Mitternachtskatzen

Hochgiftig

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Mitternachtskatzen

1. Vorstellungsrunde

„Haben Sie nicht jemanden, der das besser kann als Sie?“


Das ist Frau Planmann. Frau Planmann ist heute neu zu ins Krankenhaus gekommen. Sie ist geschätzte 250 Jahre alt und ihre Augen sind so gut wie die eines Nacktmulls.
Frau Planmann hat auch ganz merkwürdige Essgewohnheiten.
Jeden Morgen bekommt sie eine mitteldicke Scheibe Biobrot, darauf etwas Biomargarine und Biogemüseaufstrich, dann wird das alles klein geschnitten und mit Hagebuttentee in einer Schüssel zu einem Brei vermengt. Klingt widerlich? Ist es auch.
Ich, ich bin Alexander. Ich bin grade zwanzig geworden und bin nun im zweiten Jahr in der Ausbildung zum Krankenpfleger. Ich habe meine Station, Station 3, und meine festen Leute, nur manchmal kommen und gehen sie.
Wie Frau Planmann. Frau Planmann hatte einen Herzinfarkt und liegt nun ein paar Wochen bei uns, bis die Ärzte sich entschieden haben, was sie mit ihr anstellen wollen. Altenheim, nach Hause, oder hier behalten. Unsere Ärzte sind da sehr langsam.
Nun kommen wir aber zurück zu den seltsamen Essgewohnheiten der herzgeplagten Frau. Es ist acht Uhr am Morgen und ich betrete zum ersten Mal Frau Planmanns Zimmer. Es riecht etwas seltsam nach Urin, Schlaf und dem normalen Geruch von alten Menschen. Ich habe lange überlegt, was der Geruch sein könnte, und dann ist mir in den Sinn gekommen, dass es vielleicht gar keine gute Erklärung dafür gibt. Es muss irgendwas biologisches sein, irgendein Duftstoff strömt aus dem menschlichen Körper, sobald er die Altersgrenze von 60 Jahren erreicht.

„Guten Morgen Frau Planmann, ich bin Alexander, ich kümmere mich um Sie.“
„Was?“

Die nächste Hürde wäre also angekommen, die Schwerhörigkeit. Aber damit habe ich bereits Erfahrung. Ich stelle mich genau vor sie und beuge mich an ihr linkes Ohr.

„Ich bin Alexandeeeeeeer, ich bin Ihr Pflegeeeeeeer.“

Einen Moment Stille.Sie schaut verwirrt hin und her.

„Ich verstehe Sie nicht, ich verstehe die Männerstimmen so schlecht.“

Ich rolle mit den Augen, natürlich so, dass sie es nicht mitbekommt, und setze mich zu ihr an den Tisch. Ihre zwei Thermoskannen mit Hagebuttentee stelle ich ihr auf den Tisch, dazu noch eine extra Tasse, und beginne ihren Kühlschrank auszuräumen, da Madamme natürlich ihre eigenen Sachen essen möchte, statt sich an den Delikatessen meines Arbeitgebers zu laben.
Sorgfältig schneide ich eine Scheibe Brot ab, wie Schwester Martha es mir erklärt hat, bestreiche sie dünn mit Butter und mit einem Drittel eines Pöttchens Gemüseaufstrich. Frau Planmann schaut mir dabei natürlich die ganze Zeit auf die Finger.

„Machen Sie das doch hier auf meiner Seite, dann kommen Sie besser dran.“
„Danke, Frau Planmann, es geht hier wunderbar.“

Ich merke schon jetzt, dass das mit uns beiden etwas ganz Besonderes werden wird.
Der Höhepunkt kommt jedoch erst, als ich die mühsam zerkleinerten Brotstücke (das Brot war wohl nicht mehr so gaaanz frisch) in die Schüssel geben will.

„Nein nein, Sie machen das falsch, da muss doch erst ein Tüchlein drunter. Schauen Sie mal, das kommt so … und wo ist die dritte Tasse? Ich brauche doch immer drei Tassen, damit der Tee nicht so heiß ist. Ja, nee, nicht auf den Teller, man braucht doch ein … Schüsselchen. Wo ist der kleine Löffel denn, ich brauch doch einen kleinen Löffel, anders kann ich doch nicht essen, ich esse doch nur Püriertes.
Haben Sie nicht jemanden, der das besser kann als Sie?“

Ich überlege kurz, wie viele Jahre Knast man bekommen würde, wenn man jemanden vorsätzlich, total entnervt, mit einem stumpfen Buttermesser absticht, dann entscheide ich mich jedoch gegen einen brutalen Mord, immerhin müsste ich das ganze Blut ja auch wieder aufwischen. Das war es also mit der glücklichen Beziehung zwischen Alex Mertens und Frau Planmann. Den Stein hat sie jetzt bei mir sitzen, ich mache im Kopf einen weiteren Strich auf die Liste der Menschen, die ich nicht leiden kann.
Frau Planmann steht auf und geht an ihr Waschbecken, sie dreht das Wasser. Vollkommen selbstverständlich zieht sie ihre Hose runter, entblößt mir ihren Schambereich und setzt sich auf ihren Toilettenstuhl. Anstand scheint die Gute nicht zu haben, denn statt zu warten, bis ich hier fertig bin, geht sie auf Vollgas und lässt alles raus, was sich die Nacht über angesammelt und ich bin live und in Farbe dabei, in der ersten Reihe.
Angewidert matsche ich ihr Frühstück zu Ende, kippe, natürlich ganz aus Versehen, etwas zu viel Hagebuttentee in ihren Biobrotmargarinegemüsebrei und verabschiede mich mit einem leicht angesäuerten „Guten Appetit“.

Das ist also der Start meines zwanzigsten Lebensjahres. Ich hätte ihn mir kaum besser vorstellen können. Statt sich nackt im Bett zu räkeln, eventuell mit dem einen oder anderen netten, jungen Mann an meiner Seite, ziehe ich mir das Gebrabbel von altersschwachen Menschen rein.
Aber das ist ja noch längst nicht alles. Mein bester Freund, Stefan, hat mich vergessen. Einfach so. Gut, er ist vielleicht im Urlaub mit seiner Freundin, vielleicht haben sie sich durch die Nacht und halb Kairo gevögelt, aber das ist dennoch keine Entschuldigung, den Geburtstag des besten Freundes zu vergessen.
Zumal ich ihn ja noch überrascht habe an seinem. Habe mir von Katja, seiner Freundin, den Wohnungsschlüssel geliehen und mit ihr zusammen, und circa fünfzehn anderen, nachts um zwölf bei ihm im Schlafzimmer gestanden. Der hat sich so sehr gefreut, dass er angefangen hat zu weinen und letzten Endes auch zu hyperventilieren. Das ist mein Stefan, immer etwas zu aufgeregt. Aber wie gut, dass wir einen Krankenpfleger im Zimmer hatten, so konnten wir alle noch bis zwei Uhr im Bett sitzen und Sekt trinken, Kuchen essen und seinen Geburtstag feiern.
Und er vergisst einfach so meinen. Ich habe ihm eine SMS geschrieben.

