Miras Geheimnis - ein klitzekleines Superheldenmärchen

Katharina M

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Es war schrecklich finster. Kein Mond, keine Sterne, nicht einmal das winzigste Licht. Die Welt schien vom Stromnetz abgekoppelt zu sein. Nicht mal mehr ein Standby-Lämpchen leuchtete.
Oliver kletterte auf das Dach des höchsten Wolkenkratzers in New York und zum ersten Mal erschien ihm der Abgrund, der zu seinen Seiten klaffte, bedrohlich. Er wusste nicht, wo er begann. Da war überall, vorne, hinten, oben und unten, nur: Schwarz. Er kauerte sich auf dem Betonboden zusammen, zog die mit blauen Strumpfhosen bekleideten Knie dicht an den Oberkörper heran und tat gar nichts. Er saß einfach nur da und starrte in die Finsteris. Die Welt war untergegangen und er war übrig geblieben.
Oliver lebte auf dem Dach des Hochhauses. Oft saß er dort einfach nur herum und ließ die Beine baumeln. Niemand wusste von seinem Dasein, niemand suchte nach ihm. Man konnte ihn dort oben nicht sehen. Genauso fühlte er sich wohl. Es war die perfekte Position, um zu beobachten.
Er sah alles: Ozeane und Gebirge, Metropolen und Dörfer, blühende Felder, Flugzeuge, die ihre Landungsbahnen anflogen, Schiffe und Züge in jeder Form. Und viele viele Menschen. Sie befanden sich auf den vielen Wegen und Plätzen, in den Zügen, in den Flugzeugen, und sie verkrochen sich oft in den Zimmern ihrer Häuser. Er hatte sie nicht gezählt, aber kannte jede ihrer Geschichten. Ihre Seelen waren alle mit ihm im Raum. Er konnte sie spüren. Er war nie allein.
Seine Welt war im Laufe der Jahre gewachsen und entwickelte sich Tag für Tag, breitete sich aus und verdichtete sich. Er beschützte sie. Ihre jahrtausendealte Geschichte war die, die sie war, weil er in sie eingegriffen hatte. Er hatte so manche Katastrophe abwenden können, aber es nicht geschafft, immer vor Ort zu sein, wenn man ihn brauchte.
Im Jahr 1814 verhinderte er den Einschlag eines riesigen Meteoriten, er bewahrte 2028 Menschen vor einem Selbstmord, schritt 9200 Mal bei Vergewaltigungen ein und zweimal so oft bei Raubüberfällen, er hatte schon den ein oder anderen irren Dikator auf einem einsamen Bergwipfel ausgesetzt, er hatte 40 Mal einen Krieg abgewendet, und dem Tyrannosaurus Rex seine Beute abspenstig gemacht.
Er hatte schon viele Heldentaten vollbracht. Die Menschen in seiner Welt lagen ihm am Herzen.
Und er war verliebt. In eine Frau, die nichts von seiner Existenz wusste. Mira lebte allein in einer kleinen Wohnung mit schiefen Balken, direkt unter dem Dach und sah von ihrem Bett aus durch eine kleine Luke in den Himmel. Mira fuhr jeden Tag in den siebten Stock des Hochhauses, auf dem er saß, um dort viele Stunden einer eintönigen Büroarbeit nachzugehen. Mira spazierte gerne in Parks umher, saß lange rauchend auf Bänken und träumte von einem freieren und wilderen Leben. Mira sah viel fern und viel in die Luft, Mira hatte wenig Geld, Mira bekam graue Haare und riss sie sich aus, Mira hatte viele Sommersprossen, eine Katzenhaarallergie, liebte Marzipan und sie besaß eine hässliche Brille, die sie nur trug, wenn sie alleine war.
Auch wenn sie selbst es nicht immer wahrnahm, war Mira vom Glück begünstigt. Es verging kein Tag, an dem Oliver ihr nicht auf irgendeine Weise das Leben schöner und einfacher machte. Wenn sie spät dran war und es eilig hatte, brachte er es fertig, dass alle Ampeln auf Grün standen. Wenn sie traurig war, sorgte er dafür, dass in ihrem Blickfeld etwas geschah, das sie zum Lachen brachte. Er ließ zum Beispiel andere Menschen für sie stolpern... Er klaute im Supermarkt Miras Lieblingspizza aus fremden Einkaufswägen, um sie für sie zurück ins Eisfach zu legen. Und er stahl dem Taschendieb Miras Portemonaie aus der Tasche, um es in ihre zurückzulegen, noch bevor sie bemerkt hatte, dass es weg gewesen war. Er programmierte das Fernsehprogramm für sie um und manipulierte den Radiosender, so dass nur ihre Lieblingssendungen liefen. Er sperrte ihren Chef auf dem Klo ein, als sie mit ihrer Arbeit zu spät dran war, er schloss das Fenster, wenn sie schlief und die Nachtluft zu kalt von draußen ins Zimmer strömte, er pflanzte Blumen vor Miras Haustür und legte kleine Überraschungen wie zufällig auf ihren alltäglichen Gehweg.
Er tat das alles Tag für Tag. Er tat, was er konnte, um die Welt zu retten und er liebte Mira. Still, traurig, in einer Absolutheit, die ihn hilflos machte. Die Sonne ging auf und unter und wieder auf. 24 Mal am Tag, jede halbe Stunde aufs Neue. Seine Welt schlief nie, blinkte, piepste und leuchtete auch im Dunkeln. Auch er schlief nie. Mira ging jeden Abend schlafen, Mira träumte. Und wenn sie die Augen geschlossen hatte, und er sie durch das kleine Fenster vom Dach aus betrachtete, tat das weh, denn dann befand sie sich an einem Ort, zu dem er keinen Zutritt hatte...

