Mit Balkon

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„Die meisten Begegnungen sind Missverständnisse!“ Das jedenfalls sagte er vorgestern. Und gestern Morgen lief er mit ausgebreiteten Armen auf mich zu und drückte mich sehr fest an sich. Zu fest für noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden. Länger kannten wir uns nicht. Außerdem war ich vorgestern gar nicht mit ihm sondern mit Sascha verabredet. Sascha war jünger als ich und kam öfter nicht. Gestern auch nicht.
Der Alte lud mich zu einem Bier ein. Später zu weiteren. Nach Mitternacht brachte er mich nach Hause. Bis vor meine Wohnungstür. Keine Umarmung. Nicht einmal die Hand gab er mir.
Gestern Mittag trafen wir uns am Busbahnhof wieder. Zufällig, wie er behauptete. Eigentlich warte er auf seine neue Lebensgefährtin. Allerdings warte er schon über eine Stunde.
Natürlich wusste er, dass ich Sascha zur Rede stellen wollte. Nicht einmal angerufen hatte der mich gestern. Und bei Sascha meldete sich den ganzen Abend nur die Mailbox. Der Bus in die Nordstadt fährt ab Busbahnhof und Sascha wohnt dort. Sascha lacht immer. Selbst als ich ihn vor zwei Jahren für zwei Auslandssemester in Boston verließ.

Der Alte hielt mich lange fest. Zu lange. Er roch nach warmem Spätsommerabend. Dabei weiß ich gar nicht, wie warme Spätsommerabende wirklich riechen. Plötzlich ließ er mich los und lud mich zum Kaffee ein. Ich zögerte und wusste längst, dass ich mitgehen würde.
Wir setzten uns auf eine Polstereckbank in einer kaum beleuchteten Ecke der altdeutsch eingerichteten Busbahnhofskneipe und plauderten über Unverfängliches. Zunächst. Dann ließ er längere Gesprächspausen entstehen und ich sah mich gezwungen, sie mit Worten zu füllen. Zwischen den Pausen war er bemüht, im freundlichen Predigerton Geistreiches von sich zu geben.
„Wahrheiten…,“ sagte er, „sind unmodern. Selbst um letzte Wahrheiten reden sie herum!“
Er - mindestens vierzig Jahre älter als ich - fuhr sich nach jeder seiner Weisheiten mit beiden Händen durch die grauen Haare, die für sein Alter ungewöhnlich dicht waren.
„Selbst wenn einer todkrank oder uralt ist, versuchen sie, ihm einzureden, er habe noch Jahre zu leben. Können Wahrheiten einfach nicht mehr wahr sein lassen.“ Er stöhnte leise.
Nach einer besonders langen Pause begann er mit abfälliger Stimme von einer Frau zu erzählen, neben deren Auto er so nah geparkt hatte, dass er sich genötigt sah, sie zu fragen, ob der Abstand zwischen den beiden Autos noch reiche, um bequem in ihren Wagen einzusteigen. Voller Entrüstung habe die Frau, die etwa so alt wie er gewesen sei, den Bauch eingezogen, vorsichtig die Autotür geöffnet, aus- und wieder eingeatmet und triumphierend behauptet, in den letzten Monaten fünf Kilo abgenommen zu haben. Ob er das denn nicht sehe.
Doch, doch, allerdings sei er schon ein wenig kurzsichtig.
Gerade in den letzten Monaten, erzählte er mir nach einer Pause weiter, schaue er ständig Frauen - jungen Frauen - hinterher und stelle sich vor, mit ihnen zusammenzuleben. Am liebsten würde er sie sich einverleiben, um deren Energie in sich aufzusaugen. Natürlich habe das Kannibalisches, obwohl es ihm reiche, allein ihre Seelen zu vereinnahmen.
Er schüttelte den Kopf und redete leise weiter. Am sonderbarsten werde er, wenn er in der Nacht zuvor schlecht geschlafen habe. Und er schlafe seit Jahren in beinahe jeder Nacht nicht gerade gut.
Übrigens, wenn alte Männer meinen, auf plumpe Art zudringlich werden zu müssen, finde er das abscheulich. Dennoch legte er behutsam seine Hand auf die meine und begann sie zu streicheln. Ich ließ es geschehen. Aber er hörte schnell wieder auf und redete weiter.
„Wissen Sie, heute Nacht wurde ich gegen zwei Uhr wach. Gedanken nachtfalterten in meinem Kopf. Ich fror und stellte mir vor, eine Höhle in ein Steilufer hoch über dem Meer zu graben. Im Schoß der Erde fühle ich mich am sichersten.“
Meine Augen begannen unwillkürlich feucht zu werden. Aus Verlegenheit griff ich nach der leeren Kaffeetasse, tat, als würde ich ein Schlückchen trinken.
Als ich aufblickte, starrte er mir in den Pulli-Ausschnitt. Ertappt lächelte er und erzählte hastig, er sei auf der Suche nach einer neuen Wohnung. Einer mit Balkon. Auf Balkons fühle er sich wie ein kleines Kind, das von seiner Mutter getragen werde.“
Ich lachte. „Sie könnten zwar mein Vater sein, aber ich würde nie auf die Idee kommen, mich von ihnen tragen zu lassen.“
Bedauernd zuckte er mit den Schultern und griff sich stöhnend oberhalb der Taille in den Rücken. „Könnte Sie auch gar nicht mehr tragen! Übrigens neulich habe ich im Museum in einer Vitrine einen nackten kleinen schwarzen Engel aus Porzellan gesehen. Der war höchsten zwanzig Zentimeter groß, hatte den schlanken, wohlgeformten Körper einer Frau und stieß mit der rechten Hand einen goldenen Spieß in den Rücken eines nackten Mannes, wie ein Erzengel, der einem Drachen den Todesstoß versetzt.“
Ich versuchte zu lächeln. „Wenn ich an Engel denke, sehe ich vor mir immer diese Marmor-Putten mit Baby-Speck-Falten und Mini-Penis, Engelchen, wie sie auf Altären von Barockkirchen herumschwirren.“
„Wahrscheinlich haben sich an denen pädophile Barockbildhauer ausgetobt. Und manchem katholischen Priester hat deren Anblick bei seinen frommen Übungen geheime Lust bereitet.“
Er grinste. „Wie alt sind Sie eigentlich?“
„Fünfundzwanzig!“
„Und Ihr Name?“
„Anna!“
„Das war doch die Mutter der Gottesmutter Maria. Die Oma von Jesus.“
Ich zuckte mit den Schultern. Bereits in der Schule war Religion nicht mein Fach gewesen.
„Und Sie, wie heißen Sie?“
„Hans Hanstedt!“ Er sprach langsam, als müsste er sich erinnern. „Ja, Hans Hanstedt.“
„Ich bin neunundsechzig.“ Im Krieg geboren. Am besten wurde man damals gar nicht geboren oder kam gleich im Soldatenalter zur Welt. Der Führer brauchte Soldaten. Meine Mutter baute in unterirdischen Fabrikanlagen Granaten zusammen, während mein Vater in Russland angeblich deutsche Frauen und Kinder verteidigen musste. Heute verteidigen sie auch wieder Deutschland am Hindukusch.“
Er stieß mit beiden Ellenbogen gleichzeitig auf den Tisch, nahm den Kopf zwischen die Hände, hielt sich die Ohren zu, schloss die Augen, öffnete sie wieder und lächelte. „Für meine Mutter war ich damals, als mein Vater im Krieg war, Kopfkissen. Sie nahm mich mit in ihr Bett und legte ihren Kopf auf meine Brust. So konnte sie am besten einschlafen. Jedenfalls behauptete sie das.“
Erneut wurden meine Augen feucht. Er rutschte neben mich auf die Bank, roch nach Spätsommerabend, räusperte sich und fragte leise, ob er seinen Kopf auf meine Schulter legen dürfe.
Unwillkürlich rutschte ich ein Stück von ihm weg und dann wieder zurück.
„Nur meinen Kopf?! Meine Frau hat mich früher im Bett immer aufgefordert, ich sollte mich doch einmal richtig auf sie legen. Konnte ich nicht. Schließlich lief sie mir weg. Vor acht Jahren. Nach über fünfunddreißig Jahren. Hat nur einen Zettel hinterlassen. Habe dich nie gespürt, stand darauf.“
Vorsichtig schob ich den Alten ein wenig von mir weg und stand auf. „Ich fahre jetzt zu meinem Freund!“ sagte ich und wunderte mich über meinen harten Tonfall.
Er nickte. „Den Kaffee zahle ich! Und ich würde mich freuen, wenn wir uns morgen hier wieder treffen!“
„Von mir aus! Gegen Mittag?“
„Morgen gegen Mittag!“
Sascha traf ich nicht an. Als ich auf der Rückfahrt am Busbahnhof umsteigen musste, ging ich noch einmal kurz in die Kneipe. Hans Hanstedt war nicht mehr da. Der Kellner winkte mir mit einem Zettel. „Von dem Grauhaarigen! Soll Ihnen den eigentlich erst morgen geben.“
„Könnte dich belasten! Hans.“ Stand in zittriger Schrift auf dem Zettel.
Der Kellner sah mich neugierig an.
„Wissen Sie, wo ich den Alten finden kann?“
„Nein. Habe ihn, soweit ich mich erinnern kann, erst zweimal hier gesehen. Mit Ihnen.“

