Mildred

Mildred


Eine Kurzgeschichte von Stefan Seifert





Mildred blickte Arthur angstvoll an. Sie war sehr blass und ein feiner Schweißfilm bedeckte ihre Haut. Eine Strähne ihres jetzt dünnen Haares hing ihr ins Gesicht. Sie lag halb aufgerichtet im Bett und hielt Arthurs Hand umklammert.

„Laß mich nicht hier sterben, Arthur,“ rief sie. „Nimm mich mit nach Hause.“

Arthur fühlte den kalten Schweiß ihrer Hand. Er hätte am liebsten seine Hand zurückgezogen, aber er wagte es nicht.

„Was redest du da,“ murmelte er begütigend. „Du wirst nicht sterben. Ich habe eben noch mit dem Arzt gesprochen. Er sagt, daß du auf dem Weg der Besserung bist. Vielleicht kannst du nächste Woche schon wieder zu Hause sein.“

Mildred sah ihn forschend an. Sie war immer noch voller Angst und Mißtrauen.

„Sagst du auch die Wahrheit, Arthur?“

Arthur nickte. Tatsächlich hatte der Arzt vor kurzem in seinem Dienstzimmer mit ihm gesprochen.

„Es tut mir leid, es Ihnen sagen zu müssen, Herr Kleinschmidt, aber sie müssen sich darauf gefaßt machen. daß Ihre Frau diese Nacht voraussichtlich nicht überleben wird,“ hatte er gesagt. „Im Moment ist sie bei Bewußtsein und hat keine Schmerzen. Das ist eine kurze Phase scheinbarer Besserung, die dem Ende vorausgeht. Wenn Sie wollen, können Sie noch einmal zu ihr gehen und mit ihr sprechen.“

Jetzt saß Arthur an ihrem Bett und wagte es nicht, sie anzublicken.

„Gib mir bitte meine Tasche,“ sagte Mildred. Er gab sie ihr. Sie strich sich die Haarsträhne aus der Stirn, öffnete die Tasche und holte ein Bild heraus. Arthur spürte einen Kloß im Hals. Es war das Bild ihres Sohnes Benjamin. Sie hatten ihn durch einen Verkehrsunfall verloren als er zehn Jahre alt war. Das war jetzt schon zwölf Jahre her. Seitdem hatten sie keine Kinder mehr bekommen. Benjamins Zimmer hatten sie so gelassen, wie es an dem Tag war, als er nicht mehr aus der Schule zurückkehrte.

Mildred blickte das Bild einen Augenblick lang starr an. Dann reichte sie es Arthur.

„Schwöre es,“ sagte sie. „Schwöre bei ihm, daß du die Wahrheit sagst. Daß ich wieder gesund werde.“

Arthur nahm das Bild. Es war an Benjamins zehntem Geburtstag gemacht worden. Er hielt Sarah im Arm, die schwarze Katze. Sie war damals noch ganz klein, er hatte sie gerade geschenkt bekommen. Er hatte sich schon immer eine Katze gewünscht. Benjamin war glücklich und lächelte in die Kamera. In seinem Blick waren Freude, Dankbarkeit und Vertrauen. Es war ein wirklich gutes Bild.

„Ich schwöre es,“ sagte Arthur ernst. „Ich schwöre bei unserem Sohn Benjamin und bei allem was mir heilig ist, daß du bald wieder zu Hause sein wirst.“

Arthur mußte schlucken, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Er gab Mildred das Bild zurück, die es umständlich wieder in ihre Tasche steckte.

„Jetzt bin ich beruhigt,“ sagte sie und gab Arthur schwach lächelnd die Tasche. „Ich bin müde und möchte etwas schlafen. Bleibst du noch, bis ich eingeschlafen bin?“


Als Arthur am nächsten Vormittag wiederkam, war das Zimmer leer. Die Tür stand offen. Eine Schwesternschülerin mit einem Plastikeimer und einem Lappen in der Hand war dabei, das Nachtschränkchen auszuwischen. Es roch nach Desinfektionsmittel. Im Stationszimmer gab ihm eine Krankenschwester die persönlichen Gegenstände seiner Frau und er mußte eine Quittung sowie verschiedene Papiere unterschreiben. Der Arzt ließ sich entschuldigen, es war gerade Chefvisite.