Mira Schöneich stand an der Wand und beobachtete die Touristenhorden, die an diesem Sonntagnachmittag wieder wie eine Herde Elefanten durchs Miniaturwunderland trampelten. Sie traten sich gegenseitig auf die Füße, nur, um als erster einen der vielen Knöpfe drücken zu können, die an jeder Ecke angebracht waren. Was war so toll daran, einen ICE durch einen Tunnel fahren zu lassen? Was hatte man davon, wenn ein ellenlanger Jumbojet von einer Ecke des Zimmers in die andere flog und wieder zurück? Es war alles so absehbar, was hier passierte. Mit grimmigem Blick, die Arme vor der Brust verschränkt, beobachte sie, wie es auf die Menge wirkte, wenn sich das Licht langsam verdunkelte. Wenn es Nacht wurde im Miniaturwunderland. Wie sich die Kinder freuten, über die blinkenden Lichter und die Modellbaupapis sowieso! Sie zwang sich, sich zusammenzureißen, zu lächeln. Job war Job und es war nicht das Schlechteste hier.
Trotzdem: Sie arbeitete hier schon seit fast zwei Jahren. Das ganze Gewusel, all die kleinen, bewegten Szenen hatte sie schon viel zu oft gesehen. Sie hatte sie über, diese lustige, überschaubare Kitschwelt.
Sie beobachtete, wie eine Mutter in ihrem riesigen Leinenbeutel kramte, einen Schokoriegel aufriss und ihm dem etwa vierjährigen Sohn hinhielt. Mira überlegte, ob sie etwas sagen sollte, entschied sich dann aber dagegen und tat so, als habe sie es nicht gesehen. Als sie den Kopf wieder zu Mutter und Kind drehte, hatte das Kind den Schokoriegel auf einer Tanne aufgespießt. Das war der Moment, als sie beschloss, das Miniaturwunderland zu verlassen, ihren Job einfach an den Nagel zu hängen.
Aber nicht, ohne noch einmal ihren liebsten Platz aufzusuchen. Sie hatte hier ein wohl gehütetes Geheimnis, eine kleine Geschichte, die nur ihr allein gehörte. Das wusste sie, denn die winzig kleine Spiderman-Figur, die auf dem Dach eines Wolkenkratzers in der Stadtlandschaft von New York thronte, konnte man von unten gar nicht sehen. Sie selbst hatte ihn vor zwei Jahren dort ausgesetzt.
Als die Nacht ihre dunkelsten Momente erreicht hatte, schlich Mira zu dem Betonklotz, stellte sich auf die Zehenspitzen, tastete mit den Händen und wurde fündig. Sie nahm Oliver zwischen ihre Finger, betrachtete ihn lächelnd im Zwielicht. Dann steckte sie ihn in ihre Hosentasche.
 
A

Architheutis

Gast
Liebe Katharina,

ich habe leider keine Zeit, Deinen Text ausreichend zu kommentieren. Ich habe ihn aber bereits für außergewöhnlich befunden. Er erinnert mich ein wenig an "Die fabelhafte Welt der Amelie", jedenfalls von der Verschrobenheit Miras. Mir gefällt das sehr.

Sehr gefallen mir auch all die kleinen Dinge, die Du den vermeintlichen Helden zu Miras Gefallen vollziehen lässt. Hier offenbart sich Deine gute Beobachtungsgabe, sonst kommt man nicht auf so einen Unsinn. ;-)

Aber hier steckt soviel mehr drin!

Ich lese mir den Text andermal nochmal in Ruhe durch, bevor ich werte. Aber es wird scho... ;-)

Lieben Gruß,
Archi
 



 
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