Merlin

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Markus Veith

Mitglied
Merlin

Man nennt mich Merlin. Ich bin genau dreißig Jahre alt. Man sagt, ich sei ver-rückt. Meine Wahrnehmung sei krankhaft. Dabei gibt es für jeden Sinn eine wei-tere Empfindung. Ich weiß es, spüre es, seit ich denken kann.
Jeder Weg, den ich gehe, ist eine Odyssee, jeder Ort, an dem ich verweile, eine Folterkammer der Reize.
Gerüche - ihr nehmt es nicht wahr, aber sie geben Geräusche von sich. Da drau-ßen kichert Urin aus dunklen Ecken. Hundehaufen kläffen. Pommesbuden wür-gen. Menschen sind wahnwitzige Musikanten. Euer Schweiß klingt wie Grun-zen. Deo und Parfum singen wie Sirenen. Zigarettenqualm krakeelt wie eine Krankenstation voller asthmatischer Babys, bleibt er im Raum, wird er zum Wimmern eines Greises. Nur Gras schallt lauter und lauter wie Kinderkitzella-chen. Eine Fahrt in der Bahn ist Kakophonie und auf der Strasse grölen Abgase wie Hooliganchöre. Ihr würdet wahnsinnig, könntet ihr eure Phongestank hören. Ich kann ihn inzwischen vom wirklichen Krach unterscheiden. Trotzdem wage mich nur selten vor die Tür. Motoren, Schreie, Donner, all das vergeht irgend-wann für euch. Aber was ihr Lärm nennt, wird vor meinen Augen zu Farben.
Die Stadt schillert, als kotzten Tausende von Menschen aus allen Ecken über-einander. Ein Brei wie gescheiterte Mischversuche in einem Malkasten. Der Ka-nal nebenan plätschert rattengrau und riecht trotzdem wie eine schnurrende Kat-ze. Nur hin und wieder sehe ich Schönheit. Der Aprilregen heut Abend fiel schlehenweiß, der Wind wehte pastellgelb. Die Vögel sangen in himmelblauen Tupfern und die Insekten summten kastanienbraune Schlieren in die Luft. Doch eure Stimmen ... Herrje! Es gibt Farben, die kann kein Spektrum erklären.
Und die Farben wiederum - ihr werdet es erraten: Rot riecht nach Liebe oder Zorn. Blau nach Ruhe oder Treue, Gelb nach Tag oder Wahn. Ihr kennt diese Gerüche nicht? Ich sage euch: Die alten Weisen hatten recht mit ihren Deutun-gen. Vielleicht waren sie wie ich. Die Armen.
Wisst ihr, wie viele verschieden Farben es gibt? Meine Nase blutet häufig. Der Vorort, in dem ich lebe, ist verwahrlost. Grau hat die unscheinbaren Aromen der Nacht und am lauten Tage gehe ich kaum hinaus. Die Dunkelheit duftet nach Seele und Magie.
Ich habe versucht im Wald zu leben. Frische Luft fiept wie ein Tinnitus und Laub kreischt wie eine Kompanie frisch Amputierter, Hoffnung stinkt wie die Pest und die Luft ist angefüllt von rosarotem Rauschen. Das hielt ich nicht lange aus.
Auch wenn euch widersinnig erscheint, was ich beschreibe: Wohin ich meine unmenschlichen Sinne auch strecke, es sind natürliche Kreisläufe. Menschenka-cke klingt nach erleichtertem Seufzen. Ein Seufzen schillert türkis. Türkis riecht beschissen. So kommt eins zu anderen.
Meine Tastsinn ist wie bei jedem von euch auch. Vermutlich. Doch was ihr ‚Ge-schmack' nennt, ist mir schleierhaft. Essen ist Nahrungsaufnahme, nichts weiter. Ein notwendiges Übel, das Geruch und Farbe für mich nicht einmal sonderlich leicht machen.
Auch hörte ich von einem Begriff namens ‚Perspektive'. Aber wen ich frage, wer es mir verwirrt zu erklären versucht, ich habe nie begriffen, was damit meint ist. Weite. Nähe. Was sind Dimensionen? Wie soll ich diese Worte in Einklang bringen mit dem steten Wabern meiner Umwelt? Alles fließt. Bäume erzählen mir Geschichten. Die Gebäude von Menschen, Krieg und Liebe. Schlimm sind nur diese Schatten. Sie huschen umher, wo keine Körper sind. Sie sprechen mich ständig an, fragen wispernd nach einem Aus- oder Eingang. Auch euch versuchen sie anzureden. Aber ihr antwortet ihnen nie und tut immer so, als würdet ihr sie nicht sehen. Also habe ich sie ebenfalls stets ignoriert. Keine Ahnung, wohin sie wollen, und ich hüte mich, sie zu fragen. Meist tue ich so, als sei ich einer von euch.
Ich habe lange gebraucht, bis ich die Eigenart meiner und eurer Zeit begriffen habe. Anfangs war mein Leben pure Qual. Von intaktem Verstand keine Rede. Ich brabbelte, wusste selbst nicht, was. Kein Gedanken wollte in einen anderen greifen. Meine Glieder waren morsch, spröde und kaum zu gebrauchen. Ich sah weinende Menschen um mich herum. Später begriff ich, dass es meine Kinder waren. Und während ich meine krächzende Sprache erlernte, begriff ich allmäh-lich, dass ihr mich verkehrt herum versteht. Die Bestätigung dieses Mysteriums erhielt ich schließlich, als ich meine Eltern kennen lernte. Man trug sie in Kisten zu mir. Vom Friedhof.
Ja, richtig. Nach eurem Empfinden lebe ich rückwärts in der Zeit. Meine Jugend, in der ihr mich als Irren erklärt und weggesperrt habt, war nichts als Verwirrung. Doch vor euren Jahren sah ich endlich klar. Plötzlich verstand ich, dass Flüsse eigentlich ins Meer fließen und Regen vom Himmel fällt. Dass der Morgen vor dem Abend, der Schlaf aber nach der Müdigkeit kommt. Dass ihr alt sterbt, mit den Augen voran lauft und nicht durch den Hintern esst. Endlich konnte ich ler-nen, mit all dem umzugehen.
Ihr wollt womöglich wissen, wie ich lebe. Höchst einfach. Ich habe mir von euch sagen lassen, womit ich meinen bestehenden Reichtum verdient habe. Lot-to. Ich bin steinreich. Ich muss die Folgen nur noch an den Ursprung anpassen und den Schein ausfüllen. Was davor geschah, werde ich dann sehen.
