Mick I: Der letzte Poet

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Echoloch

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Er findet seinen Weg über das brüchige Pflaster dieser verdammten Straße, so wie er immer seinen ureigenen Weg beschreitet. Und er unterdrückt die Wut, die gefährlich durch seinen Körper kriecht, ihn zu beherrschen droht, diesen Mann, der nur geben, aber niemals nehmen kann.
Die traurige Frau sieht ihm nach, und aus ewiger Entfernung hört sie das bittere Knirschen seiner Zähne, spürt den zitternden Kampf seiner Muskeln.
Er will nur alleine sein, umgeben von sicherer Einsamkeit in diesen Stunden des Verrats, denn keiner außer ihm darf seine Qualen erleiden. Doch plötzlich ist dort dieser Fremde, und er sucht die unmittelbare Konfrontation mit dem Mann, der nie jemandem weh tun wollte. Der andere beginnt, sich über die Sinnlosigkeit des Lebens zu erbrechen, ihm, dem Künstler, dem Musiker, dem Poeten etwas über Werte und Wirklichkeiten vermitteln zu wollen. Er erinnert sich schwankend und sabbernd, sie am Boden einer Flasche schwimmen gesehen zu haben und kann doch nicht Erfüllung und Abschaum der Droge unterscheiden. Der emotionsüberladene Poet kennt sie beide, und niemand darf sich an ihnen vergreifen – es ist die banalste aller Geschmacklosigkeiten, das Leben eines anderen verdammen oder rechtfertigen zu wollen.
Der Fremde will kämpfen, und für einen Moment trägt der Poet den Gedanken, ihm das verkrüppelte Herz aus dem primitiven Körper zu reißen, ihn zu zerfleischen, verbluten zu lassen in seiner Substanzlosigkeit. Doch dann schmettert er ihn nur mit der Macht seiner Worte nieder und setzt seinen Weg über das geborstene Pflaster fort.
Das Bild eines Menschen kreischt in seinem Kopf, des einen Menschen, für dessen Leben er sein eigenes geben würde. Doch die kleine Königin ist fort, gestorben, tot für alle Zeiten, die vollkommene Frucht seiner Liebe, seine Tochter, wurde ihm entrissen – er darf nie wieder vertrauen. Also folgt er nur noch seiner eigenen Idee, die mit jedem Tag aussichtsloser und entschlossener wird, und bemüht sich, anderen Menschen die Schmerzen zu ersparen, mit denen er selbst kaum leben kann. Er erträgt sie, denn er hat den Willen, Menschlichkeit zu vervollkommnen, und er besitzt den Mut, nicht von der Flut des Wahnsinns ertränkt zu werden. Und tatsächlich, er ist sogar glücklich, wahrhaft zufrieden manchmal, denn er unterwirft sich keinen Zwängen mehr, versklavt sich keiner scheinbaren Zweckmäßigkeit.

Als ihn der dreckige Straßenbelag dieser Nacht die rettenden Stufen zu seiner Wohnung hinaufführt, löst sich langsam die Spannung in dem wütenden Poeten. Er ist froh, der eigenen Gewalt entkommen zu sein. Noch einmal ist es ihm gelungen, offensiv zu fliehen, anstatt überwältigt zu zerstören. Er verschließt Tür und Fenster, lässt die Rollläden herunter, die ihn für eine Weile von der Außenwelt befreien. Dann legt er sich auf sein Bett, bemüht sich, ruhig zu atmen, bis er fühlt, wie beruhigender Sauerstoff ihn durchdringt, seine Glieder entspannt, vorsichtig seine Fäuste löst. Der Mann mit der liebenden Seele und der tödlichen Erinnerung passt gut auf sich auf, davon ist er fest überzeugt. Doch sich zu lieben kann nur bedeuten, die Drogen sorgsam auszugleichen. Völlig ohne ihren Schutz könnte er nicht sein.
Er glaubt, die traurige Frau könne ihn nicht lieben, weil sie sich selbst nicht immer liebt. Und erkennt nicht, dass ihr Respekt vor ihrer eigenen kleinen Natur sie zu mehr Liebe befähigt, als er zu ertragen imstande wäre. Kurz zittert er, als sich das Bild ihrer tiefen Augen in seine Erinnerung drängt, dieser Augen, von denen er meint, sie hätten ihn betrogen. Noch einmal spürt er die Wärme, die ihr Körper ausströmte, als sie gemeinsam auf der hölzernen Bank saßen und über die schlichte Einzäunung der Veranda in die kühle Nacht blickten.
Und er traut sich nicht, sie zu lieben. Er liebt sie mehr, als sie jemals ahnen könnte, wissen dürfte.