Heute Morgen ging ich sofort in die Busbahnhofskneipe.
„Er war gestern Abend noch einmal hier! Mit einer älteren Frau.“ Der Kellner lächelte verlegen.
„Haben ziemlich viel getrunken, die Beiden. Betrunken waren sie aber nicht. Als er die Kneipe verließ, riss er sich von der Frau los und rannte über die Fahrbahn. Wurde vom Bus angefahren. War nicht so schlimm. Dennoch haben sie ihn mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren. Die Frau fuhr mit.

Ich nahm den Bus zum Krankenhaus.
„Den haben wir gerade wieder entlassen. Wir haben ihn gründlich geröngt und eine Nacht hier behalten. Hatte keine inneren Verletzungen. Eine ältere Frau hat ihn abgeholt. Sie hatte ihn auch am Unfallabend ins Krankenhaus begleitet. Sind Sie seine Tochter? Ich darf nur Angehörigen Auskunft geben.“
„Nein, nur eine Bekannte. Leider!“
Die Krankenschwester zuckte mit den Schultern. „ Er hat mir gesagt, er würde heute seine neue Wohnung beziehen. Er habe endlich eine mit Balkon gefunden.“

Ich fuhr zu Sascha. Lachend begrüßte er mich. Und als er mir erklärte, warum er nicht gekommen und die ganze Zeit nicht zu Hause war, wusste ich, dass er log. Wir schliefen miteinander. Doch als er mich fragte, ob wir nicht zusammenziehen sollten, schüttelte ich den Kopf. „Mit dir könnte ich nie an warmen Spätsommerabenden auf dem Balkon sitzen!“
Sascha runzelte die Stirn. „Seit wann stehst du auf Kitsch?“
Ich zuckte mit den Schultern, zog mich an und ging.
 
B

bluefin

Gast
lieber @karl,

so was wie das hier nennt man freundlich "routiniert geschrieben". ich hab's bis zu ende gelesen, weil mir die anmutung, ein vierzig jahre älterer könnte die gefühle und das denken eines jungen mädchens beschreiben, gefallen hat.

walfische wie ich kennen sich da nämlich so gut wie gar nicht aus; ihr leben lang standen und stehen sie ziemlich ratlos vor dem s. o.. gewiss, bis zu einem bestimmten maß vermag auch ein leviathan die sprache und die mimik einer prinzessin zu deuten; eine vollständige und vor allem simultane übersetzung in die eigene aber gelingt ihm nie.

ob ein mädchen wirklich so denkt, wenn sich ein alter lurch heran macht und ein paar sprüche dabeihat, von seinen gebresten, vom krieg und von muttern, weiß ich also nicht so genau. ich halte aber es für wenig wahrscheinlich, weil meiner erfahrung nach das abtörnendste, mit dem man einem mädel gleich zu beginn überhaupt kommen kann (ganz egal, wie alt man ist), der verweis auf die eigene mutti ist. die mädelz machen dann immer gleich alle schotten dicht, bei dem gejammer - weil sie's sind, die ihr köpfchen anlehnen wollen, und nicht umgekehrt.

was dich, lieber @karl, dazu gebracht hat, uns diese geschichte so zu erzählen, versteh ich also nicht recht; dein lyrich lässt mich rätseln - vor allem, warum in aller welt es den süßen sascha zugunsten eines langweiligen spätsommer-balkonabends sausen lässt. dieses abschlussbild ist ein bisschen arg grotesk, finde ich.

ich glaube, wenn wir unser wunschdenken allzu offensichtlich auf s. os. übertragen, erleiden wir nicht nur im leben, sondern auch im literarischen mehr oder weniger schiffbruch: weder die s. os. noch die leser kauften's uns ab - die sind doch nicht blöd...

nichts für ungut und liebe grüße aus münchen

bluefin
 
Lieber Bluefin,
seit vielen Jahren arbeite ich im psychotherapeutischen Bereich. Und die Menschen werden immer mehr, deren Eltern nicht mehr bereit sind, die Elternrolle zu übernehmen. Ja, sie parentifizieren (zu Eltern machen) ihre Kinder. Und genau solche jungen Frauen, fahren häufig auf Vaterfiguren ab, die eigentlich selbst Kinder geblieben sind. Sie entwickeln gleichzeitig Kinder- und Elterngefühle.
Das ist die Psychologie, die hinter der Erzählung steckt.
Also jene junge Frau ist nicht die emanzipiert abgebrühte, an die du beim Lesen der Erzählung möglicher Weise gedacht hast.
Herzliche Grüße
Karl
 

FrankK

Mitglied
Hallo Karl

Eine nette Geschichte, ich empfinde sie als gut und flüssig geschrieben. Der Titel lässt zunächst was anderes vermuten, vor allem nach seinem Ausblick in den Ausschnitt ihres Pullis. ;)
Hat mir insgesamt gut gefallen bis auf drei winzige Kleinigkeiten:

Außerdem war ich vorgestern gar nicht mit ihm sondern mit Sascha verabredet. Sascha war jünger als ich und kam öfter nicht. Gestern auch nicht.
Sollte es nicht eher "Vorgestern auch nicht." lauten?

„Ich bin neunundsechzig.“ Im Krieg geboren. Am besten wurde man damals gar nicht geboren oder kam gleich im Soldatenalter zur Welt. Der Führer brauchte Soldaten. Meine Mutter baute in unterirdischen Fabrikanlagen Granaten zusammen, während mein Vater in Russland angeblich deutsche Frauen und Kinder verteidigen musste. Heute verteidigen sie auch wieder Deutschland am Hindukusch.“
Die abschließenden Anführungszeichen nach "neunundsechzig" sind zuviel.

„Für meine Mutter war ich damals, als mein Vater im Krieg war, Kopfkissen. Sie nahm mich mit in ihr Bett und legte ihren Kopf auf meine Brust. So konnte sie am besten einschlafen. Jedenfalls behauptete sie das.“
Dies liest sich nicht so ganz schlüssig. Wenn ich zurückrechne, war Hans 1939 geboren, bis Kriegsende gerade 6 Jahre alt. Ein Säugling als Kopfkissen passt nicht, sowas macht keine Mutter. An die gesamte Geschichte dürfte er sich selbst auch kaum noch erinnern, er kennt dies nur aus den Erzählungen seiner Mutter.
Der Satz "Jedenfalls behauptete sie das." bezieht sich in dieser Konstellation wohl auch nur auf "So konnte sie am besten einschlafen." Leichter verständlich (für mich) wäre es in etwa in dieser Art:
"Meine Mutter erzählte mir immer, dass ich damals, als mein Vater im Krieg war, ihr Kopfkissen gewesen sei."
Nur als Beispiel.

Das war’s auch schon.

Das Hans so redselig dargestellt ist, erscheint mir nicht sehr verwunderlich. Seit acht Jahren von seiner Frau getrennt, "plappert" er wie ihm der Schnabel gewachsen ist, über Gott und die Welt. Es muss einfach aus ihm heraus.
Bestenfalls noch erstaunlich, dass er Anna nicht mit "Du" anspricht, aber vielleicht ist er ja auch noch ein "Kavalier alter Schule".
Annas Verhalten gegenüber Sascha, von dem man nicht viel mehr erfährt, als dass er Unzuverlässig und ein Lügner ist, ist doch auch leicht nachvollziehbar. Ob sie dafür in Hans unbedingt eine Art "Vaterfigur" sehen muss, erscheint mir irrelevant und für die Geschichte nicht notwendig.
Ein gut und gefühlvoll gezeichnetes Bild, diese Begegnung zwischen den Beiden.