Benommen, wie in einem beklemmenden Traum ging Arthur zum Fahrstuhl. Er stieg ein und drückte auf einen unteren Knopf. Der Fahrstuhl fuhr hinab, hielt an und die Tür öffnete sich. Es war der Keller. Arthur blickte in einen grauen Gang, der durch das unwirkliche, kalkweiße Licht von Leuchtstoffröhren erhellt wurde. An der Decke und an den Wänden zogen sich mit Isolierungen verkleidete Rohre und Leitungen entlang. Direkt gegenüber standen zwei eiserne Spinde und ein leerer Rollstuhl an der Wand. Arthur wollte schon einen anderen Knopf drücken, um in die richtige Etage zu gelangen, als er plötzlich innehielt. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Es war wie ein leichter elektrischer Schlag. An der Seite, schon fast außerhalb seines Blickfeldes, stand etwas. Eine Art Bahre auf Rädern. Darauf lag etwas Weißes.

Arthur trat aus dem Fahrstuhl heraus und sah zu der Bahre. Auf ihr lag eine von einem weißen Laken bedeckte Gestalt. Nur die nackten Füße ragten hervor. An einer großen Zehe hing ein Zettel.

Arthur sah sich um. Der Kellergang war menschenleer. Es war offenbar Frühstückszeit. Arthur trat zögernd an das Kopfende der Bahre. Er blickte sich noch einmal um, dann zog er das Laken zurück. Sofort fühlte er ein Würgen im Hals. Es war Mildred. Ihre Haut war von pergamentener Blässe und immer noch mit einer dünnen Schweißschicht bedeckt. Ihre Augen waren geschlossen.

Eine Welle von Schmerz und Wut stieg in ihm auf. Irgend etwas Widernatürliches, Unwürdiges und völlig Falsches passierte hier. Arthur legte das Laken wieder über Mildreds Gesicht und ging zum anderen Ende der Bahre. Er wollte wenigstens ihre Füße bedecken. Als er das Laken über die Füße zog, wurde die obere Hälfte ihres Kopfes frei. Plötzlich sah es so aus, als läge hier eine Patientin auf dem Weg zum OP. Ein Mensch, und keine Leiche.

Von diesem Augenblick an handelte Arthur schnell und zielgerichtet wie ein Automat, ohne nachzudenken oder bewußt einen Entschluß zu fassen. Er stellte die Tasche mit Mildreds Sachen auf das Fußende der Bahre. Das war kein ungewöhnlicher Anblick, er hatte das schon bei Verlegungen von Patienten in der Klinik gesehen. Einige Schritte entfernt hing an einem Kleiderständer ein schmuddeliger weißer Kittel. Arthur nahm ihn und zog ihn an. Die Fahrstuhltür stand immer noch offen. Arthur schob die Bahre in den Fahrstuhl und drückte den Knopf, auf dem ein E stand. Langsam schloß sich die Tür. Der Fahrstuhl fuhr los und hielt gleich darauf wieder. Die Tür öffnete sich. Arthur schob die Bahre hinaus. Rechts ging es zu einem Wirtschafts- oder Diensteingang. Dorthin wandte er sich. Ein alter Mann in einem Trainingsanzug und Filzpantoffeln stand an der Seite und blickte teilnahmslos auf Mildred. Arthur schob die Bahre an ihm vorbei und durchquerte eine Schwingtür. Er kam auf einen Hof hinaus. An der Wand standen große, schwarze Müllsäcke, die darauf warteten, abgeholt zu werden. Sonst war kein Mensch zu sehen. Arthur schritt zügig vorwärts.

Er kam auf einen betonierten Weg, der um das Klinikgebäude herum direkt zum Parkplatz führte. Arthur schob die Bahre zwischen den geparkten Autos hindurch und sah sich dabei vorsichtig um. Der Parkplatz war fast menschenleer. Nur ein Taxifahrer saß in seinem Gefährt und las eine Zeitung. Er blickte nicht auf.