„Viel Spaß in Kairo, ich feiere heute dann mal mit meinen zwei besten Freunden. Al und Leine.“

Natürlich weiß ich, dass es etwas zickig war, dass ich vielleicht ein ganz klein Bisschen überreagiert habe, aber es lagen doch schon genau 32 Stunden zwischen Mitternacht meines Geburtstages und heute. Was soll's, er wird sich schon noch melden. Spätestens, um zu fragen, was meine Nachricht sollte.

Frau Planmann ist die letzte auf meiner Tour, ich bin fertig für heute, dienstags habe ich nur einen sehr kurzen Tag. Sechs bis 9 Uhr. Das habe ich mit der Oberschwester so ausgemacht, Pierre ist ein sehr guter Freund von. Ja, er ist die Oberschwester, da er so richtig tuckig ist. Aber ich kenne ihn schon mein halbes Leben, deswegen stört es mich kein Bisschen. Habe den Wandel ja mitbekommen. Wir hatten einmal vor Jahren was miteinander und seitdem ist der Gute in mich verknallt. Ich mache sowas gerne, Sex für persönliche Vorteile. Pierre unterstützt mich während meiner Ausbildung, gibt mir frei, wenn ich frei brauche und sonst ist er auch immer für mich da. Irgendwas muss es einem ja bringen, wenn man schon mit den richtigen Leuten schläft.

„Na Schätzchen, schon wieder neun Uhr? Schade, dass du immer genau gehst, wenn ich komme.“
„Guten Morgen Pierre.“

Ich bin so müde, dass mir keine bessere Antwort einfällt. Im unisex Umkleideraum begegnet mir eine ebenso müde Wanda, die mir ein grummeliges „Ich hasse dich“ auf mein Guten-Morgen-Lächeln antwortet. Ich ziehe mich an, setze meine Piercings wieder in die Ohren ein und begebe mich auf meine alltägliche Verabschiedungstour. Kollegen, Patienten, auf meinem Weg durch die Stationen zum Ausgang treffe ich so ziemlich jeden, der mir etwas bedeutet.
Die Ausgangstüren öffnen sich von alleine, ich kann mir jedoch meine Jedi-Handbewegung nicht verkneifen. Ich bin kein Freak oder so, aber das gehört nun mal dazu. Die Bushaltestelle direkt vor dem Krankenhaus ist erstaunlich leer, normalerweise sitzen dort die ganzen Studenten auf dem Weg zur Uni. Heute jedoch nicht. Ich blicke noch einmal auf den Gang zurück, alles ist still, nur vereinzelt schwirrt eine Kollegin durch die Gänge. Es ist ja auch noch früh, um neun Uhr ist hier noch nix los. Und ich, ich habe jetzt frei, am Himmel klaffen Wolken, eine leichte Brise lässt die Blätter rascheln, und der Bus fährt geradewegs vor meiner Nase davon. Was für ein perfekter Start in ein neues Jahr.
 

Hochgiftig

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2. Sport ist und bleibt Mord

Es ist kurz vor Ostern, als ich mich dazu entschließe abzunehmen. Ich wiege nicht unbedingt viel zu viel, 80 kg auf 176 cm sind gesund und proper, aber ich bin nicht zufrieden mit meinem Körper. Das liegt, auch, an der Trennung von Cedric. Die hat mir so zu schaffen gemacht, dass ich unkontrolliert gegessen und so fünfzehn Kilo zugenommen habe. Unter meiner Kleidung sieht man das nicht, klar, aber wenn ich morgens nach dem Duschen, oder generell, vor dem Spiegel stehe, könnte ich weinen. Bitter.
Und da ich jetzt drei ganze Wochen Urlaub habe, habe ich mich entschieden joggen zu gehen. Das kann ich ganz gemütlich machen, kein Stress, kein Partner, der mich ablenkt, nur ich und mein iPod, „Poddi“. Den Weg hab ich mir auch schon markiert. Dabei habe ich echt lange überlegt, wo ich laufen gehen sollte. Es musste ein Wald sein, das war mir von vornherein klar, aber dennoch so stadtnah, dass ich, im Falle des Falles, von Spaziergängern oder sonstigen Passanten gefunden werden würde. Also blieben mir natürlich nur die Barmer Anlagen. Von da aus ist man in nullkommanix in der Stadt und es ist so beliebt da, dass dort im Sommer immer die Jugendlichen sitzen, die zu jung sind, um sich beim Akzenta Bier zu kaufen. Sollte ich also kollabieren, würde mich eins von den netten Kindern bestimmt auf Händen in die City tragen.
Auf der Karte mit den Wuppertaler Wanderwegen habe ich mir diverse Routen markiert. Hier rum, da rum, rund herum. Dass ich mich hoffnungslos verlaufen werde ist klar. Meine Orientierung ist so gut ausgeprägt, wie die Flügel eines Pinguins.
Heute ist ein schöner Tag, sonnig, nicht zu warm, die besten Voraussetzungen für einen frühzeitigen Tod. Ich weiß genau, dass ich nach den ersten hundert Metern joggen für immer zusammenbrechen werde und fortan als Pflegefall gelte.
Nein, halt, Alex! So darfst du gar nicht erst denken. Du schaffst das. Ganz sicher. Immerhin hast du auch das Abitur geschafft. Zwar nur so grade eben, aber geschafft ist geschafft.
Ich stehe ungefähr auf mittlerer Höhe der Anlagen, da, wo man wunderbar auf die Stadt gucken kann. Um mich herum laufen bereits einige Leute, und ich bin bestimmt nicht derjenige, der es am Nötigsten hat. Auf drei Uhr läuft ein geschätzter 300 kg-Mann japsend seine Runden, von links kommen drei laut kreischende Ömchen den Weg lang gejoggt. Ich will gerade den ersten Schritt machen, den Start meiner Karriere als Profiläufer, als ich unsanft zu Boden gerissen werde und mit dem Rücken auf der Wiese lande.
Etwas verwirrt, dass oben plötzlich unten und umgekehrt ist, schüttele ich meinen Kopf, um mich zu fangen, und sehe, dass jemand auf mir drauf liegt. Ich traue meinen Augen nicht und schüttele ihn nochmal. Doch, es ist tatsächlich Benni.
Ich kenne Benni nicht, leider, ich habe ihn nur des Öfteren mal in der Stadt mit ein paar Freunden gesehen, daher weiß ich auch wie er heißt. Wenn ich jemanden süß finde, dann versuche ich nahezu alles, um den Namen desjenigen heraus zu finden. Eines besagten Tages also sehe ich ihn aus dem DM kommen und laufe unauffällig hinterher. Plötzlich höre ich, wie jemand von hinten „BENNI!!!“ brüllt und mein heimlicher Schwarm sich umdreht und strahlt. Ich habe natürlich zuerst gedacht er strahlt mich an, weil er genau in meine Richtung geschaut hat. Ganz verlegen habe ich meinen Kopf an den Hamburger getackert, als er auf mich zugekommen ist dachte ich die Welt geht unter. Er hob die Arme, um jemanden zu umarmen, und für einen kurzen Augenblick dachte ich er meint tatsächlich, wahrhaftig, ganz ehrlich mich, aber da hatte sich auch schon jemand unsanft an mir vorbei gedrückt und ein zwei Meter großer Riese warf sich an Benni ran, meinen Benni.
Dass ich seinen Namen kenne macht die Tatsache nicht besser, dass er ziemlich unsanft auf meinem besten Stück gelandet ist und dieses allmählich wach wird.