Viele Grüße
Frank
 
Lieber Frank,
danke für deine weitgehend positive Kritik und deine Hinweise, die mich selbstverständlich zu den notwendigen Korrekturen veranlassen.
Das mit der Vaterfigur würde ich allerdings gern belassen, da man jungen Frauen, die sich auf ältere Männer einlassen, gern einen Vaterkomplex nachsagt. Hans ist aber eher ein alt gewordener kleiner Junge, der irgendwo heimlich immer noch hofft, dass Mama ihm Verantwortung abnimmt, die von ihm als Erwachsener erwartet wird.
Herzliche Grüße
Karl
 
„Die meisten Begegnungen sind Missverständnisse!“ Das jedenfalls sagte er vorgestern. Und gestern Morgen lief er mit ausgebreiteten Armen auf mich zu und drückte mich sehr fest an sich. Zu fest für noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden. Länger kannten wir uns nicht. Außerdem war ich vorgestern gar nicht mit ihm sondern mit Sascha verabredet. Sascha war jünger als ich und kam öfter nicht. Vorgestern auch nicht.
Der Alte lud mich zu einem Bier ein. Später zu weiteren. Nach Mitternacht brachte er mich nach Hause. Bis vor meine Wohnungstür. Keine Umarmung. Nicht einmal die Hand gab er mir.
Gestern Mittag trafen wir uns am Busbahnhof wieder. Zufällig, wie er behauptete. Eigentlich warte er auf seine neue Lebensgefährtin. Allerdings warte er schon über eine Stunde.
Natürlich wusste er, dass ich Sascha zur Rede stellen wollte. Nicht einmal angerufen hatte der mich gestern. Und bei Sascha meldete sich den ganzen Abend nur die Mailbox. Der Bus in die Nordstadt fährt ab Busbahnhof und Sascha wohnt dort. Sascha lacht immer. Selbst als ich ihn vor zwei Jahren für zwei Auslandssemester in Boston verließ.

Der Alte hielt mich lange fest. Zu lange. Er roch nach warmem Spätsommerabend. Dabei weiß ich gar nicht, wie warme Spätsommerabende wirklich riechen. Plötzlich ließ er mich los und lud mich zum Kaffee ein. Ich zögerte und wusste längst, dass ich mitgehen würde.
Wir setzten uns auf eine Polstereckbank in einer kaum beleuchteten Ecke der altdeutsch eingerichteten Busbahnhofskneipe und plauderten über Unverfängliches. Zunächst. Dann ließ er längere Gesprächspausen entstehen und ich sah mich gezwungen, sie mit Worten zu füllen. Zwischen den Pausen war er bemüht, im freundlichen Predigerton Geistreiches von sich zu geben.
„Wahrheiten…,“ sagte er, „sind unmodern. Selbst um letzte Wahrheiten reden sie herum!“
Er - mindestens vierzig Jahre älter als ich - fuhr sich nach jeder seiner Weisheiten mit beiden Händen durch die grauen Haare, die für sein Alter ungewöhnlich dicht waren.
„Selbst wenn einer todkrank oder uralt ist, versuchen sie, ihm einzureden, er habe noch Jahre zu leben. Können Wahrheiten einfach nicht mehr wahr sein lassen.“ Er stöhnte leise.
Nach einer besonders langen Pause begann er mit abfälliger Stimme von einer Frau zu erzählen, neben deren Auto er so nah geparkt hatte, dass er sich genötigt sah, sie zu fragen, ob der Abstand zwischen den beiden Autos noch reiche, um bequem in ihren Wagen einzusteigen. Voller Entrüstung habe die Frau, die etwa so alt wie er gewesen sei, den Bauch eingezogen, vorsichtig die Autotür geöffnet, aus- und wieder eingeatmet und triumphierend behauptet, in den letzten Monaten fünf Kilo abgenommen zu haben. Ob er das denn nicht sehe.
Doch, doch, allerdings sei er schon ein wenig kurzsichtig.
Gerade in den letzten Monaten, erzählte er mir nach einer Pause weiter, schaue er ständig Frauen - jungen Frauen - hinterher und stelle sich vor, mit ihnen zusammenzuleben. Am liebsten würde er sie sich einverleiben, um deren Energie in sich aufzusaugen. Natürlich habe das Kannibalisches, obwohl es ihm reiche, allein ihre Seelen zu vereinnahmen.
Er schüttelte den Kopf und redete leise weiter. Am sonderbarsten werde er, wenn er in der Nacht zuvor schlecht geschlafen habe. Und er schlafe seit Jahren in beinahe jeder Nacht nicht gerade gut.
Übrigens, wenn alte Männer meinen, auf plumpe Art zudringlich werden zu müssen, finde er das abscheulich. Dennoch legte er behutsam seine Hand auf die meine und begann sie zu streicheln. Ich ließ es geschehen. Aber er hörte schnell wieder auf und redete weiter.
„Wissen Sie, heute Nacht wurde ich gegen zwei Uhr wach. Gedanken nachtfalterten in meinem Kopf. Ich fror und stellte mir vor, eine Höhle in ein Steilufer hoch über dem Meer zu graben. Im Schoß der Erde fühle ich mich am sichersten.“
Meine Augen begannen unwillkürlich feucht zu werden. Aus Verlegenheit griff ich nach der leeren Kaffeetasse, tat, als würde ich ein Schlückchen trinken.
Als ich aufblickte, starrte er mir in den Pulli-Ausschnitt. Ertappt lächelte er und erzählte hastig, er sei auf der Suche nach einer neuen Wohnung. Einer mit Balkon. Auf Balkons fühle er sich wie ein kleines Kind, das von seiner Mutter getragen werde.“
Ich lachte. „Sie könnten zwar mein Vater sein, aber ich würde nie auf die Idee kommen, mich von ihnen tragen zu lassen.“
Bedauernd zuckte er mit den Schultern und griff sich stöhnend oberhalb der Taille in den Rücken. „Könnte Sie auch gar nicht mehr tragen! Übrigens neulich habe ich im Museum in einer Vitrine einen nackten kleinen schwarzen Engel aus Porzellan gesehen. Der war höchsten zwanzig Zentimeter groß, hatte den schlanken, wohlgeformten Körper einer Frau und stieß mit der rechten Hand einen goldenen Spieß in den Rücken eines nackten Mannes, wie ein Erzengel, der einem Drachen den Todesstoß versetzt.“
Ich versuchte zu lächeln. „Wenn ich an Engel denke, sehe ich vor mir immer diese Marmor-Putten mit Baby-Speck-Falten und Mini-Penis, Engelchen, wie sie auf Altären von Barockkirchen herumschwirren.“
„Wahrscheinlich haben sich an denen pädophile Barockbildhauer ausgetobt. Und manchem katholischen Priester hat deren Anblick bei seinen frommen Übungen geheime Lust bereitet.“
Er grinste. „Wie alt sind Sie eigentlich?“
„Fünfundzwanzig!“
„Und Ihr Name?“
„Anna!“
„Das war doch die Mutter der Gottesmutter Maria. Die Oma von Jesus.“
Ich zuckte mit den Schultern. Bereits in der Schule war Religion nicht mein Fach gewesen.
„Und Sie, wie heißen Sie?“
„Hans Hanstedt!“ Er sprach langsam, als müsste er sich erinnern. „Ja, Hans Hanstedt.“
„Ich bin achtundsechzig. Im Krieg geboren. Am besten wurde man damals gar nicht geboren oder kam gleich im Soldatenalter zur Welt. Der Führer brauchte Soldaten. Meine Mutter baute in unterirdischen Fabrikanlagen Granaten zusammen, während mein Vater in Russland angeblich deutsche Frauen und Kinder verteidigen musste. Heute verteidigen sie auch wieder Deutschland am Hindukusch.“
Er stieß mit beiden Ellenbogen gleichzeitig auf den Tisch, nahm den Kopf zwischen die Hände, hielt sich die Ohren zu, schloss die Augen, öffnete sie wieder und lächelte. „Für meine Mutter, hat sie mir erzählt, war ich, als mein Vater im Krieg war, ihr Kopfkissen. Sie nahm mich als ich nicht mehr ganz so klein war, mit in ihr Bett und legte ihren Kopf auf meine Brust. Nur so konnte sie einschlafen. Jedenfalls behauptete sie das.“
Erneut wurden meine Augen feucht. Er rutschte neben mich auf die Bank, roch nach Spätsommerabend, räusperte sich und fragte leise, ob er seinen Kopf auf meine Schulter legen dürfe.
Unwillkürlich rutschte ich ein Stück von ihm weg und dann wieder zurück.
„Nur meinen Kopf?! Meine Frau hat mich früher im Bett immer aufgefordert, ich sollte mich doch einmal richtig auf sie legen. Konnte ich nicht. Schließlich lief sie mir weg. Vor acht Jahren. Nach über fünfunddreißig Jahren. Hat nur einen Zettel hinterlassen. Habe dich nie gespürt, stand darauf.“
Vorsichtig schob ich den Alten ein wenig von mir weg und stand auf. „Ich fahre jetzt zu meinem Freund!“ sagte ich und wunderte mich über meinen harten Tonfall.
Er nickte. „Den Kaffee zahle ich! Und ich würde mich freuen, wenn wir uns morgen hier wieder treffen!“
„Von mir aus! Gegen Mittag?“
„Morgen gegen Mittag!“
Sascha traf ich nicht an. Als ich auf der Rückfahrt am Busbahnhof umsteigen musste, ging ich noch einmal kurz in die Kneipe. Hans Hanstedt war nicht mehr da. Der Kellner winkte mir mit einem Zettel. „Von dem Grauhaarigen! Soll Ihnen den eigentlich erst morgen geben.“
„Könnte dich belasten! Hans.“ Stand in zittriger Schrift auf dem Zettel.
Der Kellner sah mich neugierig an.
„Wissen Sie, wo ich den Alten finden kann?“
„Nein. Habe ihn, soweit ich mich erinnern kann, erst zweimal hier gesehen. Mit Ihnen.“