Arthur kam zu seinem Auto und stellte die Bahre daneben. Er nahm die Tasche mit Mildreds Sachen und brachte sie in den Kofferraum. Dann öffnete er die hintere Wagentür. Er hob Mildred von der Bahre. Sie war nicht sehr schwer. Er legte sie auf die Rücksitze und schnallte sie mit den Sicherheitsgurten fest. Dann holte er eine Decke aus dem Kofferraum und breitete sie über ihren Körper. Es sah jetzt aus, als mache sie im Fond des Wagens ein Nickerchen.

Arthur schloß die Wagentür wieder. Dann zog er den Kittel aus und legte ihn auf die Bahre. Seine Bewegungen waren ruhig und kontrolliert. Er schob die Bahre von dem Parkplatz und stellte sie am Klinikgebäude ab. Daraufhin ging er zu seinem Wagen zurück, setzte sich hinter das Steuer, startete und fuhr los. Der Taxifahrer las immer noch Zeitung.

Arthur verließ das Klinikgelände. Er fuhr auf die Umgehungsstraße und vermied dadurch den Verkehr in der Innenstadt. Irgendwie kam ihm das sicherer vor. Nach einer halben Stunde erreichte er den stillen Vorort, in dem sie seit Jahrzehnten wohnten. Er bog in die von Hecken gesäumte Seitenstraße ein und hielt vor dem Haus. Er stieg aus und öffnete das Tor der Einfahrt. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Er fuhr in den Hof und schloß das Tor wieder. Dann öffnete er die Haustür und die Tür zum Wohnzimmer. Anschließend kehrte er zum Auto zurück und hob Mildred vorsichtig heraus. Sie war wirklich nicht schwer, nach der langen Krankheit und den vielen Operationen. Er trug sie ins Wohnzimmer und legte sie vorsichtig auf die Couch. Dann ging er wieder hinaus, fuhr den Wagen in die Garage, schloß sie sorgfältig ab und kehrte ins Haus zurück.

Ihm fiel ein, daß Mildred nicht in der Stube bleiben durfte. Es konnte Besuch kommen. Er nahm sie wieder auf und trug sie ins Schlafzimmer. Dort legte er sie aufs Bett, auf ihre Seite. Als erstes nahm er das Klinikslaken von ihr weg und warf es in eine Ecke. Später wollte er es in den Müll geben. Mildred war nackt. Er entfernte den Zettel von ihrem großen Zeh. Dann suchte er ein Nachthemd aus dem Schrank und zog es ihr mit behutsamen Bewegungen an. Er hatte darin Übung. In der langen Zeit ihrer Krankheit hatte er sie oft an- und ausgezogen. Er deckte sie mit ihrer Bettdecke zu, warf einen prüfenden Blick auf sie und zog die Vorhänge vor.

„Jetzt bist du wieder zu Hause,“ sagte er. „So wie ich es dir versprochen habe.“

Vielleicht nicht ganz so, dachte er, als er in die Küche ging, um sich einen Kaffee zu machen. Er machte, wie immer, zu viel. Für zwei Personen anstatt nur für eine.

Er setzte sich mit der Kaffeetasse in die Stube. Das Telefon klingelte. Er zögerte einen Augenblick, dann nahm er den Hörer ab. Es war Else, seine Schwester.

„Ich habe gerade in der Klinik angerufen und es erfahren,“ sagte sie. „Ich kann es einfach nicht glauben.“

Arthur schwieg. Er wartete, was sie weiter sagen würde.

„Ihr wart beide immer so tapfer,“ fuhr Else fort. „Nun habt ihr den Kampf gegen die Krankheit verloren. Wie geht es dir jetzt, Arthur? Sollen wir zu dir kommen? Benötigst du irgend etwas?“

„Nein, danke,“ sagte Arthur. „Mach dir meinetwegen keine Sorgen. Ich habe alles, was ich brauche.“

Dann legte er auf und trank seinen Kaffee aus. Es war gut, daß er ans Telefon gegangen war. Sonst wäre sie vielleicht hergekommen. Vielleicht sogar mit Heinz, ihrem Mann. Ein schrecklicher Gedanke.