„Hey, runter von mir.“

Ich versuche ihn von mir runter zu schieben, aber er stößt sich gekonnt vom Boden ab und hält mir sofort die Hand hin, um mir auf zu helfen.

„Fuck, sorry. Ich hab dich überhaupt nicht gesehen in meinem Sprint. Hab ich dir weh getan?“
„Nein, geht, danke.“

Ich nehme seine Hand, er zieht mich einfach so hoch. Man, was müssen da für Muskeln drin stecken. Ich streiche mir den Waldboden vom Hintern ab und mustere ihn mit leicht zusammengekniffenen Augen.

„Hey, bitte nich böse sein. Wenn ich Sport mache bin ich immer total drauf und vergesse alles um mich herum. Ich bin übrigens Ben.“

„Ich w...“ will ich grad ansetzen, aber dann überlege ich, dass es wahrscheinlich nicht so gut ist, wenn ich ihn wissen lasse, dass ich weiß wie er heißt, weil ich ihm in der Stadt gefolgt bin.

„Ich wollt schon sagen du entschuldigst dich nie. Es tat schon ein Bisschen weh.“
„Entschuldige, nochmals. Hab noch 'nen schönen Tag!“

Und er rennt einfach wieder davon.
Ist das denn zu fassen? Rennt mich fast tot, hilft mir auf die Beine, lässt mich besudelt und arg verletzt zurück und lädt mich noch nicht mal auf 'nen Kaffee ein?
Halt, Alex, nicht jeder, der dich umrennt, ist automatisch schwul und an dir interessiert. So einen hatten wir nämlich schon mal Letztes Jahr. Leider war dieser Typ nicht ganz so attraktiv wie Benni, man kann fast schon vom kompletten Gegenteil sprechen. Ich habe die Geschichte mit ihm auch nicht so intensiviert, im Geiste, wie die mit Benni, weswegen ich schnell über ihn hinweg gekommen bin.
Ein drittes, und letztes Mal, schüttele ich den Kopf, um die letzten fünf Minuten in ein Paket zu packen und in meinen Hirnwindungen zu verstauen, dann laufe ich los.
Es geht erstaunlich einfach. Ich setze einfach einen Fuß vor den anderen, laufe durch den Park, durch den Wald, die Anlagen rauf und runter. Die Bäume ziehen an mir vorbei und der Weg scheint immer kürzer zu werden. Ich setze ein strahlendes Gesicht auf, jeder soll sehen können, dass ich Spaß am Sport habe und dass ich Freude habe. Ja, ich, Alexander Mertens, der in Sport immer nur 'ne 4 hatte, hat Freude am Sport. Wo sind Sie, Herr Baumeister, benoten Sie doch jetzt mal meine sportliche Leistung!
Ich denke beim Laufen an letzte Woche, wo ich ein Date mit diesem unglaublich netten jungen Mann hatte, denke daran, dass ich ihn eigentlich anrufen wollte und mache mir eine geistige Notiz, außerdem denke ich an das Essen von gestern, Paella, das Maike selbst gemacht hatte, und auf einmal schwirren in meinem Kopf die Würmchen herum, die, die man sieht, wenn man sich überanstrengt, wenn man seinem Körper zu viel zumutet, an das er nicht gewöhnt ist. Mein Blickfeld verschwimmt, ich reibe mir in den Augen, verliere durch die Umlagerung meiner Hände das Gleichgewicht und falle vorn über auf dem Gehweg, auf welchem ich mich zu allem Überfluss auch noch erbreche.

Der widerliche, säuerliche Geschmack vom Mageninhalt gepaart mit allem Möglichen aus der Gegend steigt meine Nase hoch, und als ich mein Erbrochenes sehe, steigt es mir direkt wieder hoch. Doch diesmal bin ich schlau, ich spucke nicht auf die selbe Stelle, es hätte ja spritzen können, sondern drehe mich auf dem Boden schnell um und lasse es nach vorne heraus schießen.
Sehr zum Leidwesen von Bennis Schuhen, denn dieser beschließt, genau jetzt meinen Weg zu kreuzen. Ich erkenne ihn selbstverständlich erstmal noch nicht. Mein Mund ist noch voller Kotze, meine Augen voller Tränen und ich knie irgendwo auf Schritthöhe. Erst, als ich eine Hand ergreife, und mit einem Ruck hoch gerissen werde, fällt es mir wie Schuppen von den Augen.

„Alles klar?“

Ja, sicher. Natürlich ist alles klar. Ich stehe in meiner eigenen Kotze, meine Klamotten sind voll damit, meine Schuhe kann ich wegschmeißen, außerdem steht mein absoluter Traummann vor mir und sieht mich so dreckig. Könnte es mir denn noch besser gehen? Wäre ein romantisches Dinner mit Sonnenuntergang denn so viel besser wie die Situation jetzt?

„Mir geht es gut, danke.“
„Das“, sagt er und deutet auf mein Frühstück, „sieht aber ganz anders aus.“
„Ich war einfach zu schnell zu schnell.“
„Wat?“
„Du weißt schon, hab' zu schnell Gas gegeben, war zu schnell dabei.“
„Achspo, du fängst grad erst an mit laufen?“
„Ich versuche es, ja.“
„Hm, es sah schon so aus, als ob du das länger machst.“

Hä? Wie es sah so aus?

„Läufst du mir etwa nach?“
„Mh, nicht ganz. Ich bin halt durch die Anlagen gejoggt und hab' dich ein paar Mal gesehen. Ich wollt mich nochmal richtig entschuldigen, dich eventuell auf 'nen Kaffee einladen.“

Richtige Worte, absolut falscher Moment. Dennoch greife ich den Strohhalm.