Heute Morgen ging ich sofort in die Busbahnhofskneipe.
„Er war gestern Abend noch einmal hier! Mit einer älteren Frau.“ Der Kellner lächelte verlegen.
„Haben ziemlich viel getrunken, die Beiden. Betrunken waren sie aber nicht. Als er die Kneipe verließ, riss er sich von der Frau los und rannte über die Fahrbahn. Wurde vom Bus angefahren. War nicht so schlimm. Dennoch haben sie ihn mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren. Die Frau fuhr mit.

Ich nahm den Bus zum Krankenhaus.
„Den haben wir gerade wieder entlassen. Wir haben ihn gründlich geröngt und eine Nacht hier behalten. Hatte keine inneren Verletzungen. Eine ältere Frau hat ihn abgeholt. Sie hatte ihn auch am Unfallabend ins Krankenhaus begleitet. Sind Sie seine Tochter? Ich darf nur Angehörigen Auskunft geben.“
„Nein, nur eine Bekannte. Leider!“
Die Krankenschwester zuckte mit den Schultern. „ Er hat mir gesagt, er würde heute seine neue Wohnung beziehen. Er habe endlich eine mit Balkon gefunden.“

Ich fuhr zu Sascha. Lachend begrüßte er mich. Und als er mir erklärte, warum er nicht gekommen und die ganze Zeit nicht zu Hause war, wusste ich, dass er log. Wir schliefen miteinander. Doch als er mich fragte, ob wir nicht zusammenziehen sollten, schüttelte ich den Kopf. „Mit dir könnte ich nie an warmen Spätsommerabenden auf dem Balkon sitzen!“
Sascha runzelte die Stirn. „Seit wann stehst du auf Kitsch?“
Ich zuckte mit den Schultern, zog mich an und ging.
 
B

bluefin

Gast
lieber @karl,

den reklamierten psychotherapeutischen ansatz in allen (un)ehren - das lyrich kommt mir nicht so beschrieben vor, als hätte es einen spätsommerlichen balkon in der gerontopsychatrie nötig, wohl aber ihr das verfallsdatum weit überschreitender adonis.

gewiss, es mag ein paar junge mädchen geben, die so fehlgesteuert sind, dass sie auf ihre großväter abfahren. sicher wolltest du aber durch deine replik nicht zum ausdruck bringen, es sei aufgabe eines "therapeuten", die armen würstchen zu sich ins bett zu kriegen.

ich bleibe dabei: die geschichte "stinkt" ein bisschen; wer genau hinschnuppert, riecht's und und kann nicht ergriffen sein, sondern ist betroffen (um dieses schauerlichste aller worte wieder mal auszuspeien).

nicht böse sein, bitte: es geht um literatur, nicht um weltanschauung.

liebe grüße aus münchen

bluefin
 
Lieber bluefin,
böse bin ich dir überhaupt nicht, da ich mich ja hier im Forum bewusst der Kritik stellen will.
Nein, ein Therapeut kommt meines Wissens nicht in der Geschichte vor.
Und warum sollen eigentlich jene "Würstchen" nicht auch zu literarischen Ehren kommen?. In Literatur muss doch nicht automatisch das "mainstream girl" vorkommen.
Mich interessieren ohnehin eher Außenseiter/innen...
In der Geschichte geht es exakt um den sein Verfallsdatumn fast überschreitenden Adonis, der eben keine junge Bettgenossin(sondern immer noch eine ernergievolle Mutter) sucht. Übrigens gibt es für solche Paare durchaus prominente "Vorbilder". Ich denke da an jenen über 100 Jahre alten ewigen "Charmeur" Jopi Heesters und seine "junge Mutter".
Ein Lyr-Ich kann ich in diesem Prosatext übrigens überhaupt nicht entdecken. Wenn meinst du damit?
Herzliche Grüße
Karl (auch weiterhin nicht böse)
 
B

bluefin

Gast
lieber @karl,

das lyrich ist studentin und der lyrlurch "mindestens" 40 jahre älter - dann ist "es" höchstens dreißig und er mindestens siebzig. natürlich kommt der "therapeut" in der geschichte nicht vor: er steht vielmehr dahinter, wie du mir erklären wolltest.

eine "energievolle mutter" liest man aus deiner geschichte nicht heraus und auch sonst nichts, was die liebe eines mädchens zum großvater (nicht zum vater!!) begründen könnte.

ich bin zwar kein psychologe, aber ich weiß ziemlich genau, was dabei herauskommt, wenn opa glaubt, eine enkelin "belasten" zu müssen: manchmal wird's zu einem walfisch.

liebe grüße aus münchen

bluefin
 
„Die meisten Begegnungen sind Missverständnisse!“ Das jedenfalls sagte er vorgestern. Und gestern Morgen lief er mit ausgebreiteten Armen auf mich zu und drückte mich sehr fest an sich. Zu fest für noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden. Länger kannten wir uns nicht. Außerdem war ich vorgestern gar nicht mit ihm sondern mit Sascha verabredet. Sascha war jünger als ich und kam öfter nicht. Vorgestern auch nicht.
Der Alte lud mich zu einem Bier ein. Später zu weiteren. Nach Mitternacht brachte er mich nach Hause. Bis vor meine Wohnungstür. Keine Umarmung. Nicht einmal die Hand gab er mir.
Gestern Mittag trafen wir uns am Busbahnhof wieder. Zufällig, wie er behauptete. Eigentlich warte er auf seine neue Lebensgefährtin. Allerdings warte er schon über eine Stunde.
Natürlich wusste er, dass ich Sascha zur Rede stellen wollte. Nicht einmal angerufen hatte der mich gestern. Und bei Sascha meldete sich den ganzen Abend nur die Mailbox. Der Bus in die Nordstadt fährt ab Busbahnhof und Sascha wohnt dort. Sascha lacht immer. Selbst als ich ihn vor zwei Jahren für zwei Auslandssemester in Boston verließ.