Bis jetzt habe ich nicht herausgefunden, woher ich komme, weshalb es mich un-ter euch gibt und ob von meiner Art noch weitere leben, die sich mir nicht zu erkennen geben. Ich bin auch nicht sicher, ob wirklich ihr die ‚Normalen' seid. Ich habe meine Zweifel. Ihr sagt, meine Wahrnehmung sei krankhaft? Vielleicht seid Ihr krank. Aber seid beruhigt. Ihr werdet nichts davon erfahren. Sonst wüsstet ihr es bereits.
Es sind nicht nur meine Sinne und die Abfolge der Geschichte, die mir einen lebenslangen Streich spielen, ... mich krankhaft erscheinen lassen. Am übelsten spielen Zeit und Trägheit mit mir. Ich habe versucht, es einigen von euch zu er-klären, obwohl ich im voraus wusste, dass sie sich umdrehen, sich gegen die Stirn tippen und nicht mehr mit mir reden würden: Wenn ihr in einem Licht-spielhaus sitzt, so seht ihr eine Filmszene in fünfundzwanzig einzelnen Bildern pro Sekunde. - Ich würde die Bilder einzeln sehen. Und nach jedem Bild müsste ich fünf Sekunden lang auf das nächste warten.
Diese Welt ist zu langsam für mich. Oder ich bin zu schnell, wie auch immer. Ich bin dreißig Jahre alt. Eurem Zeitempfinden nach. Doch nach meinem lebe ich bereits 3750 Jahre.
Dieser Körper ist mein Gefängnis. Er unterliegt eurer lahmarschigen Physik. Aber glaubt nicht, meine Gedanken seien ebenso langsam. Mein Verstand und mein Wille sind frei. Sie arbeiten in meiner Echtzeit.
Oh, ich habe vieles ausprobiert. Doch was ihr als Kurzweil und Freude empfin-det, ist für mich Langeweile und Folter. Ein Fußmarsch von zehn eurer Minuten wird für mich zur Expedition, ein kurzes Gespräch zur schleppenden Konversa-tion. Ein Suffabend kann Walhalla werden, aber das Kotzen davor ist Inferno. Und Sex? Ein Schneckentanz.
Diesen einen Sex hat mein Mädchen noch vor sich. Für mich ist diese Aufgabe bereits erledigt. Sie wird Zwillinge in diese elendig träge Welt setzen. Zwei un-endlich langsame Menschen. Bevor ich aus der Dumpfheit meiner Jugendjahre auftauchte, haben mich die beiden über sechshundert Jahre hinweg in den Wahn getrieben.
Mein einziger Trost war und ist meine Phantasie. In jeder eurer Stunden ersinne ich ein Utopia. Ich lebe zusätzliche Leben in den Äonen, die ihr als Augenblicke kennt. Ich drang durch Gedankengänge, in die noch nie jemand vorgedrungen war. Ich entdeckte Weisheit, konzipiere seitdem neue Religionen in meinem Kopf. Weltordnungen, die wirklich funktionieren. Aber soll ich sie euch etwa erklären? In stundenlangen Debatten, die für mich hundert Jahre dauern wür-den? Wem? Etwa euren ‚hellen Köpfen', die behaupten, ihr Sein mit ihrem Denken begründen zu können?
Ich habe meine Rätsel verstanden. Das Schlimmste liegt hinter mir. Meine Ju-gend ist vorbei. In genau dreißig Jahren werdet ihr mich sterben sehen. Aber ihr Menschen - ihr würdet schlottern vor Angst, würde ich berichten, was ich über eure nächsten drei Dekaden weiß. Doch nur keine Bange. Ich werde euch nichts verraten. Eure Zukunft wird alles erdulden lassen.
Ich habe nun drei Möglichkeiten. Ich kann mich meinem Schicksal ergeben und rückwärtig ergänzen, was noch fehlt: Beruf, Lehre, Schule, Kindheit. Ich kann mich mit all meinen krankhaften Sinnen dahintreiben lassen, im Sog einer vor-aus bestimmten Vergangenheit. - Aber was soll ich durch eure Weltgeschichte schleichen, wenn ihr sagt, ich sei verrückt. Ihr empfindet sie doch selbst als Wahnsinn! Warum sollte ich der Zeit, die mich schon so lange zukünftig ärgert, kein Schnippchen schlagen?
Ob ich mir selbst Verletzungen zufügen kann, die in meinem Zeitverlauf Gel-tung haben? Ich kenne nur Narben-Omen und den Schmerz, der mit Heilung be-ginnt, bis er sich zur Wunde zerreißt. Eine Narbe habe ich noch. Sie pulsiert un-ter meinem Haar. Vielleicht kann sie mir eine Möglichkeit bieten. Wider aller Logik. Für einen frühzeitigen Absprung aus diesem Leben. - Schmerz ist so sinnlich. Ich träume nachts von ihm. Er ist sanft und warm und duftet blutrot. Nach Endgültigkeit ...
Es gibt noch die dritte Möglichkeit. Mein Jenseits liegt in entgegengesetzter Richtung eurer Geburt. Aber ich kann mich weigern, mich an eure Vorgaben zu halten. Ich werde mich in mein Zimmer gesperrt haben. Um dort Kind zu wer-den. Abzuwarten. Mit verbundenen Augen. Die Ohren mit Wachs verschlossen. Die Nasenlöcher verpfropft. - Und innerhalb meiner nächsten 3750 Jahren wer-de ich dreißig Jahre jünger werden. Auf einer einsamen Insel inmitten der Reiz-überflut. Endlich Ebbe. In herrlicher Stille, Dunkelheit und Sterilität. In voll-kommener Ausnutzung meiner Phantasie werde ich gespannt sein, was geschah. Soll sich die Vergangenheit etwas einfallen lassen, wie sie mich da rausholt. Ich werde Spielverderber sein. Als Embryo mit erwachsenem Wissen und in 3600 Jahren zur Vollkommenheit gezeugten Weisheit werde ich meinem Später von euch berichtet haben. Und was immer mich jenseits von Mutter und Vater emp-fangen mag: Euer Vorher wird von meinem Bericht nicht begeistert sein.
Man nennt mich Merlin. Ich möchte, dass ihr das wissen werdet. Denn mögli-cherweise werde ich der Grund gewesen sein zur Einstellung eurer Evolution. Friede eurer Asche. Asche riecht nach Musik. Und wie jede Musik, die ich höre, ist sie eine Ballade. Lilienweiß.