„Na gut, aber ich muss mich erst umziehen. Mein Auto steht in der Richard-Strauss-Allee.“
„Das ist aber von hier aus noch ein ganzes Stück.“
„Hast du Angst du schaffst das nicht mehr?“

Er lächelt, ich glaube, solch eine freche Antwort hat er nicht erwartet.
Wir gehen den ganzen Weg von meinem Unfallort bis zu meinem Auto zusammen. Er erzählt mir, dass er eigentlich aus dem Süden kommt, Karlsruhe. Dass er hier erst bei seiner Tante gewohnt hat, weil seine Eltern sich ganz schlimm gestritten hatten und er es nicht mehr ausgehalten hatte. Dass er nächsten Monat vierundzwanzig wird. Dass er hier in den City Arkaden bei H&M als Verkäufer arbeitet. Dass er eigentlich Sport studieren wollte, durch einen Unfall jedoch seine Kniescheibe zertrümmert wurde und er nun darauf wartet, dass sie wieder komplett verheilt, weswegen er auch „nur“ joggt.
Wir kommen an meinem Auto an, ein schwarzer Mini. Der war zwar teuer, aber ich habe eisern gespart, um mir das Schmuckstück leisten zu können. Benni schaut nicht schlecht, als er den Wagen erblickt, und auf seine Frage hin, ob der denn nicht unglaublich viel Kohle gekostet habe, antworte ich mit einem „Ahahaha... Quatsch.“
Ich öffne schnell den Kofferraum, so langsam wird es unangenehm in den vollgekotzten Klamotten. Meine Beine haben auch etwas abbekommen. Als ich meine Laufhose ausziehe und im Wagen verschwinden lasse, kommt mir ganz kurz wieder die Suppe hoch, aber ich schaffe es, das vorher geschehene zu unterdrücken, und ziehe, ganz kotzfrei, meine Jeans an. Dazu das blaue T-Shirt mit dem Hasen, meine Schuhe mit dem Totenkopf und schon steht ein komplett neuer Alexander vor Benni.

„Cooles Shirt, das hab' ich auch. Aber nich' von H&M.“
„Ich hab's irgendwo gefunden und fand's ganz toll.“

Irgendwie ist es mir unangenehm, dass er mich so cool findet. Vorhin schon fand er meine Laufschuhe ganz toll. Hat unnormal oft erwähnt, dass er sich solche auch noch kaufen wollte. Aber das Gefühl, dass mich so ein überaus schmucker Typ mich, MICH, interessant findet, überwiegt einfach und ich lächle einfach nur ganz verlegen.
Benni hat kein Auto, er läuft jeden Tag den ganzen Weg von der Kluse aus bis zu den Barmer Anlagen. Um fit zu bleiben. Ich erwähne nicht, dass ich neulich vom Fünf-Meter-Spurt zum Bus so dermaßen im Arsch war, dass der Busfahrer nochmal angehalten hat, um nach mir zu schauen.

„Wo fahren wir eigentlich hin?“
„Lass ins Moritz fahren, das ist fast direkt bei mir um die Ecke.“

Das Café Moritz ist ein ganz süßes Etablissement. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass es ein schwules Café sein soll, aber merken tut man davon nichts. Kein Kylie, kein Madonna, außerdem sitzen dort nur ganz unglaublich coole Leute mit ihren unglaublich coolen Freunden und trinken unglaublich coole Drinks.
Wir gehen da eigentlich nur hin, wenn wir zu faul sind, um bis nach Elberfeld zu fahren, also eigentlich fast jedes Mal, wenn wir ausgehen. Der Weg bis ins Luisenviertel ist nun mal nicht zu unterschätzen, ungeübte Geher laufen fast zwei Stunden von der Laurentiuskirche bis zum Alten Markt. Aber wir nicht. Wir schaffen das in einer dreiviertel-, manchmal sogar in einer halben Stunde.
Jedenfalls sitze ich da jetzt mit Benni. DEM Benni, um genau zu sein. Dem Benni, von dem ich meiner besten Freundin, Annika, schon die ganze Zeit erzähle. Der Benni bestellt eine Bionade, ich ein Alt. Nach dem Schock habe ich jetzt echt ein Bier verdient. Ich überlege kurz, ob ich noch meine Portion Nachos mit Salsa dazu bestellen soll, aber dann erinnere ich mich wieder an die Geschichte von vorhin.
Mein Gedächtnis ist sehr schlecht. Ich gucke auf die Uhr, und weiß danach nicht wie spät es ist. Dieselbe Geschichte ist es mit Bushaltestellen. Ich schaue auf den Plan, gucke, wo ich aussteigen muss, und kaum ist der Bus abgefahren, habe ich schon wieder vergessen wo ich raus muss. Das verfolgt mich bereits mein ganzes Leben, aber ich habe mich damit abgefunden. Außerdem hat es mir bereits den ein oder anderen Ärger erspart.
Der Benni und ich, wir bekommen unsere Getränke und er erzählt mir immer mehr von sich selber. Dass sein Vater wahrscheinlich in die USA gehen wird und er eventuell mitgehen kann. Dass sein Kater, den er hatte seit er fünf war, vor ein paar Wochen gestorben ist, woraufhin ich ganz kurz einlenke, denn ich habe auch zwei Katzen, beziehungsweise zwei Kater, Fiko und Linus. Beide sind kein Jahr alt und halten mich echt auf Trab, was Benni ganz unglaublich witzig findet. Er erzählt mir auch, dass er hier noch nicht so viele gute Freunde gefunden hat, obwohl er schon seit fast zwei Jahren hier wohnt. Dass er hier auch sein Abitur abgeschlossen hat, und zwar am St. Anna. Dass er kurzzeitig mal in Brasilien gelebt hat. Dass er, dass er, dass er, …
Ich höre natürlich seit seinem ersten Wort nicht mehr hin, sondern schaue die ganze Zeit in seine dunkelgrünen Augen. Ich hoffe, dass er es nicht bemerkt, und immer, wenn er mich anschaut, schaue ich schnell auf die Uhr, die hinter ihm hängt. Der Zeiger nähert sich der Zwölf. Wir sitzen nun schon fast eine Stunde hier, als er auf sein Sportlerarmbanduhrpulsmessnavigationskaffeemaschinengerät. schaut.

„Ups, da haben wir uns aber verquatscht. Sollen wir irgendwann mal abends ein Bier trinken gehen?“

Jetzt mal kurz Pause. JA, ich weiß, dass ich mit dem Mann schlechthin im Café sitze. JA, ich weiß, dass ich ihn anstarre, wie ein dickes Kind eine Sahnetorte. JAAAA, ich weiß, dass er wahrscheinlich zwanzig Frauen in fünf Städten haben wird und JAAAAAAAAAAAAA, er kann ganz bestimmt, überhaupt nicht, absolut never ever schwul sein.
Wieso dann also diese Frage? Bin ich ein potenzieller Freund Freund? Jemand, den er um sich haben möchte, ohne was von ihm zu wollen? In der schwulen Welt hat man nicht viele attraktive, heterosexuelle Freunde, die keine Angst vor einem haben, sollte ich also zuschlagen? Natürlich hätte ich nichts dagegen, wenn da mehr draus werden würde, und sei es nur einmal, aber die Chancen tendieren noch mehr gen Null, als wenn der Papst plötzlich protestantisch werden würde.
Mir schwirren tausend Fragen durch den Kopf, aber ich beschließe, sie alle erstmal zu verpacken und an mein Hirn zu senden, das hier schreit geradezu nach einer neuen Freundschaft.

„Ja klar, wieso nicht?“, antworte ich ihm nahezu emotionsfrei und er schreibt mir seine Handynummer auf meinen Bierdeckel. Dann packt er seine Sachen, setzt seine ultracoole Sonnenbrille auf und verabschiedet sich, beim Rausgehen drückt er mir noch einmal freundschaftlich auf die Schulter. Ich werde mich dort nie wieder waschen.
 