Der Alte hielt mich lange fest. Zu lange. Er roch nach warmem Spätsommerabend. Dabei weiß ich gar nicht, wie warme Spätsommerabende wirklich riechen. Plötzlich ließ er mich los und lud mich zum Kaffee ein. Ich zögerte und wusste längst, dass ich mitgehen würde.
Wir setzten uns auf eine Polstereckbank in einer kaum beleuchteten Ecke der altdeutsch eingerichteten Busbahnhofskneipe und plauderten über Unverfängliches. Zunächst. Dann ließ er längere Gesprächspausen entstehen und ich sah mich gezwungen, sie mit Worten zu füllen. Zwischen den Pausen war er bemüht, im freundlichen Predigerton Geistreiches von sich zu geben.
„Wahrheiten…,“ sagte er, „sind unmodern. Selbst um letzte Wahrheiten reden sie herum!“
Er - mindestens vierzig Jahre älter als ich - fuhr sich nach jeder seiner Weisheiten mit beiden Händen durch die grauen Haare, die für sein Alter ungewöhnlich dicht waren.
„Selbst wenn einer todkrank oder uralt ist, versuchen sie, ihm einzureden, er habe noch Jahre zu leben. Können Wahrheiten einfach nicht mehr wahr sein lassen.“ Er stöhnte leise.
Nach einer besonders langen Pause begann er mit abfälliger Stimme von einer Frau zu erzählen, neben deren Auto er so nah geparkt hatte, dass er sich genötigt sah, sie zu fragen, ob der Abstand zwischen den beiden Autos noch reiche, um bequem in ihren Wagen einzusteigen. Voller Entrüstung habe die Frau, die etwa so alt wie er gewesen sei, den Bauch eingezogen, vorsichtig die Autotür geöffnet, aus- und wieder eingeatmet und triumphierend behauptet, in den letzten Monaten fünf Kilo abgenommen zu haben. Ob er das denn nicht sehe.
Doch, doch, allerdings sei er schon ein wenig kurzsichtig.
Gerade in den letzten Monaten, erzählte er mir nach einer Pause weiter, schaue er ständig Frauen - jungen Frauen - hinterher und stelle sich vor, mit ihnen zusammenzuleben. Am liebsten würde er sie sich einverleiben, um deren Energie in sich aufzusaugen. Natürlich habe das Kannibalisches, obwohl es ihm reiche, allein ihre Seelen zu vereinnahmen.
Er schüttelte den Kopf und redete leise weiter. Am sonderbarsten werde er, wenn er in der Nacht zuvor schlecht geschlafen habe. Und er schlafe seit Jahren in beinahe jeder Nacht nicht gerade gut.
Übrigens, wenn alte Männer meinen, auf plumpe Art zudringlich werden zu müssen, finde er das abscheulich. Dennoch legte er behutsam seine Hand auf die meine und begann sie zu streicheln. Ich ließ es geschehen. Aber er hörte schnell wieder auf und redete weiter.
„Wissen Sie, heute Nacht wurde ich gegen zwei Uhr wach. Gedanken nachtfalterten in meinem Kopf. Ich fror und stellte mir vor, eine Höhle in ein Steilufer hoch über dem Meer zu graben. Im Schoß der Erde fühle ich mich am sichersten.“
Meine Augen begannen unwillkürlich feucht zu werden. Aus Verlegenheit griff ich nach der leeren Kaffeetasse, tat, als würde ich ein Schlückchen trinken.
Als ich aufblickte, starrte er mir in den Pulli-Ausschnitt. Ertappt lächelte er und erzählte hastig, er sei auf der Suche nach einer neuen Wohnung. Einer mit Balkon. Auf Balkons fühle er sich wie ein kleines Kind, das von seiner Mutter getragen werde.“
Ich lachte. „Sie könnten zwar mein Vater sein, aber ich würde nie auf die Idee kommen, mich von ihnen tragen zu lassen.“
Bedauernd zuckte er mit den Schultern und griff sich stöhnend oberhalb der Taille in den Rücken. „Könnte Sie auch gar nicht mehr tragen! Übrigens neulich habe ich im Museum in einer Vitrine einen nackten kleinen schwarzen Engel aus Porzellan gesehen. Der war höchsten zwanzig Zentimeter groß, hatte den schlanken, wohlgeformten Körper einer Frau und stieß mit der rechten Hand einen goldenen Spieß in den Rücken eines nackten Mannes, wie ein Erzengel, der einem Drachen den Todesstoß versetzt.“
Ich versuchte zu lächeln. „Wenn ich an Engel denke, sehe ich vor mir immer diese Marmor-Putten mit Baby-Speck-Falten und Mini-Penis, Engelchen, wie sie auf Altären von Barockkirchen herumschwirren.“
„Wahrscheinlich haben sich an denen pädophile Barockbildhauer ausgetobt. Und manchem katholischen Priester hat deren Anblick bei seinen frommen Übungen geheime Lust bereitet.“
Er grinste. „Wie alt sind Sie eigentlich?“
„Fünfundzwanzig!“
„Und Ihr Name?“
„Anna!“
„Das war doch die Mutter der Gottesmutter Maria. Die Oma von Jesus.“
Ich zuckte mit den Schultern. Bereits in der Schule war Religion nicht mein Fach gewesen.
„Und Sie, wie heißen Sie?“
„Hans Hanstedt!“ Er sprach langsam, als müsste er sich erinnern. „Ja, Hans Hanstedt.“
„Ich bin achtundsechzig. Im Krieg geboren. Am besten wurde man damals gar nicht geboren oder kam gleich im Soldatenalter zur Welt. Der Führer brauchte Soldaten. Meine Mutter baute in unterirdischen Fabrikanlagen Granaten zusammen, während mein Vater in Russland angeblich deutsche Frauen und Kinder verteidigen musste. Heute verteidigen sie auch wieder Deutschland am Hindukusch.“
Er stieß mit beiden Ellenbogen gleichzeitig auf den Tisch, nahm den Kopf zwischen die Hände, hielt sich die Ohren zu, schloss die Augen, öffnete sie wieder und lächelte. „Für meine Mutter, hat sie mir erzählt, war ich, als mein Vater im Krieg war, ihr Kopfkissen. Sie nahm mich als ich nicht mehr ganz so klein war, mit in ihr Bett und legte ihren Kopf auf meine Brust. Nur so konnte sie einschlafen. Jedenfalls behauptete sie das.“
Erneut wurden meine Augen feucht. Er rutschte neben mich auf die Bank, roch nach Spätsommerabend, räusperte sich und fragte leise, ob er seinen Kopf auf meine Schulter legen dürfe.
Unwillkürlich rutschte ich ein Stück von ihm weg und dann wieder zurück.
„Nur meinen Kopf?! Meine Frau hat mich früher im Bett immer aufgefordert, ich sollte mich doch einmal richtig auf sie legen. Konnte ich nicht. Schließlich lief sie mir weg. Vor acht Jahren. Nach über fünfunddreißig Jahren. Hat nur einen Zettel hinterlassen. Habe dich nie gespürt, stand darauf.“
Vorsichtig schob ich den Alten ein wenig von mir weg und stand auf. „Ich fahre jetzt zu meinem Freund!“ sagte ich und wunderte mich über meinen harten Tonfall.
Er nickte. „Den Kaffee zahle ich! Und ich würde mich freuen, wenn wir uns morgen hier wieder treffen!“
„Von mir aus! Gegen Mittag?“
„Morgen gegen Mittag!“
Sascha traf ich nicht an. Als ich auf der Rückfahrt am Busbahnhof umsteigen musste, ging ich noch einmal kurz in die Kneipe. Hans Hanstedt war nicht mehr da. Der Kellner winkte mir mit einem Zettel. „Von dem Grauhaarigen! Soll Ihnen den eigentlich erst morgen geben.“
„Könnte dich belasten! Hans.“ Stand in zittriger Schrift auf dem Zettel.
Der Kellner sah mich neugierig an.
„Wissen Sie, wo ich den Alten finden kann?“
„Nein. Habe ihn, soweit ich mich erinnern kann, erst zweimal hier gesehen. Mit Ihnen.“

Heute Morgen ging ich sofort in die Busbahnhofskneipe.
„Er war gestern Abend noch einmal hier! Mit einer älteren Frau.“ Der Kellner lächelte verlegen.
„Haben ziemlich viel getrunken, die Beiden. Betrunken waren sie aber nicht. Als er die Kneipe verließ, riss er sich von der Frau los und rannte über die Fahrbahn. Wurde vom Bus angefahren. War nicht so schlimm. Dennoch haben sie ihn mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren. Die Frau fuhr mit.

Ich nahm den Bus zum Krankenhaus.
„Den haben wir gerade wieder entlassen. Wir haben ihn gründlich geröngt und eine Nacht hier behalten. Hatte keine inneren Verletzungen. Eine ältere Frau hat ihn abgeholt. Sie hatte ihn auch am Unfallabend ins Krankenhaus begleitet. Sind Sie seine Tochter? Ich darf nur Angehörigen Auskunft geben.“
„Nein, nur eine Bekannte. Leider!“
Die Krankenschwester zuckte mit den Schultern. „ Er hat mir gesagt, er würde heute seine neue Wohnung beziehen. Er habe endlich eine mit Balkon gefunden.“
 
Gestern Morgen lief er mit ausgebreiteten Armen auf mich zu und drückte mich sehr fest an sich. Zu fest für noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden. Länger kannten wir uns nicht. Außerdem war ich vorgestern gar nicht mit ihm sondern mit Sascha verabredet. Sascha war jünger als ich und kam öfter nicht. Vorgestern auch nicht.
Der Alte lud mich zu einem Bier ein. Später zu weiteren. Nach Mitternacht brachte er mich nach Hause. Bis vor meine Wohnungstür. Keine Umarmung. Nicht einmal die Hand gab er mir.
Gestern Mittag trafen wir uns am Busbahnhof wieder. Zufällig, wie er behauptete. Eigentlich warte er auf seine neue Lebensgefährtin. Allerdings warte er schon über eine Stunde.
Natürlich wusste er, dass ich Sascha zur Rede stellen wollte. Nicht einmal angerufen hatte der mich gestern. Und bei Sascha meldete sich den ganzen Abend nur die Mailbox. Der Bus in die Nordstadt fährt ab Busbahnhof und Sascha wohnt dort. Sascha lacht immer. Selbst als ich ihn vor zwei Jahren für zwei Auslandssemester in Boston verließ.

