Minenfeld

Oblomow

Mitglied
Allmorgendlich tritt die Erinnerung auf den Plan und fordert ihre Opfer: Die Gedanken, die in den ersten benommenen Augenblicken nach dem Erwachen durch das Netz der Gehirnzellen geschleudert werden, erliegen ihr und der alte Leierkasten in meinem Kopf beginnt mit dem Abspulen des Gewesenen.
Es ist Sonntag. Sonntags haben wir gewöhnlich gemeinsam ... Ich versuche, an etwas anderes zu denken, nicht an Vergangenes, und finde Ablenkung in dem gleichmäßigen Atmen neben mir, zu dem ich in keinerlei Beziehung zu stehen meine. Angestrengt lausche ich dem beständigen und warmen Geräusch – voller Ekel vor mir selbst muss ich jedoch feststellen, dass mir das fremde Schnaufen unerträglich ist; also steige ich aus dem Bett und verlasse das Zimmer. Was hatte dieses Wesen hier verloren geglaubt, als es gestern mit wuchtigen Schritten meine Wohnung betrat? Ich rufe mir den gestrigen Abend ins Gedächtnis und komme zu dem bedrückenden Schluss, dass alles auf eine mich beherrschende Gier zurückzuführen sei, die ich mit meinen Mitmenschen nicht gemeinsam zu haben glaubte: die Gier nach Neuem, angesichts derer mir jetzt speiübel wird. Gewiss, manch einer könnte wohl über diese Gier als etwas Natürliches hinwegsehen und spräche darüber hinaus von einer Leere, die es auszufüllen gelte. Aber jene, um die sich meine Gedanken seit Monaten dunkel drehten, hinterließ gar keine Leere, die ich mit einer Anderen hätte ausfüllen können. Sie hinterließ ein Minenfeld. Während ich darüber nachdenke und durch mein staubiges Küchenfenster den Spätherbst anstarre, legt mein Gast von hinten die Arme um mich und spricht zu mir. Mit schwerer Zunge und ohne sie anzublicken erwidere ich etwas. Ein kurzer Schrei, wenig später das Zuschlagen der Tür – und ich bin allein. Viel geblieben ist vom Samstag nicht.

Da ich mir überlegt habe, dass mich frische Luft auf andere Gedanken bringen müsse, streife ich einige Stunden später ziellos durch die Stadt. Der Wind weht mir kalt ins Gesicht, aber ungeachtet meiner Frische-Luft-Theorie spuckt meine Großhirnrinde unbeirrt scheußliche Bilder aus, die zu vergessen mir nicht vergönnt ist. Sie tat mir einmal weh. Fernab des Straßengetöses lasse ich mich auf einer Parkbank nieder und zünde mir einen Joint an; es erscheint mir plötzlich sehr vernünftig, mich ein wenig zu umnebeln. Der Rauch sinkt mir angenehm kühl in die Brusthöhle hinunter und steigt gesegnet aus ihr empor. So sitze ich als lebendiges Denkmal im Freien und preise Zug um Zug das Vergessen, derweil meine Erinnerung in der Kälte zerfasert – bald wird, denke ich, der erste Schnee des Jahres fallen.
 
H

Haki

Gast
Hallo Oblomow,

zunächst einmal ein herzliches Willkommen! Ich hoffe du wirst viel Spaß hier auf der Leselupe haben und dich vor allem an der gegenseitigen Textarbeit erfreuen.

Nun zu deinem Werk:

Der Titel deiner Kurzprosa ist "Minenfeld". Damit asoziiere ich vor allem, dass jeder Schritt, jede Regung den Tod bedeuten kann.
Ich bin gespannt, inwieweit meine Asoziation auch im Text wiederzufinden ist.