Für Mike
Februar 2003
 

Rainer

Mitglied
ich habe nichts zu meckern

hallo markus veith,

auch wenn andere kommen werden um logische fehler etc. zu suchen und zu finden...
...mir hat deine geschichte unendlichen spaß und unendliche traurigkeit gebracht. seit langem mal wieder ein richtiger lesegenuß.
dein einverständnis vorrausgesetzt, habe ich sie mir mal runtergeladen und ausgedruckt, um mich heute abend nochmal daran zu ergötzen und mir meine eigenen, aber natürlich durch dich inspirierten, gedanken zu machen. wenn mir noch etwas auffällt schreibe ich es noch dazu.

danke + viele grüße

rainer
 

Markus Veith

Mitglied
Hallo, Rainer!

Vielen Dank für dein Lob. Teil mir neue Gedanken ruhig ungeschont mit. Ich fürchte selbst, dass bei einer solchen Geschichte logische Fehler kaum ausbleiben, doch hat mich das Thema einfach viel zu sehr gereizt, als dass ich es in der Ideen-Schublade verschwinden und verstauben lassen wollte.
Zu meiner Schande habe ich entdeckt, dass ich es mal wieder versäumt habe, vor der Kopie die automatische Silbentrennung auszuschalten. Man mag mir bitte die vielen störenden Worttrennungen verzeihen.
Mit literarischen Grüßen
Markus Veith
 

Daijin

Mitglied
Wow, die Geschichte ist wirklich toll. Die Idee gefällt mir sehr gut, und es gelingt Dir, die bizarre Welt Merlins sehr eindrücklich zu beschreiben.
Manchmal war es recht schwer, sich das beschriebene vorzustellen, aber das macht ja auch einen gewissen Reiz aus.

Am Anfang der Geschichte sind mir ein paar kleine Rechtschreibfehler aufgefallen, die aber nicht weiter stören.
 



 
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