Der Alte hielt mich lange fest. Zu lange. Er roch nach warmem Spätsommerabend. Dabei weiß ich gar nicht, wie warme Spätsommerabende wirklich riechen. Plötzlich ließ er mich los und lud mich zum Kaffee ein. Ich zögerte und wusste längst, dass ich mitgehen würde.
Wir setzten uns auf eine Polstereckbank in einer kaum beleuchteten Ecke der altdeutsch eingerichteten Busbahnhofskneipe und plauderten über Unverfängliches. Zunächst. Dann ließ er längere Gesprächspausen entstehen und ich sah mich gezwungen, sie mit Worten zu füllen. Zwischen den Pausen war er bemüht, im freundlichen Predigerton Geistreiches von sich zu geben.
„Wahrheiten…,“ sagte er, „sind unmodern. Selbst um letzte Wahrheiten reden sie herum!“
Er - mindestens vierzig Jahre älter als ich - fuhr sich nach jeder seiner Weisheiten mit beiden Händen durch die grauen Haare, die für sein Alter ungewöhnlich dicht waren.
„Selbst wenn einer todkrank oder uralt ist, versuchen sie, ihm einzureden, er habe noch Jahre zu leben. Können Wahrheiten einfach nicht mehr wahr sein lassen.“ Er stöhnte leise.
Nach einer besonders langen Pause begann er mit abfälliger Stimme von einer Frau zu erzählen, neben deren Auto er so nah geparkt hatte, dass er sich genötigt sah, sie zu fragen, ob der Abstand zwischen den beiden Autos noch reiche, um bequem in ihren Wagen einzusteigen. Voller Entrüstung habe die Frau, die etwa so alt wie er gewesen sei, den Bauch eingezogen, vorsichtig die Autotür geöffnet, aus- und wieder eingeatmet und triumphierend behauptet, in den letzten Monaten fünf Kilo abgenommen zu haben. Ob er das denn nicht sehe.
Doch, doch, allerdings sei er schon ein wenig kurzsichtig.
Gerade in den letzten Monaten, erzählte er mir nach einer Pause weiter, schaue er ständig Frauen - jungen Frauen - hinterher und stelle sich vor, mit ihnen zusammenzuleben. Am liebsten würde er sie sich einverleiben, um deren Energie in sich aufzusaugen. Natürlich habe das Kannibalisches, obwohl es ihm reiche, allein ihre Seelen zu vereinnahmen.
Er schüttelte den Kopf und redete leise weiter. Am sonderbarsten werde er, wenn er in der Nacht zuvor schlecht geschlafen habe. Und er schlafe seit Jahren in beinahe jeder Nacht nicht gerade gut.
Übrigens, wenn alte Männer meinen, auf plumpe Art zudringlich werden zu müssen, finde er das abscheulich. Dennoch legte er behutsam seine Hand auf die meine und begann sie zu streicheln. Ich ließ es geschehen. Aber er hörte schnell wieder auf und redete weiter.
„Wissen Sie, heute Nacht wurde ich gegen zwei Uhr wach. Gedanken nachtfalterten in meinem Kopf. Ich fror und stellte mir vor, eine Höhle in ein Steilufer hoch über dem Meer zu graben. Im Schoß der Erde fühle ich mich am sichersten.“
Meine Augen begannen unwillkürlich feucht zu werden. Aus Verlegenheit griff ich nach der leeren Kaffeetasse, tat, als würde ich ein Schlückchen trinken.
Als ich aufblickte, starrte er mir in den Pulli-Ausschnitt. Ertappt lächelte er und erzählte hastig, er sei auf der Suche nach einer neuen Wohnung. Einer mit Balkon. Auf Balkons fühle er sich wie ein kleines Kind, das von seiner Mutter getragen werde.“
Ich lachte. „Sie könnten zwar mein Vater sein, aber ich würde nie auf die Idee kommen, mich von ihnen tragen zu lassen.“
Bedauernd zuckte er mit den Schultern und griff sich stöhnend oberhalb der Taille in den Rücken. „Könnte Sie auch gar nicht mehr tragen! Übrigens neulich habe ich im Museum in einer Vitrine einen nackten kleinen schwarzen Engel aus Porzellan gesehen. Der war höchsten zwanzig Zentimeter groß, hatte den schlanken, wohlgeformten Körper einer Frau und stieß mit der rechten Hand einen goldenen Spieß in den Rücken eines nackten Mannes, wie ein Erzengel, der einem Drachen den Todesstoß versetzt.“
Ich versuchte zu lächeln. „Wenn ich an Engel denke, sehe ich vor mir immer diese Marmor-Putten mit Baby-Speck-Falten und Mini-Penis, Engelchen, wie sie auf Altären von Barockkirchen herumschwirren.“
„Wahrscheinlich haben sich an denen pädophile Barockbildhauer ausgetobt. Und manchem katholischen Priester hat deren Anblick bei seinen frommen Übungen geheime Lust bereitet.“
Er grinste. „Wie alt sind Sie eigentlich?“
„Fünfundzwanzig!“
„Und Ihr Name?“
„Anna!“
„Das war doch die Mutter der Gottesmutter Maria. Die Oma von Jesus.“
Ich zuckte mit den Schultern. Bereits in der Schule war Religion nicht mein Fach gewesen.
„Und Sie, wie heißen Sie?“
„Hans Hanstedt!“ Er sprach langsam, als müsste er sich erinnern. „Ja, Hans Hanstedt.“
„Ich bin achtundsechzig. Im Krieg geboren. Am besten wurde man damals gar nicht geboren oder kam gleich im Soldatenalter zur Welt. Der Führer brauchte Soldaten. Meine Mutter baute in unterirdischen Fabrikanlagen Granaten zusammen, während mein Vater in Russland angeblich deutsche Frauen und Kinder verteidigen musste. Heute verteidigen sie auch wieder Deutschland am Hindukusch.“
Er stieß mit beiden Ellenbogen gleichzeitig auf den Tisch, nahm den Kopf zwischen die Hände, hielt sich die Ohren zu, schloss die Augen, öffnete sie wieder und lächelte. „Für meine Mutter, hat sie mir erzählt, war ich, als mein Vater im Krieg war, ihr Kopfkissen. Sie nahm mich als ich nicht mehr ganz so klein war, mit in ihr Bett und legte ihren Kopf auf meine Brust. Nur so konnte sie einschlafen. Jedenfalls behauptete sie das.“
Erneut wurden meine Augen feucht. Er rutschte neben mich auf die Bank, roch nach Spätsommerabend, räusperte sich und fragte leise, ob er seinen Kopf auf meine Schulter legen dürfe.
Unwillkürlich rutschte ich ein Stück von ihm weg und dann wieder zurück.
„Nur meinen Kopf?! Meine Frau hat mich früher im Bett immer aufgefordert, ich sollte mich doch einmal richtig auf sie legen. Konnte ich nicht. Schließlich lief sie mir weg. Vor acht Jahren. Nach über fünfunddreißig Jahren. Hat nur einen Zettel hinterlassen. Habe dich nie gespürt, stand darauf.“
Vorsichtig schob ich den Alten ein wenig von mir weg und stand auf. „Ich fahre jetzt zu meinem Freund!“ sagte ich und wunderte mich über meinen harten Tonfall.
Er nickte. „Den Kaffee zahle ich! Und ich würde mich freuen, wenn wir uns morgen hier wieder treffen!“
„Von mir aus! Gegen Mittag?“
„Morgen gegen Mittag!“
Sascha traf ich nicht an. Als ich auf der Rückfahrt am Busbahnhof umsteigen musste, ging ich noch einmal kurz in die Kneipe. Hans Hanstedt war nicht mehr da. Der Kellner winkte mir mit einem Zettel. „Von dem Grauhaarigen! Soll Ihnen den eigentlich erst morgen geben.“
„Könnte dich belasten! Hans.“ Stand in zittriger Schrift auf dem Zettel.
Der Kellner sah mich neugierig an.
„Wissen Sie, wo ich den Alten finden kann?“
„Nein. Habe ihn, soweit ich mich erinnern kann, erst zweimal hier gesehen. Mit Ihnen.“

Heute Morgen ging ich sofort in die Busbahnhofskneipe.
„Er war gestern Abend noch einmal hier! Mit einer älteren Frau.“ Der Kellner lächelte verlegen.
„Haben ziemlich viel getrunken, die Beiden. Betrunken waren sie aber nicht. Als er die Kneipe verließ, riss er sich von der Frau los und rannte über die Fahrbahn. Wurde vom Bus angefahren. War nicht so schlimm. Dennoch haben sie ihn mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren. Die Frau fuhr mit.