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2. Sport ist und bleibt Mord

Es ist kurz vor Ostern, als ich mich dazu entschließe abzunehmen. Ich wiege nicht unbedingt viel zu viel, 80 kg auf 176 cm sind gesund und proper, aber ich bin nicht zufrieden mit meinem Körper. Das liegt, auch, an der Trennung von Cedric. Die hat mir so zu schaffen gemacht, dass ich unkontrolliert gegessen und so fünfzehn Kilo zugenommen habe. Unter meiner Kleidung sieht man das nicht, klar, aber wenn ich morgens nach dem Duschen, oder generell, vor dem Spiegel stehe, könnte ich weinen. Bitter.
Und da ich jetzt drei ganze Wochen Urlaub habe, habe ich mich entschieden joggen zu gehen. Das kann ich ganz gemütlich machen, kein Stress, kein Partner, der mich ablenkt, nur ich und mein iPod, „Poddi“. Den Weg hab ich mir auch schon markiert. Dabei habe ich echt lange überlegt, wo ich laufen gehen sollte. Es musste ein Wald sein, das war mir von vornherein klar, aber dennoch so stadtnah, dass ich, im Falle des Falles, von Spaziergängern oder sonstigen Passanten gefunden werden würde. Also blieben mir natürlich nur die Barmer Anlagen. Von da aus ist man in nullkommanix in der Stadt und es ist so beliebt da, dass dort im Sommer immer die Jugendlichen sitzen, die zu jung sind, um sich beim Akzenta Bier zu kaufen. Sollte ich also kollabieren, würde mich eins von den netten Kindern bestimmt auf Händen in die City tragen.
Auf der Karte mit den Wuppertaler Wanderwegen habe ich mir diverse Routen markiert. Hier rum, da rum, rund herum. Dass ich mich hoffnungslos verlaufen werde ist klar. Meine Orientierung ist so gut ausgeprägt, wie die Flügel eines Pinguins.
Heute ist ein schöner Tag, sonnig, nicht zu warm, die besten Voraussetzungen für einen frühzeitigen Tod. Ich weiß genau, dass ich nach den ersten hundert Metern joggen für immer zusammenbrechen werde und fortan als Pflegefall gelte.
Nein, halt, Alex! So darfst du gar nicht erst denken. Du schaffst das. Ganz sicher. Immerhin hast du auch das Abitur geschafft. Zwar nur so grade eben, aber geschafft ist geschafft.
Ich stehe ungefähr auf mittlerer Höhe der Anlagen, da, wo man wunderbar auf die Stadt gucken kann. Um mich herum laufen bereits einige Leute, und ich bin bestimmt nicht derjenige, der es am Nötigsten hat. Auf drei Uhr läuft ein geschätzter 300 kg-Mann japsend seine Runden, von links kommen drei laut kreischende Ömchen den Weg lang gejoggt. Ich will gerade den ersten Schritt machen, den Start meiner Karriere als Profiläufer, als ich unsanft zu Boden gerissen werde und mit dem Rücken auf der Wiese lande.
Etwas verwirrt, dass oben plötzlich unten und umgekehrt ist, schüttele ich meinen Kopf, um mich zu fangen, und sehe, dass jemand auf mir drauf liegt. Ich traue meinen Augen nicht und schüttele ihn nochmal. Doch, es ist tatsächlich Benni.
Ich kenne Benni nicht, leider, ich habe ihn nur des Öfteren mal in der Stadt mit ein paar Freunden gesehen, daher weiß ich auch wie er heißt. Wenn ich jemanden süß finde, dann versuche ich nahezu alles, um den Namen desjenigen heraus zu finden. Eines besagten Tages also sehe ich ihn aus dem DM kommen und laufe unauffällig hinterher. Plötzlich höre ich, wie jemand von hinten „BENNI!!!“ brüllt und mein heimlicher Schwarm sich umdreht und strahlt. Ich habe natürlich zuerst gedacht er strahlt mich an, weil er genau in meine Richtung geschaut hat. Ganz verlegen habe ich meinen Kopf an den Hamburger getackert, als er auf mich zugekommen ist dachte ich die Welt geht unter. Er hob die Arme, um jemanden zu umarmen, und für einen kurzen Augenblick dachte ich er meint tatsächlich, wahrhaftig, ganz ehrlich mich, aber da hatte sich auch schon jemand unsanft an mir vorbei gedrückt und ein zwei Meter großer Riese warf sich an Benni ran, meinen Benni.
Dass ich seinen Namen kenne macht die Tatsache nicht besser, dass er ziemlich unsanft auf meinem besten Stück gelandet ist und dieses allmählich wach wird.

„Hey, runter von mir.“

Ich versuche ihn von mir runter zu schieben, aber er stößt sich gekonnt vom Boden ab und hält mir sofort die Hand hin, um mir auf zu helfen.

„Fuck, sorry. Ich hab dich überhaupt nicht gesehen in meinem Sprint. Hab ich dir weh getan?“
„Nein, geht, danke.“

Ich nehme seine Hand, er zieht mich einfach so hoch. Man, was müssen da für Muskeln drin stecken. Ich streiche mir den Waldboden vom Hintern ab und mustere ihn mit leicht zusammengekniffenen Augen.

„Hey, bitte nich böse sein. Wenn ich Sport mache bin ich immer total drauf und vergesse alles um mich herum. Ich bin übrigens Ben.“

„Ich w...“ will ich grad ansetzen, aber dann überlege ich, dass es wahrscheinlich nicht so gut ist, wenn ich ihn wissen lasse, dass ich weiß wie er heißt, weil ich ihm in der Stadt gefolgt bin.

„Ich wollt schon sagen du entschuldigst dich nie. Es tat schon ein Bisschen weh.“
„Entschuldige, nochmals. Hab noch 'nen schönen Tag!“

