Mito-Ondreys Atmungskette

Janosch

Mitglied
Sein Name war Dimitri Ondrey Unge – eine Mixtur aus griechisch, tschechisch und deutsch, die von einem nicht von der Hand zu weisenden Hang zu interkulturellen geschlechtlichen Aktivitäten seiner Eltern herrührte. Da Mito die Kurzform von Dimitri ist, nannten ihn seine Freunde einfach nur Mito-Ondrey, um damit gleichsam auf seinen angeborenen Atmungsfehler anzuspielen. So war es nämlich der Fall, dass Mito-Ondreys Mitochondrien, die ja gemeinhin als Kraftwerk der Zelle gelten, in Stresssituationen fehlerhaft agierten, was zu einer ungesunden Steigerung der Frequenz seiner Atemzüge führte. So drohte er bereits als Kind hyperzuventilieren, wenn er etwa für den Weihnachtsmann ein Liedchen aus seinen defizitären Lungenflügeln pressen sollte, wenn ihm die fiese Mathe-Lehrerin modrigen Atems Zahlen entgegenhauchte oder wenn ihm Grießbrei auf die Poren seiner atmungsaktiven Kleidung kleckerte.
Ganz besonders aber machte sich das Problem erst mit Eintritt der Pubertät bemerkbar. Sobald ihm nämlich ein besonders attraktives weibliches Geschöpf gegenüberstand, waren Mito-Ondreys Mitochondrien so sehr aus dem Häuschen, dass er anhand der erhöhten Atemfrequenz einen teils heftigen Windzug produzierte. Dieser blies der jeweiligen Dame entgegen und überbrachte allenfalls kryptische Wortgerüste, falsettartiges Genuschel und im Abgang häufig auch einen gestammelten Hauch von Nichts.
Das eigentlich Sonderbare an dieser symptomatischen Zeremonie der Peinlichkeit war nun allerdings, dass ihm mit den letzten Wortfetzen stets auch etwas tatsächlich Greifbares aus dem Rachen purzelte – ja, was war denn das?! Ein kleines, ein kugelrundes, ein glänzendes Ding – ja, eine Art Perle muss es gewesen sein, die ihm da nach einer spastischen Bewegung des Auswurfs im hohen Bogen meist vor die Füße der jeweiligen Dame hüpfte. Eben jene Dame war nun überfordert ob der Verschrobenheit der Ereignisse und glitt, beim hastigen Versuch Reißaus zu nehmen, über jene glänzende Perle, worüber sie rücklings auf den Boden klatschte.
Aber auch seine Freunde zeigten sich verstört ob dieser kleinen Kugel, sprangen beiseite, wenn er seinen ominösen Atmungs-Anfall in ihrer Gegenwart erlitt und versuchten ihn anhand einiger Floskeln der Empörung zu züchtigen – in etwa so:
„Mito-Ondrey, um Himmels willen! Was ist nur mit dir los?“
Oder: „Mito-Ondrey, um ein Haar hättest du mich mit einer deiner blöden Perlen getroffen!“
Oder: „Mito-Ondrey, um was für eine beschissene Krankheit handelt es sich dabei eigentlich genau?“
Nachdem die Dame nun geflüchtet war und auch die Freunde ob Mito-Ondreys Unfähigkeit auf ihre Fragen zu reagieren dieses Schlachtfeld der Blamage verlassen hatten, fand er stets allmählich wieder zu sich und ließ Luft in absolut regelmäßigen Abständen über seine Mundhöhle hinweg in seine Lungenflügel gleiten. Dann schüttelte er sich kurz, bückte sich nach der auf dem Boden funkelnden Perle und steckte sie zu den anderen in seine Hosentasche. In Situationen niedrigschwelliger Nervosität spielte er nämlich innerhalb der Tasche an seinen Perlen herum, ließ sie durch die Finger gleiten und rieb sie aneinander, was ihm seltsamerweise half, nicht erneut die Kontrolle über seinen Atmungsapparat zu verlieren. Je mehr Perlen er besaß, desto beruhigter brachte er inzwischen auch Begebenheiten erhöhten Stresspotentials über die Bühne.
Nun geschah es allerdings, dass Mito-Ondrey um etwa 18:37 Uhr zu absolut irrelevanter Jahreszeit, nebensächlichem Luftdruck und kaum zu interessierendem Quecksilberpegel im Thermometer über die Frau seiner Träume stolperte. Völlig aufgelöst griff er in die Hosentasche, um seine Perlen in Wallung zu bringen, doch konnte ihm jene physische Fingertätigkeit diesmal nicht über die psychische Überforderung hinüberhelfen, sodass er erneut zu hyperventilieren und gar in Ohnmacht zu fallen drohte. Während die angebetetste aller Angebeteten vor ihm stand, schlug er, nach Halt langend, Luftlöcher, schwankte hin und her und brachte im Höhepunkt des Anfalls eine ganze Reihe Perlen jetzt hervor, die, eine nach der anderen, aus seinem Hals und vor ihre Füße schossen.
Doch diesmal löste sich die Situation nicht von selbst wieder auf, denn blieb die Frau, im Gegensatz zu den anderen, einfach stehen und schien sie sein Anfall nicht zu schockieren, sodass er selbst also völlig verwirrt die Flucht ergriff und darüber seine Perlen das allererste Mal einzusammeln vergaß. Die Frau aber hielt kurz inne, bückte sich an seiner statt und hob die Perlen für ihn auf. Zuhause angekommen, hielt sie die kleinen Kügelchen unter den Wasserhahn, verteilte sie auf dem Wohnzimmertisch und zog einen Faden durch sie hindurch.
Als sich die beiden ein paar Tage später erneut über den Weg liefen, riss Mito-Ondrey die Augen auf, stopfte die Finger in seine Tasche und bereitete sich auf den Ausbruch vor – doch nichts dergleichen geschah. Die Frau aber trat an ihn heran, nahm seine Hand und küsste ihn einfach auf die Stirn. Ihr Atem war ruhig und bedächtig und lag wie eine Schablone auf dem seinigen. An ihrem Hals – die Perlenkette.

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Dieser Text entstand für die Leipziger Lesebühne "Kunstloses Brot" im Rahmen der Themenvorgabe "Mitochondrium".
 



 
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