Ich nahm den Bus zum Krankenhaus.
„Den haben wir gerade wieder entlassen. Wir haben ihn gründlich geröngt und eine Nacht hier behalten. Hatte keine inneren Verletzungen. Eine ältere Frau hat ihn abgeholt. Sie hatte ihn auch am Unfallabend ins Krankenhaus begleitet. Sind Sie seine Tochter? Ich darf nur Angehörigen Auskunft geben.“
„Nein, nur eine Bekannte. Leider!“
Die Krankenschwester zuckte mit den Schultern. „ Er hat mir gesagt, er würde heute seine neue Wohnung beziehen. Er habe endlich eine mit Balkon gefunden.“
 
Ihr Lieben,
inzwischen habe ich meine Erzählung noch um ein paar Sätze gekürzte, die ich nach euren Kritik inzwischen für überflüssig halte.
Gruß
Karl
 
B

bluefin

Gast
lieber @karl,

das eigentliche "problem" deiner story ist ja nicht, dass es mädchen gibt, die sich mit opas einlassen, sondern warum sie's im einzelfalle tun. und da, finde ich, klemmt's immer noch: das lyrische ich ist ein konstrukt, das dir so niemand abnehmen kann. kein vernünftiges mädchen würde auf den (entschuldige!) schmarren, den ihm opa da anbietet, wirklich so abfahren, dass es ihm gleich nachläuft.

dass opa einem mäderl noch in den ausschnitt guckt und es "belasten" will, ist (beinahe) normal - die besonderheit ist der von dir postulierte umkehrfall. über den auslöser dieser aberration erfahren nichts, obwohl der doch der eigentliche ansatz wäre. findest du nicht auch?

liebe grüße aus münchen

bluefin
 
Lieber bluefin,
über ein vernünftiges Mädchen habe ich nun wirklich nicht geschrieben.
Und jener Opa belastet ja schließlich dieses Mädchen auch nicht. Sein Wunsch nach Getragen-Werden bleibt Sehnsucht, wurde er doch schon von seiner mädchenhaften Mutter nicht getragen.
Aber ich will meinen Text gar nicht weiter verteidigen. Irgendwo spüre ich auch, dass ihm etwas fehlt. Allerdings weiß ich noch nicht so recht, was.
Gruß
Karl
 
B

bluefin

Gast
warum solltest du deinen text nicht verteidigen? er ist doch nicht schlecht geschrieben - "routiniert", wie schon ganz zu anfang bemerkt.

was ihm fehlt, ist der zugang zur protagonistin. es wird nicht klar, warum sie sich so verhält, wie sie's tut. sie wehrt nicht ab, wie's eigentlich normal wäre, sondern empfindet angeblich sympatie für einen modergeruch, der euphemistisch mit "herbstlich" bezeichnet wird. wovon diese "sympathie" geweckt sein könnte, erfahren wir nicht. das gejammer des alten kann's jedenfalls nicht sein.

ich hab's schon mal gesagt - es ist verdammt schwer, als (älterer) mann in die psyche eines mädchens zu schlüpfen. was im innern des s. o. wirklich so abgeht, wissen wir mannsbilder ja nicht mal bei gleichaltrigen so ganz genau, geschweige denn über zwei generationen hinweg. als literatur-opa über die beweg- oder gar abgründe einer fremden enkelin zu fabulieren (nota bene in form eines "lyrischen ichs") ist ein wagnis, das meiner meinung nach immer schief gehen muss.

"das mädchen und der tod" vom tod selbst aus der sicht des mädchens beschrieben? @kalli, sei ehrlich: das kann nicht klappen.

liebe grüße aus münchen

bluefin
 
Nun gut, lieber bluefin,
so recht geklappt hat es offenbar wirklich nicht. Ich hatte die Geschichte zuerst aus der Perspektive des Alten geschrieben. Dabei wäre ich wohl besser geblieben.
Danke noch einmal für dein Durchhaltevermögen.
Karl
 
B

bluefin

Gast
@kalli - wir sind hier drin versammelt, um über unsere texte zu diskutieren. nicht um uns honig ums maul zu schmieren, und auch nicht, um uns den schädel einzuschlagen.

es bedarf also - zumindest aus sicht eines walfischs - kein "durchhaltevermögen", sondern nur spaß an der freud. und beides, @kalli, hab ich mit dir und deinem text. an dir, weil du offenbar ein hirn hast und keine so zimperliche mimose bist wie manch anderer fürst hier drin, und am text, weil er mich interessiert.

on topic: mit sicherheit wäre eine umkehr der sicht im falle deines textes wesentlich authentischer. allerdings ist die nummer schon ziemlich abgenudelt (z. b. boell, frisch) und, vor allem: der autor kommt in die nähe (in die nähe!) eines greisen lustmolches. da heißt's behutsam sein, sonst gehört man gleich der katz!

sicher kennst du ashbys congenialen film "harold and maude". der ist nicht nur deshalb so cool, weil sich ein neurotisches jüngelchen in eine omi verknallt und cat stevens so unglaublich gute musik dazu macht, sondern auch, weil in ihm tatsäch liebe spürbar ist: http://www.youtube.com/watch?v=iYxOWPzZXBM&feature=related.

wahrscheinlich kommt's auf die an, bei der ganzen geschichte, und nicht auf's gemächt.

liebe grüße aus münchen

bluefin
 

Buecherbiene

Mitglied
Hallo Karl Feldkamp,
mir persönlich hat der Schluss am besten gefallen. Was mich mittendrin ein bischen umgangssprachlich stört, ist der oft benannte "Alte", obwohl natürlich diese Bezeichnung aus der Sicht der jungen Dame geradezu berechtigt ist. Ein etwa 65 Jähriger hat auch nicht unbedingt schon eine zittrige Schrift.
 
Liebe Bücherbiene,
danke für deine Kritik. Ich werde daraufhin den Text noch einmal durchsehen und korrigieren.
Herzliche Grüße und alles erdenklich Gute zum Neuen Jahr
Karl
 
Gestern Morgen lief er mit ausgebreiteten Armen auf mich zu und drückte mich sehr fest an sich. Zu fest für noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden. Länger kannten wir uns nicht. Außerdem war ich vorgestern gar nicht mit ihm sondern mit Sascha verabredet. Sascha war jünger als ich und kam öfter nicht. Vorgestern auch nicht.
Hans, er war wesentlich älter als ich,lud mich zu einem Bier ein. Später zu weiteren. Nach Mitternacht brachte er mich nach Hause. Bis vor meine Wohnungstür. Keine Umarmung. Nicht einmal die Hand gab er mir.
Gestern Mittag trafen wir uns am Busbahnhof wieder. Zufällig, wie er behauptete. Eigentlich warte er auf seine neue Lebensgefährtin. Allerdings warte er schon über eine Stunde.
Natürlich wusste er, dass ich Sascha zur Rede stellen wollte. Nicht einmal angerufen hatte der mich gestern. Und bei Sascha meldete sich den ganzen Abend nur die Mailbox. Der Bus in die Nordstadt fährt ab Busbahnhof und Sascha wohnt dort. Sascha lacht immer. Selbst als ich ihn vor zwei Jahren für zwei Auslandssemester in Boston verließ.

