Mit letzter Kraft

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Mit letzter Kraft

Sie sitzt jeden Nachmittag in ihrem dünnen weißen Nachthemd auf dem Fenstersims ihres Zimmers, hat das Fenster weit geöffnet und lässt ihre Beine durch den Fensterrahmen entlang der Hauswand hinunter baumeln. Ihr Blickfeld erstreckt sich über den sterilen, perfekt geplanten und zu dieser Jahreszeit herbstlichen Garten. Das große Areal ist fast menschenleer. Die Sicht aus dem 5 Stock ist nicht schlecht. Ermattet lehnt sie am Festerrahmen. Sie spürt die kalte Herbstluft sanft durch ihre Nasenflügel strömen. Ihr Gesicht ist regungslos, ihre Augen leer.
Sie sieht die beiden großen Kirschbäume, die ganz einsam auf einer Wiese im Garten stehen. Sie überlegt, was ihre Mutter vor vielen Jahren sagte. Darf man nun auf Kischbäume oder Apfelbäume klettern? Irgendwelche hatten doch ganz dünne Äste, die unter dem Gewicht eines jungen Mädchens brechen könnten. Sie mag die Bäume, mag ihre Rinde. Wenn man über die grobe Rinde mit den Fingerkuppen streift, dann fühlt sich diese wie eine riesige vertrocknete Blutkruste an. Als kleines Mädchen hatte sie oft solche Blutkrusten. Vor allem an den Knien. Nie konnte sie sich gedulden und kratzte immer wieder die Krusten mit ihren Fingernägeln ab. Sie mag die wenigen, herbstlich verfärben Blätter, die sich noch immer an den Zweigen der Bäume festklammern und dem Wind mit letzter Kraft vergeblich trotzen.
Manchmal kommt sie sich albern vor, redet von ihrem Fester aus mit den beiden alten Bäumen. Sie hat ihnen Namen geben. Die beiden sind verheiratet und haben sich auf dieser Wiese zur Ruhe gesetzt, haben sich völlig abgekapselt und erleben nun die letzte Lebensspanne in trauter Zweisamkeit. Zweisamkeit – das wäre schön.
Um diese Jahreszeit ist die Luft ziemlich kalt und sie wurde mehrfach ermahnt, das Fester nicht zu öffnen. „Sie holen sich ja noch den Tod“ sagen die Schwestern immer und blicken dabei sehr streng. Ihr ist das egal. Mit letzter Kraft schleppt sie sich jeden Tag vom Bett zum Fenstersims. Dann sitzt sie apathisch im Festerrahmen des offenen Fensters, atmet frische Herbstluft und geniest die Aussicht. Der Wind weht heute sanft über die exakt gestutzten Hecken und Bäume, über die säuberlich gefegten Wege, treibt die Laubhaufen über die Wiesen und durchfährt die letzten Haarbüschel ihres Kopfes.
Die Haare haben sich rar gemacht in letzter Zeit. Sie weiß, dass es ihr letzter Herbst ist. Sie hat mit Manfred darüber geredet, doch er glaubte ihr nicht. Als sie heute morgen in den Spiegel blickte, sah sie eine ausgemergelte Person: Eine dünne Hautschicht überzieht nur noch den Schädel. Die Backen sind eingefallen und die Wangenknochen stehen weit aus dem Gesicht. Die Lippen sind blau und dünn – viel zu dünn. Man konnte nicht einmal erkennen, ob die Person im Spiegel ein Mann oder eine Frau ist.
Die Luft ist kalt und klar. Sie riecht den kommenden Winter.
Manfred meinte vor fünf Monaten noch, dass er nur ein Bruchteil ihrer Kraft haben möchte. Sie, die angeblich dem Tode trotzt und alles überwindet. Sie, die bald wieder gesund sein wird. Sie, die trotz zweifelloser Genesung auf einmal eine Reise machen sollte. Sie, deren Verwandte sie seit vier Wochen überraschend regelmäßig besuchen. Sie, mit der jetzt nur noch über Früher gesprochen wird.
Die geforderte Reise hat sie nie gemacht. Sie hat nicht das Gefühl etwas verpasst zu haben. Nur einsam ist sie. Alleine auf dem Fenstersims. Es ist ihr letzter Herbst.
Sie hat den Oberarzt gebeten, bei den beiden Kirschbäumen im Garten beerdigt zu werden. Sie weiß, dass ihr Wunsch gegen die Vorschriften verstößt. Der Oberarzt sagte nur: “Tote haben im Garten nichts zu suchen. Und außerdem.... und außerdem werden sie mich noch überleben Frau Maischer“. Sie merkte, dass er sich selbst nicht glaubte. Die Stimme klingt dann so sonderbar, wenn sich Menschen selbst nicht glauben.
Manfreds Stimme klang auch so als er ihr versicherte, es sei für ihn nicht schlimm, dass er im Bett nichts mehr mit ihr anfangen könne. Sie war froh über seine Lüge. Sie wusste schon längst, dass er ein Jahr nach ihrer Erkrankung wöchentlich das Bordell aufsuchte, obwohl er alles tat um dies zu vertuschen. Wahrscheinlich hat er schon eine Neue. Sie gönnt es ihm. Er ist ein feiner Kerl.
Jeden Abend, wenn sie in ihrem Bett liegt, sagt sie der Welt: „Lebe wohl“. Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Sie wartet. Sie hat keine Angst, verspürt keinen Zorn.
Ihre Finger, Arme und Beine sind spindeldürr und würden unter dem Gewicht eines jungen Mädchens brechen. Ihre spröde und raue Haut fühlt sich wie eine vertrocknete Blutkruste an, die sie einfach abkratzen möchte. Ihre wenigen Haarbüschel trotzen mit letzter Kraft dem kalten Herbstwind. Vergeblich.
 

Zefira

Mitglied
Lieber Insel,
das ist eine schöne, leise und gefühlvolle Geschichte, die an keiner Stelle sentimental wird!

Eins ist mir allerdings aufgefallen:
Ich war am Anfang sicher, die Frau werde im Lauf des Textes aus dem Fenster springen. Ich kann mir nämlich nur schwer vorstellen, daß eine so gebrechliche Person täglich die Beine "durch den Fensterrahmen entlang der Hauswand hinunter baumeln" läßt (besser wäre übrigens "durch den Fensterrahmen an der Hauswand hinunter"), wenn sie nicht irgendwann springen will. Wolltest Du das vermitteln? Wenn nein, dann laß sie lieber nicht "baumeln". Es führt in die Irre.

Und was meint der Satz
"Sie, die trotz zweifelloser Genesung auf einmal eine Reise machen sollte"
- eine Reise in den Tod? Welche Reise könnte man sonst "trotz Genesung" machen? Diese Stelle habe ich nicht kapiert.

Wunderschön aber die Anspielungen auf die beiden Bäume als Gegensatz zu ihrer Ehesituation.
Und diese letzte Wendung
"Ihre spröde und raue Haut fühlt sich wie eine vertrocknete Blutkruste an, die sie einfach abkratzen möchte"
verweist auf die Entwicklung des Schmetterlings aus der Puppe - ein hoffnungsvoller Ausblick, trotz der traurigen Grundstimmung.

Ich mag den Text sehr! Warum wurde der bisher nicht kommentiert??
Grüßle von
Zefira
 



 
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