an eine Besserung der Gezeiten. Auf ein Ende der Ebbe. Auf daß Eltern nicht ewig das Futter des Künstlerkuckuckkindes bezahlen müssen. Dieser Glaube hat seltsame Folgeerscheinungen. Auf der Straße halte ich nach Pfennigen Ausschau. Alle paar Stunden ein positives Omen. Ich beginne wieder zu beten: ‚Gott, selbst wenn Gerechtigkeit hier der Deal einer Hure sein sollte: Laß mich gewinnen und ich werde teilen. Nicht brüderlich - das kann keiner von mir verlangen - aber immerhin. Wenn du Gerechtigkeit geschehen lassen willst, gelobe ich zu teilen!!'
Das Schlimmste ist, wenn die Konkurrenz einem sympathisch ist. Wenn man bereit ist den Sieg ohne Grimm zu gönnen. Nach den Pressephotos gehe ich mit ihnen vor die Tür. Zum Rauchen. Literatur-Small-talk. "Dein letzter Text in der DoPen. Hat mir gefallen." "Danke." Ich äußere verhalten meine Meinung zu der ganzen Farce. Bin ja ein alter Hase. Alte Hasen werden geschlachtet. Die Konkurrenz strotzt vor Unbeteiligung. Der Gewinn geht am Arsch vorbei. Ich bekunde Bewunderung. Horche dabei in mich. Merke voller Schreck, dass ich es ernst meine.
Die Lesung beginnt. Naturmineralwasser wird gereicht. Exquisit. ‚Enteisent'. Fühle mich trotzdem wie ein Stahlträger. Vor jedem Beitrag werden die Küken-Autoren vorgestellt. In alphabetischer Reihenfolge. Um vor dem Publikum (, das nichts zu beurteilen hat,) keine voreilige Wertung über den (längst feststehenden) Preisträger zu riskieren. Das ich nicht lache.
Die Konkurrenz hebt sich nun deutlicher hervor: Jugendförderpreise. Anthologien. Wettbewerbsiege. Preise sind automatisch Güte. Ich leide stumm unter Nikotinschmacht und bekomme ein schlechtes Gewissen, daß ich mir Notizen mache. ‚Mein letzter Rest Ruhe beginnt zu flimmern.' ‚Unendliche Zeilenpausen. - Alte Frauen hätten Zeit, eine Insel zu bevölkern.' ‚Betonung, bis die Ohren kotzen. Es lebe die Akzentuierung!' bete ich mir Schlechtigkeiten vor. Miese Stimmung erleichtert vieles.
Dann bin ich endlich dran. Als letzter, was ja bloß keine Wertung ist. Mit V-Namen ist man eben am Aufmerksamkeitsarsch.
Gut gemeinte Vorstellung. Ohne Preise, ohne Siege. Ein paar Leistungen, die nicht zählen, keine nachweisbare Güte bescheinigen. Noch ein Schluck Anti-Stahl und anfangen. Bestes geben. Spontan Adjektive aussparen und Fehler überlesen. Ab und zu ins Publikum blicken. Ich kann mir nicht mehr helfen. Ich wittere Geringschätzung. Als sei hinter meinem Rücken eine Hand aus dem Nichts aufgetaucht und habe mit dem Finger an die Wand geschrieben. ‚Gewogen und für zu leicht befunden.'
"Danke." Applaus. Nur kurz, da die Hintern wehtun.
Noch zwei Stunden bis zur Preisverleihung. Zeit genug, sich mit Bier die Wunden zu kühlen.
Die ungeliebte Szene lästert. Literarische Enfants terribles, deren Talent man aber nunmal nicht absprechen kann. Querdenker. Besoffenheitsleser. Psychotherapie gibt Pluspunkte. Realität muß aus Zeilen direkt ins Hirn prügeln. - Ich werde respektiert.
Natürlich hätte ich recht. Glückwünsche, dem S-Punkt eine Lesung geschenkt zu haben. (STICH!) Sei doch alles schon vorher klar. Wisse doch jeder. Der Bube gewinnt. Jede Wette. Aber wenn es jemand verdient habe, dann er. (STICH!) "Ja", murmle ich in mein Glas. "Er ist verdammt gut." Ich nicke, weil es stimmt. Ärgere mich, dass ich ihn leiden kann, dass ich seine Geschichten nicht nur mag, sondern als begnadet einstufe.
Warum ich den Scheiß überhaupt mitmachen würde. (STICH!) Tausend Laschen! Ein Riesen-Weihrauchkraweel für ein Portokassenminus. Die Stadt höre desinteressiert zu, sabbere aber nur auf die großen Namen. Und die Welt nimmt gar nichts davon wahr.
(STICH! Ja doch, kommt, gebt mir mehr davon!)
Weil ich das Geld, mit dem ich nicht rechne, gebrauchen kann. Weil ich der unabhängigen Künstlerstraße nun unabhängig auf der Strecke liege. Weil zu Hause ein ‚Wettbewerbe'-Ordner im Regal steht, der aus Absagen besteht und dicker ist als der Hefter ‚Neue Texte' daneben. Weil ich mich, verdammt nochmal, an meiner eigenen Naivität verheize, ich aber keinen Daniel habe, der gute Beziehungen zu einem Oben hat. Diese Art von Prostitution ist mein Risiko. Risiko hat auch bei Toelkes ‚Großer Preis' viel eingebracht. Was ich hier mache, ist meine ‚Aktion Sorgenkind'. Meine Batterien laufen leer. Die Züge fahren mir vor der Nase weg. Und jede Abfuhr ist Seelenverschleiß. Enttäuscht zu werden ist nicht weiter tragisch. Narben spüren keinen Schmerz. Schlimm ist, wenn sich Befürchtung bestätigt.
Ich verlasse die Runde. Ich kann nicht mehr. Ich begebe mich aufs Literaturschaffott.
Bube gewinnt. "Gratulation", wünsche ich und versuche erfolgreich, es ernst zu meinen. Der DinA2-Scheck wird vor seinen Bauch gedrückt. Objektivlächeln. Plätscherapplaus. Keine Teilung. Gott hat seine Chance verbraten. Es stinkt nach Weihrauch. Jetzt aber runter, Kleiner. Else Stratmann wiegt auf. Mit Der Welt im Rücken.
Zeit für mich, meinen Kopf unter den Arm zu klemmen und zu verschwinden.
Ich suche nicht nach Pfennigen auf dem Bürgersteig. Auch wenn mein Blick sich nicht von ihm erhebt. "Vier Dosen Kronen-Pils und eine große Packung FairPlay-light, bitte." Kronen ist billiger als Veltins, Lights günstiger als Medium. 10 Mark 85 für eine kopflose Weltenglückprise. An der Tastatur bringe ich meine Welt wieder ein kleines Stück in Ordnung. Wozu, wenn nicht dafür, sollte das alles sonst gut gewesen sein?