Er fühlte sich plötzlich unbehaglich. Der Anruf hatte ihn wieder in die normale Alltagswelt geholt. Und Mildred im Schlafzimmer gehörte nicht zu dieser Welt. Er hatte eine Grenze überschritten. An dieser Grenze hatte man Warnschilder aufgestellt: Vorsicht, Wahnsinn! Achtung, Verbrechen! Zutritt streng verboten!

Er fragte sich, was er jetzt tun sollte. Sollte er umkehren? Mildred wieder in die Klinik zurückbringen? Etwas in ihm protestierte heftig dagegen. Etwas, ganz tief in ihm drinnen. Das würde keine Ruhe geben, dagegen kam er nicht an.

Was also dann? Sollte er Mildred in Benjamins Zimmer hinauf bringen und dort einschließen? Nachts lauschen, ob er Schritte hörte? Arthur fürchtete, daß er damit unwiderruflich einen Weg beschritt, der ihn direkt ins Irrenhaus führte.

Sein Blick fiel durch das breite Fenster in den Garten. Dort stand der Geräteschuppen. Gleich daneben war sein Tulpenbeet. Er mußte die Tulpenzwiebeln einpflanzen, es war höchste Zeit. Am besten, er schaute gleich einmal nach.

Er zog seine alte Hose und sein kariertes Hemd an und ging hinaus. Als er die Schuppentür öffnete, fühlte er sich wieder im Einklang mit der Welt. Alles war an seinem Platz. Die Tulpenzwiebeln waren in ihrer Kiste. Gleich daneben waren die Gartenwerkzeuge, Spaten, Rechen, Schaufeln und Hacken. Arthur sah sich um, was noch so alles da war. Jede Menge Bretter lehnten an der Rückwand. Bretter aller Größen. Sie hatten sich dort im Lauf der Jahre angesammelt. Arthur gehörte zu denen, die jedes Brett, jede Schraube und jeden Nagel aufhoben. Man wußte nie, wozu man es noch einmal gebrauchen konnte. Schrauben und Nägel bewahrte er in Marmeladengläsern auf, die in einem Regal standen, ordentlich sortiert nach Größe und Beschaffenheit. Daneben hingen die Sägen, Hämmer und Äxte. Auf dem schweren Arbeitstisch war ein Schraubstock befestigt. Daneben stand ein großer, altmodischer Werkzeugkasten, den er von seinem Vater geerbt hatte.

Arthur ging zu den Brettern und suchte sorgfältig einige davon aus. Er nahm den Zollstock, maß ab und machte mit seinem Zimmermannsstift Markierungen.

„Ein Meter dreiundsechzig,“ murmelte er. „Sagen wir eins siebzig. Sie soll ja auch etwas Platz haben.“

Er sägte und hämmerte bis zum Einbruch der Dunkelheit. Dann ging er ins Haus zurück und machte sich Abendbrot. Zum ersten Mal an diesem Tag war er hungrig.

Nachdem er gegessen hatte, ging er wieder in den Schuppen. Um etwas zu erkennen, mußte er das Licht einschalten. An der Decke des Schuppens war eine einfache Lampe mit einer Vierzig-Wattbirne befestigt. Die Gegenstände in dem Schuppen warfen jetzt gespenstische Schatten.

Arthur begutachtete die Kiste, die er gezimmert hatte. Sie war nicht schön, aber doch ziemlich solide. Er legte eine Decke auf ihren Boden. Dann suchte er noch eine zweite Decke heraus, faltete sie zusammen und legte sie dorthin, wo er sich das Kopfende vorstellte. Er betrachtete noch einmal nachdenklich sein Werk, dann ging er ins Haus zurück. Die Türen ließ er offen.

Er ging ins Schlafzimmer und trat, ohne Licht zu machen, an das Bett. Er schob die Arme unter Mildreds leblosen Körper und hob ihn hoch. Er paßte dabei auf, daß ihr Kopf nicht zu weit nach hinten fiel. Ganz früher hatte er Benjamin immer so ins Bett getragen, wenn der Junge am Sonnabendabend mit in der Stube geblieben war. Während des Films war er dann meist zwischen ihnen eingeschlafen. Arthur hatte ihn nach oben in sein Zimmer getragen und vorsichtig, ohne ihn aufzuwecken, ins Bett gelegt. Das war schon lange her, aber Arthur konnte es immer noch mit seinem Körper spüren, wenn er sich daran erinnerte.