Der Ich-Erzähler reißt den Leser direkt in den Text hinein, man möchte wissen, wer hinter der Aussage "Allmorgendlich tritt die Erinnerung auf den Plan und fordert ihre Opfer" steht und fragt sich welcher Art wohl die Erinnerungen deines Prot sein mögen. So folgt im weiteren Verlauf eine Andeutung auf ein ehemaliges "gemeinsam". Da es sich um Vergangenes handelt, das der Ich-Erzähler zwanghaft zu verdrängen versucht, ist diese noch nebulöse Bezihung zwischen dem Prot und dem unsichtbaren Partner noch nicht nachzuvollziehen.
Jemand liegt neben dem Ich-Erzähler und atmet laut. Hier wird nicht ganz klar, ob es sich um einen anderen Menschen handelt oder um jene alte Bekanntschaft.
Der Ekel im Prot wächst und er flüchtet.
Jetzt wird klar, dass es sich um eine "neue" handelt. Bildhaft wird dargestellt, dass die Person, mit welcher es kein gemeinsam mehr gibt, nicht wie üblich eine Leere hinterließ, sondern vielmehr ein Minenfeld. Der Titel wäre damit erklärt, auch die Geschichte hat nun klare Züge und Formen bekommen: Es handelt sich um einen Mann, der verlassen wurde, dessen Erinnerungen an ihm nagen und der sich gerne in Affären flüchtet, sich selbst dafür aber verabscheut und ekelt.
Der Prot. vertreibt die flüchtige Bekanntschaft und geht spazieren.
Erneut quälen ihn Bilder aus alten Tagen und er glaubt im Konsum von Marijuana Erlösung zu finden.
Es wird beschreiben, wie sich der Rauch im Körper verbreitet, und wie er über die Erinnerungen einen Schleier wirft.
Der letzte Satz weiß durch seine Bildhaftigkeit zu überzeugen. Der erste Schnee wird fallen... Ja, so ist es.

Liebe Oblomow,
hier ist dir m.E.n. ein sehr guter Einstieg gelungen. Du schreibst sehr verliebt in deine Sätze(das gefällt mir, darf aber ab und an etwas gezügelt werden) und zeichnest mit wenigen Worten einen plastischen Charakter.
Wirklich schöne Kurzprosa.

Gerne gelesen. Wenn du möchtest, kann ich auch mal wegen der Sprache drüberschauen, ob mein bescheidenes Ich vielleicht ein paar Verbesserugsvorschläge bieten kann...

Liebe Grüße,
Haki


PS:
Hui, noch ein junger Spund. Wir werden mehr...!;)
 
H

Haki

Gast
hoppala,

da habe ich wohl zu schnell gegrüßt.

du scheinst ja länger Mitglied zu sein, als ich... Wie kommt's, dass du jetzt erst aktiv wirst oder warst du es vorher schon, hast aber deine Texte gelöscht?

Fragende Grüße,
Haki
 

Oblomow

Mitglied
Mit einer so wohlwollende Reaktion hatte ich nicht gerechnet; ich danke Dir dafür – und für die Ausführlichkeit. Es ist ein interessantes Gefühl, sein Erzeugnis auf diese Weise besprochen zu sehen.

Als ich den Text das erste Mal selbst gelesen habe, gefiel er mir schon nicht mehr. Da ist der »alte Leier«-Kasten und das Bild des Minenfelds ... aber sonst war ich nicht zufrieden.
Ich hätte den Protagonisten vielleicht länger im Bett liegen lassen sollen und die Anwesenheit des »Beständigen und Warmen« einige Augenblicke länger efahren lassen sollen, bevor's umschlägt. Auch der Stadtspaziergang bietet wohl mehr Möglichkeiten. Es wird wohl daran liegen, dass der Protagonist keine sprichwörtlichen Augen für all diese Dinge hat, aber zufrieden bin ich doch nicht. Daher wäre ich Dir auch sehr dankbar, wenn Du noch den einen oder anderen Vorschlag machen könntest.
Vielleicht holst Du mehr heraus. Ärmel hoch und frisch ans Werk! ;)

Gruß vom neuen Spund!

Nachtrag: Angemeldet habe ich mich schon vor Ewigkeiten, auch oft gelesen – unter anderem einiges von Dir. Zum Schreiben kann ich mich nur alle 2 oder 3 Jahre bequemen; ich hoffe, das wird sich nun ändern.
 
H

Haki

Gast
Hallo Oblomow,

sicher gibt es noch viele Punkte, die du ausbessern könntest, jedoch finde ich die Kürze so schon gut, da sie eben viel Raum lässt. Hie und da etwas hinzugefügt, nur Kleinigkeiten, dort noch ein wenig gefeilt und fertig ist er, der Text.
Zum Thema Klischee:
Glaube mir, es gibt deutlich abgegriffenere Bilder;)
In den nächsten Tagen werde ich mich mal drum kümmern(hoffentlich morgen), weil jetzt kriege ich noch Besuch.
Also, bis dann!

Liebe Grüße,
Haki

PS: Du hast auch Sachen von mir gelesen? In letzter Zeit hör ich diesen Satz zu oft, die Schattenleser machen sich sichtbar. Hat es denn wenigstens ansatzweise gefallen, obschon ich weiß, dass noch viel viel vor mir liegt...
 