Und er rennt einfach wieder davon.
Ist das denn zu fassen? Rennt mich fast tot, hilft mir auf die Beine, lässt mich besudelt und arg verletzt zurück und lädt mich noch nicht mal auf 'nen Kaffee ein?
Halt, Alex, nicht jeder, der dich umrennt, ist automatisch schwul und an dir interessiert. So einen hatten wir nämlich schon mal Letztes Jahr. Leider war dieser Typ nicht ganz so attraktiv wie Benni, man kann fast schon vom kompletten Gegenteil sprechen. Ich habe die Geschichte mit ihm auch nicht so intensiviert, im Geiste, wie die mit Benni, weswegen ich schnell über ihn hinweg gekommen bin.
Ein drittes, und letztes Mal, schüttele ich den Kopf, um die letzten fünf Minuten in ein Paket zu packen und in meinen Hirnwindungen zu verstauen, dann laufe ich los.
Es geht erstaunlich einfach. Ich setze einfach einen Fuß vor den anderen, laufe durch den Park, durch den Wald, die Anlagen rauf und runter. Die Bäume ziehen an mir vorbei und der Weg scheint immer kürzer zu werden. Ich setze ein strahlendes Gesicht auf, jeder soll sehen können, dass ich Spaß am Sport habe und dass ich Freude habe. Ja, ich, Alexander Mertens, der in Sport immer nur 'ne 4 hatte, hat Freude am Sport. Wo sind Sie, Herr Baumeister, benoten Sie doch jetzt mal meine sportliche Leistung!
Ich denke beim Laufen an letzte Woche, wo ich ein Date mit diesem unglaublich netten jungen Mann hatte, denke daran, dass ich ihn eigentlich anrufen wollte und mache mir eine geistige Notiz, außerdem denke ich an das Essen von gestern, Paella, das Maike selbst gemacht hatte, und auf einmal schwirren in meinem Kopf die Würmchen herum, die, die man sieht, wenn man sich überanstrengt, wenn man seinem Körper zu viel zumutet, an das er nicht gewöhnt ist. Mein Blickfeld verschwimmt, ich reibe mir in den Augen, verliere durch die Umlagerung meiner Hände das Gleichgewicht und falle vorn über auf dem Gehweg, auf welchem ich mich zu allem Überfluss auch noch erbreche.

Der widerliche, säuerliche Geschmack vom Mageninhalt gepaart mit allem Möglichen aus der Gegend steigt meine Nase hoch, und als ich mein Erbrochenes sehe, steigt es mir direkt wieder hoch. Doch diesmal bin ich schlau, ich spucke nicht auf die selbe Stelle, es hätte ja spritzen können, sondern drehe mich auf dem Boden schnell um und lasse es nach vorne heraus schießen.
Sehr zum Leidwesen von Bennis Schuhen, denn dieser beschließt, genau jetzt meinen Weg zu kreuzen. Ich erkenne ihn selbstverständlich erstmal noch nicht. Mein Mund ist noch voller Kotze, meine Augen voller Tränen und ich knie irgendwo auf Schritthöhe. Erst, als ich eine Hand ergreife, und mit einem Ruck hoch gerissen werde, fällt es mir wie Schuppen von den Augen.

„Alles klar?“

Ja, sicher. Natürlich ist alles klar. Ich stehe in meiner eigenen Kotze, meine Klamotten sind voll damit, meine Schuhe kann ich wegschmeißen, außerdem steht mein absoluter Traummann vor mir und sieht mich so dreckig. Könnte es mir denn noch besser gehen? Wäre ein romantisches Dinner mit Sonnenuntergang denn so viel besser wie die Situation jetzt?

„Mir geht es gut, danke.“
„Das“, sagt er und deutet auf mein Frühstück, „sieht aber ganz anders aus.“
„Ich war einfach zu schnell zu schnell.“
„Wat?“
„Du weißt schon, hab' zu schnell Gas gegeben, war zu schnell dabei.“
„Achspo, du fängst grad erst an mit laufen?“
„Ich versuche es, ja.“
„Hm, es sah schon so aus, als ob du das länger machst.“

Hä? Wie es sah so aus?

„Läufst du mir etwa nach?“
„Mh, nicht ganz. Ich bin halt durch die Anlagen gejoggt und hab' dich ein paar Mal gesehen. Ich wollt mich nochmal richtig entschuldigen, dich eventuell auf 'nen Kaffee einladen.“

Richtige Worte, absolut falscher Moment. Dennoch greife ich den Strohhalm.

„Na gut, aber ich muss mich erst umziehen. Mein Auto steht in der Richard-Strauss-Allee.“
„Das ist aber von hier aus noch ein ganzes Stück.“
„Hast du Angst du schaffst das nicht mehr?“

Er lächelt, ich glaube, solch eine freche Antwort hat er nicht erwartet.
Wir gehen den ganzen Weg von meinem Unfallort bis zu meinem Auto zusammen. Er erzählt mir, dass er eigentlich aus dem Süden kommt, Karlsruhe. Dass er hier erst bei seiner Tante gewohnt hat, weil seine Eltern sich ganz schlimm gestritten hatten und er es nicht mehr ausgehalten hatte. Dass er nächsten Monat vierundzwanzig wird. Dass er hier in den City Arkaden bei H&M als Verkäufer arbeitet. Dass er eigentlich Sport studieren wollte, durch einen Unfall jedoch seine Kniescheibe zertrümmert wurde und er nun darauf wartet, dass sie wieder komplett verheilt, weswegen er auch „nur“ joggt.
Wir kommen an meinem Auto an, ein schwarzer Mini. Der war zwar teuer, aber ich habe eisern gespart, um mir das Schmuckstück leisten zu können. Benni schaut nicht schlecht, als er den Wagen erblickt, und auf seine Frage hin, ob der denn nicht unglaublich viel Kohle gekostet habe, antworte ich mit einem „Ahahaha... Quatsch.“
Ich öffne schnell den Kofferraum, so langsam wird es unangenehm in den vollgekotzten Klamotten. Meine Beine haben auch etwas abbekommen. Als ich meine Laufhose ausziehe und im Wagen verschwinden lasse, kommt mir ganz kurz wieder die Suppe hoch, aber ich schaffe es, das vorher geschehene zu unterdrücken, und ziehe, ganz kotzfrei, meine Jeans an. Dazu das blaue T-Shirt mit dem Hasen, meine Schuhe mit dem Totenkopf und schon steht ein komplett neuer Alexander vor Benni.

„Cooles Shirt, das hab' ich auch. Aber nich' von H&M.“
„Ich hab's irgendwo gefunden und fand's ganz toll.“

Irgendwie ist es mir unangenehm, dass er mich so cool findet. Vorhin schon fand er meine Laufschuhe ganz toll. Hat unnormal oft erwähnt, dass er sich solche auch noch kaufen wollte. Aber das Gefühl, dass mich so ein überaus schmucker Typ mich, MICH, interessant findet, überwiegt einfach und ich lächle einfach nur ganz verlegen.
Benni hat kein Auto, er läuft jeden Tag den ganzen Weg von der Kluse aus bis zu den Barmer Anlagen. Um fit zu bleiben. Ich erwähne nicht, dass ich neulich vom Fünf-Meter-Spurt zum Bus so dermaßen im Arsch war, dass der Busfahrer nochmal angehalten hat, um nach mir zu schauen.