Jetzt trug er Mildred auf die gleiche Weise in den Schuppen hinüber. Er legte sie behutsam in die Kiste, sorgfältig darauf bedacht, sie nirgends anecken zu lassen. Dann legte er den Deckel auf und nagelte ihn mit wenigen Nägeln fest. Er versuchte, dabei so wenig Lärm wie möglich zu machen, damit die Nachbarn nichts hörten. Nachdem er damit fertig war, trug er eine Hacke, eine Schaufel und einen Spaten nach draußen. Mit dem Spaten markierte er auf dem Tulpenbeet ein Rechteck. Anschließend begann er, die Erde innerhalb des Rechtecks aufzuhacken und mit der Schaufel zur Seite zu werfen. Zunächst kam er gut voran. Doch dann wurde es sehr mühselig. Der Boden erwies sich in den tieferen Schichten als sehr hart, steinig und voller Wurzeln. Bald spürte er einen bohrenden Schmerz im Rücken. Mit verzerrtem Gesicht richtete er sich auf und hielt sich das Kreuz. Das Loch war erst knietief, aber er mußte aufhören. Er kletterte aus dem Loch, trug das Werkzeug in den Schuppen und ging ins Haus zurück.

Arthur fühlte sich sterbensmüde. Er ging gleich zu Bett und hatte einen Traum.

Er war wieder in der Klinik und saß dem behandelnden Arzt gegenüber.

„Wir können Ihre Frau natürlich entlassen, wenn Sie darauf bestehen,“ sagte der Arzt. „Sie übernehmen dann aber auch die volle Verantwortung für alles Folgende.“

„Ich weiß,“ antwortete Arthur. „Ich bin mit allem einverstanden. Aber bitte lassen Sie sie gehen. Bei mir wird sie es gut haben. Ich werde sie pflegen und sie wird wieder gesund werden. Ich kann ihr alles geben, was sie braucht. Wenn sie in der Klinik bleibt, wird sie sterben.“

„Wie sie meinen,“ sagte der Arzt skeptisch. „Sie müssen dann diese Papiere hier unterschreiben. Lesen Sie sie gut durch, damit Sie hinterher nicht sagen, wir hätten Ihnen etwas verschwiegen und Sie wären nicht über die Konsequenzen informiert gewesen.“

Arthur unterschrieb alles, was ihm der Arzt vorlegte. Er wollte es schnell hinter sich bringen und endlich mit Mildred nach Hause fahren.

„Kann ich sie jetzt mitnehmen?“ fragte er, als er das letzte Formular unterzeichnet hatte.

„Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun,“ sagte der Arzt. „Mir soll es nur recht sein. Ich wasche von jetzt ab meine Hände in Unschuld. Gehen Sie den Gang hinunter bis zum Ende. Dort können Sie Ihre Frau in Empfang nehmen.“

Arthur verließ das Sprechzimmer und ging den Klinikskorridor entlang, bis er zu einer großen Glaswand kam. Dahinter befand sich ein weiterer Teil der Klinik, den er offenbar nicht betreten durfte. Nachdem er etwas gewartet hatte, öffnete sich dort eine Tür und Mildred trat heraus. Sie war barfuß und nur mit einem OP-Hemd bekleidet, das hinten offen war.

Diese Barbaren, dachte Arthur. Sie haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie ordentlich anzukleiden.

Mildred kam zu der Glaswand, lächelte erkennend, als sie ihn sah, und sagte etwas. Arthur konnte nichts hören.

„Wo ist die Tür?“ rief er.