Oblomow

Mitglied
Hallo Haki,
würde mich sehr freuen, wenn Du Dir da etwas einfallen lassen würdest, denn ich darf sagen, dass Deine Texte mir in meiner Zeit als Schattenleser mit am besten gefallen haben, zusammen mit denen von zwei oder drei weiteren Nutzern.

Hallo Franka,
zunächst einmal vielen Dank! Als ich den Vorschlag gelesen habe, erschien mir „Viel geblieben ist vom Samstag nicht.“ auch der bessere letzte Satz zu sein; allerdings hab' ich dann die Änderung doch nicht vorgenommen, da der vergangene Samstag für den Protagonisten schon keine Rolle mehr spielt – der nächtliche Gast hat keinen Eindruck hinterlassen.
Grundsätzlich halte ich aber solche Wiederholungen kurzer Sätze für sehr effektvoll, und auch diesem Text würde etwas in der Art wohl gut tun. Ich danke für die Idee.


Freundliche Grüße an alle!
 
H

Haki

Gast
Oke, Obmolow,

dannn versuche ich mich mal an deinem Text...Vielleicht hilft dir das ein oder andere ja...

Allmorgendlich tritt die Erinnerung auf den Plan und fordert ihre Opfer: Die Gedanken, die in den ersten benommenen Augenblicken nach dem Erwachen durch das Netz der Gehirnzellen geschleudert werden, erliegen ihr[red]hier ist der Bezug nicht mehr klar, erst nach genauerer Prüfung wird klar, dass es sich bei dem "ihr" um die Erinnerung handelt. Daher schlage ich vor, das "ihr" mit "der Nostalgie" zu ersetzen. Erinnerung zu wiederholen wäre auch ungeschickt.[/red] und der alte Leierkasten in meinem Kopf beginnt mit dem Abspulen des Gewesenen.[red]Hier würde ich den Satz ein wenig anders enden lassen, etwa so:"...und der alte Leierkasten in meinem Kopf spult das Gewesene ab.[/red]
Es ist Sonntag. Sonntags haben wir gewöhnlich gemeinsam ... [red]Der Bruch muss deutlicher, das Abbrechen der Überlegungen kräftiger gezeichnet werden. Mein Vorschlag: Nein, ich versuche an anderes zu denken, verdränge die Vergangenheit und finde Ablenkung in dem gleichmäßigen Atmen neben mir, zu dem ich in keinelrei Beziehung zu stehen meine.[/red]Ich versuche, an etwas anderes zu denken, nicht an Vergangenes, und finde Ablenkung in dem gleichmäßigen Atmen neben mir, zu dem ich in keinerlei Beziehung zu stehen meine. Angestrengt lausche ich dem beständigen und warmen Geräusch [red]Hier würde ich auch anders schreiben: Angestrengt lausche ich dem rhythmischen Geräusch(jetzt schlage ich vor, die Entwicklung von einem schön anmutenden Atmen hin zum Ekel und der Unerträglichkeit etwas auszuführen), beobachte den Brustkorb, wie er sich hebt und senkt, sehe die Lippen, wie sie immer wieder heiße Luft ausstoßen, das wohlklingende Geräusch wird zu einem Schnaufen, ein montones, pennetrantes Schnaufen, voller Ekel vor mir selbst muss ich feststellen, dass mir das fremde Atmen unerträglich ist...[/red]– voller Ekel vor mir selbst muss ich jedoch feststellen, dass mir das fremde Schnaufen unerträglich ist; also steige ich aus dem Bett und verlasse das Zimmer. Was hatte dieses Wesen hier verloren geglaubt, als es gestern mit wuchtigen[red]"wuchtig" erscheint mir hier unpassend, sicher, im Nachhinein könnte es dem Prot. wuchtig vorkommen, jedoch fände ich persönlich ein "entschlossenen" oder "zielstrebigen" besser[/red] Schritten meine Wohnung betrat? Ich rufe mir den gestrigen Abend ins Gedächtnis und komme zu dem bedrückenden Schluss, dass alles auf eine mich beherrschende Gier zurückzuführen sei, die ich mit meinen Mitmenschen nicht gemeinsam zu haben glaubte[red]Dieser Satz gefällt mir gar nicht. Der Prot denkt also darüber nach, was gestern Abend geschehen ist und schlussfolgert dann, dass im Allgemeinen(von Einzelfall zur Gesamtheit...)die Gier nach Neuem die Ursache von allem sei... Nun gut, ich versuche mich mal: Ich lasse den gestrigen Abend revue passieren, und erkenne, dass mein Verhalten erneut der Gier nach Neuem unterworfen war, angesichts derer mir jetzt speiübel wird. [/red]: die Gier nach Neuem, angesichts derer mir jetzt speiübel wird. Gewiss, manch einer könnte wohl über diese Gier als etwas Natürliches hinwegsehen und spräche darüber hinaus von einer Leere, die es auszufüllen gelte. Aber jene, um die sich meine Gedanken seit Monaten dunkel drehten, hinterließ gar keine Leere, die ich mit einer Anderen hätte ausfüllen können. Sie hinterließ ein Minenfeld. [red]Dieses "Gewiss, manch einer..." ist mir zu gestelzt, wirkt krampfhaft intellektuell. Wie wäre dieser entscheidende Part denn so: "Diese Gier als etwas natürliches hinzustellen, als einen inneren Trieb, dem es danach lechzt eine innere Leere auszufüllen, wäre schlichtweg falsch. Denn sie hinterließ in mir gar keine Leere, die ich hätte ausfüllen können, vielmehr hinterließ sie ein Minenfeld..." Auch das "jene" finde ich gestelzt...vielleicht kannst du mit meiner Version ja etwas anfangen[/red]Während ich darüber nachdenke und durch mein[red]wenig später verwendest du wieder das Wort"mein", daher würde ich hier "das" wählen..[/red] staubiges Küchenfenster den Spätherbst anstarre, legt mein Gast von hinten die Arme um mich und spricht zu mir. Mit schwerer Zunge und ohne sie anzublicken erwidere ich etwas. Ein kurzer Schrei, wenig später das Zuschlagen der Tür – und ich bin allein. Viel geblieben ist vom Samstag nicht.[red]Hier würde ich umstellen: Viel geblieben vom Samstag ist nicht. Aber nur Geschmackssache[/red]