„Wo fahren wir eigentlich hin?“
„Lass ins Moritz fahren, das ist fast direkt bei mir um die Ecke.“

Das Café Moritz ist ein ganz süßes Etablissement. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass es ein schwules Café sein soll, aber merken tut man davon nichts. Kein Kylie, kein Madonna, außerdem sitzen dort nur ganz unglaublich coole Leute mit ihren unglaublich coolen Freunden und trinken unglaublich coole Drinks.
Wir gehen da eigentlich nur hin, wenn wir zu faul sind, um bis nach Elberfeld zu fahren, also eigentlich fast jedes Mal, wenn wir ausgehen. Der Weg bis ins Luisenviertel ist nun mal nicht zu unterschätzen, ungeübte Geher laufen fast zwei Stunden von der Laurentiuskirche bis zum Alten Markt. Aber wir nicht. Wir schaffen das in einer dreiviertel-, manchmal sogar in einer halben Stunde.
Jedenfalls sitze ich da jetzt mit Benni. DEM Benni, um genau zu sein. Dem Benni, von dem ich meiner besten Freundin, Annika, schon die ganze Zeit erzähle. Der Benni bestellt eine Bionade, ich ein Alt. Nach dem Schock habe ich jetzt echt ein Bier verdient. Ich überlege kurz, ob ich noch meine Portion Nachos mit Salsa dazu bestellen soll, aber dann erinnere ich mich wieder an die Geschichte von vorhin.
Mein Gedächtnis ist sehr schlecht. Ich gucke auf die Uhr, und weiß danach nicht wie spät es ist. Dieselbe Geschichte ist es mit Bushaltestellen. Ich schaue auf den Plan, gucke, wo ich aussteigen muss, und kaum ist der Bus abgefahren, habe ich schon wieder vergessen wo ich raus muss. Das verfolgt mich bereits mein ganzes Leben, aber ich habe mich damit abgefunden. Außerdem hat es mir bereits den ein oder anderen Ärger erspart.
Der Benni und ich, wir bekommen unsere Getränke und er erzählt mir immer mehr von sich selber. Dass sein Vater wahrscheinlich in die USA gehen wird und er eventuell mitgehen kann. Dass sein Kater, den er hatte seit er fünf war, vor ein paar Wochen gestorben ist, woraufhin ich ganz kurz einlenke, denn ich habe auch zwei Katzen, beziehungsweise zwei Kater, Fiko und Linus. Beide sind kein Jahr alt und halten mich echt auf Trab, was Benni ganz unglaublich witzig findet. Er erzählt mir auch, dass er hier noch nicht so viele gute Freunde gefunden hat, obwohl er schon seit fast zwei Jahren hier wohnt. Dass er hier auch sein Abitur abgeschlossen hat, und zwar am St. Anna. Dass er kurzzeitig mal in Brasilien gelebt hat. Dass er, dass er, dass er, …
Ich höre natürlich seit seinem ersten Wort nicht mehr hin, sondern schaue die ganze Zeit in seine dunkelgrünen Augen. Ich hoffe, dass er es nicht bemerkt, und immer, wenn er mich anschaut, schaue ich schnell auf die Uhr, die hinter ihm hängt. Der Zeiger nähert sich der Zwölf. Wir sitzen nun schon fast eine Stunde hier, als er auf sein Sportlerarmbanduhrpulsmessnavigationskaffeemaschinengerät. schaut.

„Ups, da haben wir uns aber verquatscht. Sollen wir irgendwann mal abends ein Bier trinken gehen?“

Jetzt mal kurz Pause. JA, ich weiß, dass ich mit dem Mann schlechthin im Café sitze. JA, ich weiß, dass ich ihn anstarre, wie ein dickes Kind eine Sahnetorte. JAAAA, ich weiß, dass er wahrscheinlich zwanzig Frauen in fünf Städten haben wird und JAAAAAAAAAAAAA, er kann ganz bestimmt, überhaupt nicht, absolut never ever schwul sein.
Wieso dann also diese Frage? Bin ich ein potenzieller Freund Freund? Jemand, den er um sich haben möchte, ohne was von ihm zu wollen? In der schwulen Welt hat man nicht viele attraktive, heterosexuelle Freunde, die keine Angst vor einem haben, sollte ich also zuschlagen? Natürlich hätte ich nichts dagegen, wenn da mehr draus werden würde, und sei es nur einmal, aber die Chancen tendieren noch mehr gen Null, als wenn der Papst plötzlich protestantisch werden würde.
Mir schwirren tausend Fragen durch den Kopf, aber ich beschließe, sie alle erstmal zu verpacken und an mein Hirn zu senden, das hier schreit geradezu nach einer neuen Freundschaft.

„Ja klar, wieso nicht?“, antworte ich ihm nahezu emotionsfrei und er schreibt mir seine Handynummer auf meinen Bierdeckel. Dann packt er seine Sachen, setzt seine ultracoole Sonnenbrille auf und verabschiedet sich, beim Rausgehen drückt er mir noch einmal freundschaftlich auf die Schulter. Ich werde mich dort nie wieder waschen.
 

Hochgiftig

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3. Expect the unexpected

Eine Woche ist bereits vergangen seit meinem Trainingsbeginn. Ich war seitdem regelmäßig joggen, sprich- jeden Tag eine halbe Stunde. Es hat mich auch nicht mehr ganz so viel Kraft gekostet, obwohl ich wieder einmal auswerfen musste. Hat zum Glück dieses Mal keiner gesehen. Ich habe auch ganz ernsthaft versucht nicht immer alles in mich hinein zu stopfen, an drei von sieben Tagen hat das auch ganz gut funktioniert, die anderen Tage jedoch hatte ich solch ein Tief, dass ich unbedingt ein Ventil brauchte. Gut, ein Ess-Ventil während eines strengen (…) Trainingsplans zu öffnen mag nicht ganz geschickt sein, aber ich habe es doch tatsächlich geschafft ein Kilo abzunehmen. HA! Siehst du, Leben, ich habe dich geschlagen. Gib mir noch zwanzig weitere Wochen und ich bin fast schon magersüchtig.
Als ich von meinem heutigen Lauf nach Hause komme, erwarten mich bereits zwei hungrige Mäuler an der Haustür.
„Hallo ihr beiden, gibt gleich was.“ Mit großen Augen werde ich durch die Wohnung begleitet. Es ist seltsam, immer, wenn die beiden Hunger haben, werden sie zu den liebsten Haustieren der Welt. Dann will plötzlich gekuschelt werden, man darf sie streicheln, ohne, dass sie den Kopf einziehen oder mürrisch gucken, und sie machen dieses Kopf-an-Beine-drück-Dings, was die Musterkatzen in Filmen oder der Fernsehwerbung andauernd machen.
Bevor ich den beiden jedoch etwas zu essen mache, geht mein Finger auf den „AN“-Knopf meines Laptops. Chices kleines Teil. Heiß, relativ teuer, aber es war unumgänglich, ihn zu kaufen. Außerdem passt so ein kleines Gerät viel besser in meine Wohnung, als so ein klobiger Tower.
In der Zeit, in der er hochfährt, schmeiße ich eine „P!nk“-CD in meine Anlage und drehe auf. Um die Uhrzeit stört das noch keinen. Ich stelle auf Shuffle und gehe in die Küche. Während Miss Moore mit mir um die Wette singt knackt eine Dose Katzenfutter auf und wandert in den Napf. Rind und Huhn in Soße. Schmeckt kuh-ltig, steht auf dem Etikett. Fasziniert von dem absolut kreativen Werbespruch, von denen es im Übrigen noch viel mehr gibt, wandert die Dose gekonnt in den Mülleimer und der Napf in einem Rutsch in den Flur. Super, jetzt habe ich erstmal fünfzehn Minuten Ruhe. „I'm a good excuse to be a bad influence on you“ dröhnt es aus den Boxen.
Manchmal, wenn keiner guckt, habe ich meine dollen fünf Minuten. Zum Beispiel jetzt. Die Musik ist laut, ich bin aufgekratzt, aufgedreht, nichts kann jetzt schief gehen. Ich tanze durch die Wohnung wie in einem Musikvideo, singe jede Zeile korrekt mit und mache meine, eigens für solche Momente einstudierte, Choreographie. Meine Videos im Kopf sind natürlich wesentlich besser, als die von P!nk. Versteht mich nicht falsch, ihre Videos sind unschlagbar, aber meine Kopffilmchen sind immer noch eine Spur besser. Ich gehe zum Beispiel viel mehr auf den Text ein. In meinen Filmen passieren die Lyrics nämlich zu einhundert Prozent. In meinem Kopf sieht das ganz gut aus, jetzt muss ich, oder jemand anderes, nur noch eine Maschine erfinden, mit der er diese Bilder auf CD brennen kann.
Während ich also meine finale „and you, and you aaand YOU!“-Pose einnehme, sehe ich aus dem Augenwinkel, dass ich Post habe. Also, eine eMail. Denn Briefe schreibt heutzutage keiner mehr und mir sowieso nicht.