Hans hielt mich lange fest. Zu lange. Er roch nach warmem Spätsommerabend. Dabei weiß ich gar nicht, wie warme Spätsommerabende wirklich riechen. Plötzlich ließ er mich los und lud mich zum Kaffee ein. Ich zögerte und wusste längst, dass ich mitgehen würde.
Wir setzten uns auf eine Polstereckbank in einer kaum beleuchteten Ecke der altdeutsch eingerichteten Busbahnhofskneipe und plauderten über Unverfängliches. Zunächst. Dann ließ er längere Gesprächspausen entstehen und ich sah mich gezwungen, sie mit Worten zu füllen. Zwischen den Pausen war er bemüht, im freundlichen Predigerton Geistreiches von sich zu geben.
„Wahrheiten…,“ sagte er, „sind unmodern. Selbst um letzte Wahrheiten reden sie herum!“
Er fuhr sich nach jeder seiner Weisheiten mit beiden Händen durch die grauen Haare, die für sein Alter ungewöhnlich dicht waren.
„Selbst wenn einer todkrank oder uralt ist, versuchen sie, ihm einzureden, er habe noch Jahre zu leben. Können Wahrheiten einfach nicht mehr wahr sein lassen.“ Er stöhnte leise.
Nach einer besonders langen Pause begann er mit abfälliger Stimme von einer Frau zu erzählen, neben deren Auto er so nah geparkt hatte, dass er sich genötigt sah, sie zu fragen, ob der Abstand zwischen den beiden Autos noch reiche, um bequem in ihren Wagen einzusteigen. Voller Entrüstung habe die Frau, die etwa so alt wie er gewesen sei, den Bauch eingezogen, vorsichtig die Autotür geöffnet, aus- und wieder eingeatmet und triumphierend behauptet, in den letzten Monaten fünf Kilo abgenommen zu haben. Ob er das denn nicht sehe.
Doch, doch, allerdings sei er schon ein wenig kurzsichtig.
Gerade in den letzten Monaten, erzählte er mir nach einer Pause weiter, schaue er ständig Frauen - jungen Frauen - hinterher und stelle sich vor, mit ihnen zusammenzuleben. Am liebsten würde er sie sich einverleiben, um deren Energie in sich aufzusaugen. Natürlich habe das Kannibalisches, obwohl es ihm reiche, allein ihre Seelen zu vereinnahmen.
Er schüttelte den Kopf und redete leise weiter. Am sonderbarsten werde er, wenn er in der Nacht zuvor schlecht geschlafen habe. Und er schlafe seit Jahren in beinahe jeder Nacht nicht gerade gut.
Übrigens, wenn eine gewisse Sorte alter Männer meinen, auf plumpe Art zudringlich werden zu müssen, finde er das abscheulich. Dennoch legte er behutsam seine Hand auf die meine und begann sie zu streicheln. Ich ließ es geschehen. Aber er hörte schnell wieder auf und redete weiter.
„Wissen Sie, heute Nacht wurde ich gegen zwei Uhr wach. Gedanken nachtfalterten in meinem Kopf. Ich fror und stellte mir vor, eine Höhle in ein Steilufer hoch über dem Meer zu graben. Im Schoß der Erde fühle ich mich am sichersten.“
Meine Augen begannen unwillkürlich feucht zu werden. Aus Verlegenheit griff ich nach der leeren Kaffeetasse, tat, als würde ich ein Schlückchen trinken.
Als ich aufblickte, starrte er mir in den Pulli-Ausschnitt. Ertappt lächelte er und erzählte hastig, er sei auf der Suche nach einer neuen Wohnung. Einer mit Balkon. Auf Balkons fühle er sich wie ein kleines Kind, das von seiner Mutter getragen werde.“
Ich lachte. „Sie könnten mein Vater sein, aber ich würde nie auf die Idee kommen, mich von ihnen tragen zu lassen.“
Bedauernd zuckte er mit den Schultern und griff sich stöhnend oberhalb der Taille in den Rücken. „Könnte Sie auch gar nicht mehr tragen! Übrigens neulich habe ich im Museum in einer Vitrine einen nackten kleinen schwarzen Engel aus Porzellan gesehen. Der war höchsten zwanzig Zentimeter groß, hatte den schlanken, wohlgeformten Körper einer Frau und stieß mit der rechten Hand einen goldenen Spieß in den Rücken eines nackten Mannes, wie ein Erzengel, der einem Drachen den Todesstoß versetzt.“
Ich versuchte zu lächeln. „Wenn ich an Engel denke, sehe ich vor mir immer diese Marmor-Putten mit Baby-Speck-Falten und Mini-Penis, Engelchen, wie sie auf Altären von Barockkirchen herumschwirren.“
„Wahrscheinlich haben sich an denen pädophile Barockbildhauer ausgetobt. Und manchem katholischen Priester hat deren Anblick bei seinen frommen Übungen geheime Lust bereitet.“
Er grinste. „Wie alt sind Sie eigentlich?“
„Fünfundzwanzig!“
„Und Ihr Name?“
„Anna!“
„Das war doch die Mutter der Gottesmutter Maria. Die Oma von Jesus.“
Ich zuckte mit den Schultern. Bereits in der Schule war Religion nicht mein Fach gewesen.
„Und Sie, wie heißen Sie?“
„Hans Hanstedt!“ Er sprach langsam, als müsste er sich erinnern. „Ja, Hans Hanstedt.“
„Ich bin fünfundsechzig. Im Krieg geboren. Am besten wurde man damals gar nicht geboren oder kam gleich im Soldatenalter zur Welt. Der Führer brauchte Soldaten. Meine Mutter baute in unterirdischen Fabrikanlagen Granaten zusammen, während mein Vater in Russland angeblich deutsche Frauen und Kinder verteidigen musste. Heute verteidigen sie auch wieder Deutschland am Hindukusch.“
Er stieß mit beiden Ellenbogen gleichzeitig auf den Tisch, nahm den Kopf zwischen die Hände, hielt sich die Ohren zu, schloss die Augen, öffnete sie wieder und lächelte. „Für meine Mutter, hat sie mir erzählt, war ich, als mein Vater im Krieg war, ihr Kopfkissen. Sie nahm mich als ich nicht mehr ganz so klein war, mit in ihr Bett und legte ihren Kopf auf meine Brust. Nur so konnte sie einschlafen. Jedenfalls behauptete sie das.“
Erneut wurden meine Augen feucht. Er rutschte neben mich auf die Bank, roch nach Spätsommerabend, räusperte sich und fragte leise, ob er seinen Kopf auf meine Schulter legen dürfe.
Unwillkürlich rutschte ich ein Stück von ihm weg und dann wieder zurück.
„Nur meinen Kopf?! Meine Frau hat mich früher im Bett immer aufgefordert, ich sollte mich doch einmal richtig auf sie legen. Konnte ich nicht. Schließlich lief sie mir weg. Vor acht Jahren. Nach über fünfunddreißig Jahren. Hat nur einen Zettel hinterlassen. Habe dich nie gespürt, stand darauf.“
Vorsichtig schob ich den Alten ein wenig von mir weg und stand auf. „Ich fahre jetzt zu meinem Freund!“ sagte ich und wunderte mich über meinen harten Tonfall.
Er nickte. „Den Kaffee zahle ich! Und ich würde mich freuen, wenn wir uns morgen hier wieder treffen!“
„Von mir aus! Gegen Mittag?“
„Morgen gegen Mittag!“
Sascha traf ich nicht an. Als ich auf der Rückfahrt am Busbahnhof umsteigen musste, ging ich noch einmal kurz in die Kneipe. Hans Hanstedt war nicht mehr da. Der Kellner winkte mir mit einem Zettel. „Von dem Grauhaarigen! Soll Ihnen den eigentlich erst morgen geben.“
„Könnte dich belasten! Hans.“ Stand in für mich unerwartet krakeliger Schrift auf dem Zettel.
Der Kellner sah mich neugierig an.
„Wissen Sie, wo ich den Alten finden kann?“
„Nein. Habe ihn, soweit ich mich erinnern kann, erst zweimal hier gesehen. Mit Ihnen.“

Heute Morgen ging ich sofort in die Busbahnhofskneipe.
„Er war gestern Abend noch einmal hier! Mit einer älteren Frau.“ Der Kellner lächelte verlegen.
„Haben ziemlich viel getrunken, die Beiden. Betrunken waren sie aber nicht. Als er die Kneipe verließ, riss er sich von der Frau los und rannte über die Fahrbahn. Wurde vom Bus angefahren. War nicht so schlimm. Dennoch haben sie ihn mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren. Die Frau fuhr mit.

Ich nahm den Bus zum Krankenhaus.
„Den haben wir gerade wieder entlassen. Wir haben ihn gründlich geröngt und eine Nacht hier behalten. Hatte keine inneren Verletzungen. Eine ältere Frau hat ihn abgeholt. Sie hatte ihn auch am Unfallabend ins Krankenhaus begleitet. Sind Sie seine Tochter? Ich darf nur Angehörigen Auskunft geben.“
„Nein, nur eine Bekannte. Leider!“
Die Krankenschwester zuckte mit den Schultern. „ Er hat mir gesagt, er würde heute seine neue Wohnung beziehen. Er habe endlich eine mit Balkon gefunden.“
 



 
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