Da ich mir überlegt habe, dass mich frische Luft auf andere Gedanken bringen müsse, streife ich einige Stunden später ziellos durch die Stadt. [red]Nein, so funktioniert das nicht recht, ist mir zu schulmäßig, dieses "da ich mir überlegt habe"...Wer sonst soll denn gedacht haben, und denkt der Prot nicht die ganze Zeit? Also mein Vorschlag sähe so aus: Einige Stunden später streife ich ziellos durch die Stadt. Die frische Luft soll mich auf andere Gedanken bringen."[/red]Der Wind weht mir kalt ins Gesicht, aber[red]dieses "aber" steht in meinen Augen nicht richtig da. So stellt zwar der Wind eine Verbindung her, aber finde ich es trotzdem komisch, darüberhinaus finde ich den Wind unnötig, hier könnte man kürzen. In etwa so: Ungeachtet meiner Frische-Luft-Theorie spuckt meine Großhirnrinde weiter scheußliche Bilder aus(ungeachtet, unbeirrt ist irgendwie doppeltgemoppelt)[/red] ungeachtet meiner Frische-Luft-Theorie spuckt meine Großhirnrinde unbeirrt scheußliche Bilder aus, die zu vergessen mir nicht vergönnt ist. Sie tat mir einmal weh. [red]"Sie tat mir einmal weh" kann man, denke ich, streichen, ist schon klar, dass sie ihn verletzt hat, außerdem ist es für mich zu platt.[/red]Fernab des Straßengetöses lasse ich mich auf einer Parkbank nieder und zünde mir einen Joint an; es erscheint mir plötzlich sehr vernünftig, mich ein wenig zu umnebeln.[red]Zusatz mit "es erscheint mir" streichen[/red] Der Rauch sinkt mir angenehm kühl in die Brusthöhle hinunter und steigt gesegnet aus ihr empor. So sitze ich als lebendiges Denkmal im Freien und preise Zug um Zug das Vergessen, derweil meine Erinnerung in der Kälte zerfasert – bald wird, denke ich, der erste Schnee des Jahres fallen.

Vielleicht kannst du mit dem ein oder anderen schon mal etwas anfangen, ich gucke auch gerne ein zweites Mal drüber...

Liebe Grüße,
Haki

PS: Huch, das ist zu viel des Lobesm so gut bin ich noch lange nicht, lebe noch von der Hilfe anderer, zum Beispiel Franka, dir viele Hilfestellungen in der Vergangenheit gegeben hat. Durch solche Menschen will ich dazu lernen...

PPS: Ob das Ende gestrichen werden sollte oder nicht vermag ich noch nicht zu sagen, würde vorher lieber noch mal die überarbeitete Version sehen, um dann an das erhebliche Kürzen gehen zu können...
 



 
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