05.11.01
 

visco

Mitglied
Lieber Markus,

[ 6]hat Spaß gemacht zu lesen! Dein Protagonist wirkt glaubhaft, auf mich übrigens sympathisch, da kritisch und eher Realist denn Idealist, ernüchtert zwar - durch den trockenen Stil schön unterstrichen - aber keineswegs entmutigt.

[ 6]Interessant ist der Text sicher auch vom Thema her, werden doch Erfahrungen/Erlebnisse beschrieben, die so manchen (Hobby-)Autoren hier berühren dürften ;-)

[ 6]Nicht ganz sicher bin ich mir, auf was genau sich die im Titel angekündigten (geheimnisvollen) ernsten Warnungszeichen beziehen bzw. ob nur eine der im Text angebotenen Auswahlmöglichkeiten in Frage kommt oder ggf. mehrere.

[ 6]Mir persönlich gefällt der Text im Grunde so wie er ist (von ein paar Rechtschreibfehlerchen und einigen wenigen Formulierungen einmal abgesehen, aber beides fällt dir sicher bei der Überarbeitung auf), und auch die - anfangs noch erwartete - überraschende Wendung habe ich dann doch nicht vermißt. Gespannt bin ich trotzdem, ob die durch den Hinweis '1. Fassung' bereits angekündigte 2. Fassung nur 'ausbügelt' oder darüber hinaus geht.

Viele Grüße,
[ 6]Viktoria
 

Markus Veith

Mitglied
Vielen Dank für deine Kritik.

Hallo, Viktoria!
Ich dachte schon, der Text würde ohne Veurtreilung in der Versenkung verschwinden.
‚Menetekel' war bitter nötig. Zumindest für mich, denn so und kaum anders hat sich die geschichte abgespielt. Ich mußte mir einfach mal Luft machen. Inzwischen weiß ich, dass der Text möglicherweise etwas ungerecht ist, doch finde ich, dass das durchaus in Ordnung ist, weil es mir auf den Tag und auf das Gefühl dieser Farce ankommt. Das hat Bestand und werde ich auch so lassen. Es kann keine übrraschende Wenung geben, weil kaum eine möglich war. Ich hatte noch die Idee, ihn trotz aller Zweifel doch gewinnen, ihn dann aber trotz aller guten Vorsätze den Gewinn zu teilen, unverrichteter Dinge abziehen zu lassen. Doch das wäre nicht souverän und nicht die Wahrheit gewesen.
Mit dem Titel war ich mir erst sehr sicher, bin aber nun im Zweifel, ob er wirklich gut gewählt ist. Im Grunde mag ich es sehr, Bezüge herzustellen, ob zun zu religiösen, literarischen oder mythologischen Themen. Das Bild der geisterhaften Hand, die Belsazar das Ende seines Königreiches verkündet, fand ich eigentlich recht passend. Jemand, der mehr Einfluß hat (und den man nicht persönlich kennt), urteilt und richtet über diejenigen, die sich ‚verhalten'. Wenn man so möchte, die Situation sämtlicher Literaturwettbewerbe, die eine Jury haben. Und in meinem Falle doch schon ein existenzielles Thema, denn ich versuche von meiner Schreiberei auch zu leben. Das funktioniert aber nicht, wenn Wettbewerbe eine ‚abgekartete Farce' werden und man sich nur zum Narren macht, wenn man ständig antritt aber meist verliert. Einerseits ist das Bild so stimmig, andererseits ist der Bezug zu der Geschichte aus dem Buch Daniel nicht ganz richtig. Ich hoffe, das ist zu entschuldigen.
Ich fürchte, eine zweite Fassung wird tatsächlich nur ‚ausgebügelt' sein. Ich habe ‚Menetekel' gleich, nachdem es fertig war, in die Lupe gesetzt, hatte also befürchtet, dass es da noch so einige Fehlerchen gibt. Daher der Zusatz ‚1. Fassung' als eine Art Entschuldigung. Aber wenn du magst und Interesse hast, im Archiv liegen unter meinem Namen noch einige alte Texte, die auch gerne gelesen werden wollen.
Mit literarischen Grüßen
Markus Veith
 



 
Oben Unten