Sanft verschwimmen die Bilder in seinem Kopf. Zärtliche Müdigkeit breitet sich über ihm aus, nimmt ihn fest in ihre Arme, bis er ihr nicht mehr widerstehen kann. Sie entführt ihn für einige Stunden in eine friedliche schmerzfreie Welt und erlaubt keinen Blick darauf, in welche Stimmung sie ihn danach entlassen wird.
Und noch am nächsten Tag sind seine Augen undurchdringbar, seine schönen Züge verschlossen. Verschlossen, bis die vorhersehbare Unvorhersehbarkeit des Lebens den Poeten eines Nachts wieder einholen wird, um ihn erneut auf ihre grausame Probe zu stellen.
 
Hallo echoloch,

es ist vielen Autoren gegenüber ungerecht, wenn ich behaupte, das ist das Beste, was ich je in der Lupe gelesen habe, und so sage ich, dass es einer der besten Beiträge ist.
Nichts hier hat mich je mehr berührt, nicht nur vom Inhalt her, sondern auch im Stil und Ausdruck.
Man sagt, es gäbe nichts Gefährlicheres als Adjektive, aber
du weißt damit umzugehen, und ich hoffe, dass du das
Interesse an der Lupe nicht so bald verlierst!
Ich hol schon mal den Lorbeer aus dem Gewürzschrank!

black sparrow
 

Echoloch

Mitglied
Hallo black sparrow - und - äh - DANKE!!! Wenn die Poeten-Texte positiv berühren (und die Adjektive, derer ich mir bewußt bin, nicht alles erschlagen), macht mich das besonders glücklich, eben weil sie sehr persönlich und somit immer eine Gratwanderung sind. Du hast recht, dass der "Tod des Poeten" noch persönlicher ist als der "letzte Poet", zumindest in dem Sinne, dass ich bei dem Tod wenig abstrahieren wollte/ konnte. Dass es jemanden gibt, dem die Texte SO gut gefallen, haut mich echt um.
Also vielen Dank - und nein, ich denke nicht, dass ich das Interesse an der Lupe allzu schnell verlieren werde ;O)

Liebe Festtagswünsche (darf ich das hier sagen?) von Echoloch
 
M

Minouche

Gast
huch !

Hallo !

Wow, und ich wollte gerade ins Bett säuseln....

Und das eben passiert mir hier ständig. Immer wieder kommt jemand daher, von dem ich lese.

Im Moment verschwimmen mir die Bilder im Kopf und die deinen waren ziemlich stark. Und ich sehne nach Zärtlichkeit - dein Text, ist stark.

Mehr !

Danke.

Liebe Grüße
Minouche

P.S. : Ich danke für die Entführung ! In eine bessere Welt ? Teil 2 hebe ich mir auf. Für morgen. Ich wünsche dir den Frieden der Nacht.
 

Echoloch

Mitglied
Liebe Minouche, vielen Dank für Deine lieben Worte! Ich bin, wie ich schon weiter oben andeutete, total überrumpelt davon, dass dieser Text so positiv auffällt, das hätte ich nie erwartet. Dass er Dir offensichtlich etwas schenken konnte, ist wirklich nicht mein Verdienst, sondern der des Poeten. Es freut mich aber besonders.
Ganz liebe Grüße von Maja
 



 
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