Er suchte jetzt an der Glaswand die Tür. Es mußte doch eine Tür da sein. Mildred suchte auf der anderen Seite. Schließlich fand er eine Tür, aber sie ließ sich nicht öffnen. Arthur rüttelte vergeblich daran. Mildred schlug auf der anderen Seite mit beiden Fäusten gegen die Glaswand. Ihr Gesicht war jetzt von Angst verzerrt. Sie schrie und versuchte ihm etwas zu sagen, aber Arthur konnte nichts hören. Mildred sank zu Boden, die Hände gegen die Wand gepreßt. Ihr Körper wurde von hoffnungslosem Schluchzen geschüttelt. Sie blickte Arthur unter Tränen verzweifelt und gequält an.

Arthur erwachte. Es war mitten in der Nacht. Die Tür, dachte er. Warum war die Tür verschlossen? Er hätte zu dem Arzt zurückgehen sollen. Der hätte die Tür sicher aufschließen können. Oder eine Schwester. Wenn sich die Tür aber gar nicht öffnen ließ? Wenn sie Mildred gar nicht gehen lassen wollten? Wenn alles nur ein abgekartetes, von vornherein aussichtsloses Spiel war? Was konnte er da noch tun?

Arthur war hellwach. Er wußte, daß er jetzt nicht wieder einschlafen konnte. Er war zu aufgewühlt und ruhelos. Schließlich stand er auf und ging in die Küche, um sich einen Kakao zu machen. Er sah auf die Küchenuhr. Es war zwei Uhr. Er nahm den Kakao und setzte sich in die Stube. Wieder fiel sein Blick in den Garten. In der Dunkelheit konnte er vage die Umrisse des Schuppens erkennen. Er trank langsam den Kakao aus. Dann zog er seine Arbeitssachen an und ging hinaus.

Er ging zum Schuppen, öffnete die Tür, trat ein und schaltete die trübe Deckenlampe an. Die Kiste stand in der Mitte des Raumes. Arthur fühlte sich unwohl bei ihrem Anblick. Ihm war, als ginge von ihr ein stummer Vorwurf aus, fast eine Anklage. Er mußte in sich die Versuchung niederkämpfen, sie zu öffnen und Mildred wieder herauszuholen. Wenn er sich jetzt nicht vernünftig verhielt, lief er Gefahr, völlig den Verstand zu verlieren.

Arthur nahm Hacke und Schaufel und ging hinaus, um die begonnene Arbeit fortzusetzen. Es ging besser als er gedacht hatte, obwohl ihm Hände und Rücken schmerzten. Er kam ein gutes Stück voran, doch dann wurden die Rückenschmerzen wieder stärker. Er hielt inne und beschloß, am nächsten Tag weiterzumachen. Er legte die Werkzeuge auf die aufgeworfene Erde und kletterte mühsam aus der Grube heraus. Sie war jetzt schon recht tief.

Er nahm Hacke und Schaufel und ging zum Schuppen. Er öffnete die Tür, trat ein und stellte die Werkzeuge zu den übrigen Gartengeräten. Dann ging er wieder zur Tür. Er streckte die Hand schon nach dem Lichtschalter aus, um die Deckenlampe auszuschalten, als er mitten in der Bewegung erstarrte. Er hatte ein ungewohntes Geräusch gehört. Ein Kratzen oder Schaben. Es kam aus der Richtung der Kiste. Sollte sich da eine Maus oder eine Ratte zu schaffen machen? Angelockt durch Mildreds Leichnam? Er ging langsam auf die Kiste zu. Da war das Geräusch wieder. Und noch ein anderes. Ein ersticktes Wimmern. Es mußte aus der Kiste kommen.

Jetzt ist es soweit, dachte Arthur. Jetzt verliere ich wirklich den Verstand. Eine Art Schüttelfrost überfiel ihn. Schlotternd und mit zitternden Händen ergriff er eine Axt. Er trieb die Schneide zwischen Kistenrand und Deckel und bog sie mit aller Kraft nach oben. Das gleiche wiederholte er am anderen Ende der Kiste, dann riß er den Deckel mit den bloßen Händen herunter. Er beugte sich über die Kiste.

Mildred blickte ihn aus halbgeöffneten Augen an. Sie war wachsbleich, ihr Haar strähnig und wirr.

„Arthur,“ flüsterte sie kaum hörbar. „Ich darf noch nicht sterben. Ich will wieder gesund werden. Du hast es mir geschworen.“
 



 
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