Von: Pierre
Datum: 27.4.2008, 17:24:18
An: lexi
Betreff: ruf mich sofort an!!!!!!!!

lexi, ruf mich sofort an!!!!!!!!

guggstdu nie in dein fach auf der station?????

es geht um deinen urlaub, die reden hier von deiner kündigung!!!!!!!!

ruf mich sofort an!!!!!!!!!!!!!!!!!!

p.

Etwas perplex schaue ich auf den Bildschirm. Kündigung? Ich schicke dir eMail weiter an meine beste Freundin, Annika, die mit mir im Krankenhaus arbeitet und schreibe Pierre eine Antwort.

Von: apfelschorleschmeckt@yahoo.de
Datum: 27.4.2008, 17:28:45
An: Pierre
Betreff: RE: ruf mich sofort an!!!!!!!!

HÄ?

Ich weiß, dass Pierre nicht ganz so fesch im Umgang mit dem PC ist. Ich habe unzählige versucht, ihm die multiplen „!“ und „?“ abzugewöhnen, er ist immerhin fast fünfunddreißig und keine zehn mehr. Aber scheinbar fruchtet das bei ihm nicht. Ich gehe also in die Küche, vorbei an den nun wild knurrenden Bestien („Du nimmst uns das Essen nicht mehr weg!!!“), um mir endlich etwas zu essen zu machen. Der Blick in meinen Kühlschrank jedoch spricht eine andere Sprache. Eine, die ich zwar kenne und verstehe, aber immer so tue, als ob ich von nix Ahnung hätte. Die Einkaufssprache. Vielleicht kennt ihr die ja auch schon, es ist die Sprache der Lebensmittel und Einkaufsgüter.
Stellt euch einfach nur mal vor, ihr geht in einen Supermarkt und alles, was ihr dort kaufen könnt, könnte reden. Von der Zahnbürste zur Zitrone, von den Kondomen zum Kinderkaffee. Alles. Und mit ihren Worten becircen sie euch. Ihr wollt sie. Ihr nehmt sie. Ihr kauft sie. „Kauf mich“ ist dabei noch der harmloseste Spruch. Wenn ihr am Obststand vorbeigeht, und eine Melone plötzlich „Vernasch mich“ ruft, dann kann man schon mal vor Angst und Scham fast über seinen Einkaufswagen fallen.
Nein, ich habe diese Sprache nicht erfunden. Die war schon immer da. Es sind die Supermärkte und Warenkonzerne, die uns die Fähigkeit genommen haben sie zu verstehen! Mit all ihren Werbeschildern, Pappaufstellern, Banner, Lichtinstallationen und Kommerzfilmchen haben wir den Einkauf so sehr in unseren Alltag integriert, dass die Einkaufssprache einfach verstummt ist. Die Waren können einfach gegen den Lärm der Werbesprache nicht anstinken. Das strengt sie so dermaßen an, dass sie sich dazu entschieden haben einfach nicht mehr zu uns zu reden, sondern sich einfach willenlos mitnehmen zu lassen.
Ich jedoch kann diese Sprache noch hören. Mein Gehirn ist noch nicht so verblendet von der Marketinggesellschaft, ich sehe die strahlenden Gesichter und höre die entzückten Stimmen der Produkte. Letztens, ganz witzige Geschichte. Ich gehe, wieder einmal, durch die Gemüseabteilung, die MoPro-Abteilung liegt direkt nebenan. Ich bleibe an den Gurken stehen („Na, wie wär's heute mit uns beiden?“) und beobachte am Kühlregal, wie ein zarter sechseinhalb Tonner soeben dabei ist sich die sechs Pfund Käse für den Mittagssnack auszusuchen. Während ihre Augen also über die große Auswahl an Käse streifen, höre ich etwas von hinten rufen.

„Nimm uns, du Walross. Wir sind gesünder. Iss fünf von uns und dein Bauch ist so voll wie nach einem Stück Käse.“

Ich hab gedacht ich höre nicht richtig. Beleidigt das Gemüse jetzt schon ihre potenziellen Kunden? Ich schaue mich gut um, aber entdecke den Übeltäter nicht. Ich entscheide mich für ein Netz Paprika und will es grad in den Wagen legen.

„Siehst du, Fetti, der Moppel macht es richtig.“

Das war zu viel. Meine Mutter mag es bemäkeln, mein Frisör auch, meine Sexpartner dürfen eventuell auch noch ein Wort mitreden. Wenn jedoch schon mein Gemüse anfängt, mich als Fettsack zu beschimpfen, dann muss da was dran sein.
Ich muss nicht erwähnen, dass ich das Netz Paprika wieder zurückgelegt und stattdessen eine Gurke mehr gekauft habe?

Um mal auf den Punkt zu kommen – Kühlschränke beherrschen diese Sprache auch, jedenfalls in einer abgewandelten Form. Sie sagen dir nämlich, dass du bald wieder einkaufen gehen musst. Aber um diese Art der Sprache zu verstehen muss man kein Genie, Professor oder Freigeist sein, nein, es reichen gute Augen und ein knurrender Magen. Das ist auch der Grund, weswegen ich mir meine Jacke anziehe und nochmal aus dem Haus gehe, weil ich genau weiß, dass der Akzenta an der Adlerbrücke gleich zu macht und ich die nächste Schwebebahn noch kriegen könnte.

Ich wandere also durch die Gänge meiner Akzenta-Filiale und stelle mich, mit einem riesengroßen Fragezeichen über dem Kopf, vor die Tiefkühlabteilung. Was essen?
Ich bin ein schlechter Einkäufer. Ich mache mir zwar immer einen kleinen Zettel, was ich benötige, oder benötigen könnte, diesen vergesse ich aber immer entweder zuhause, oder im Auto, oder ich verliere ihn ganz. Im aktuellsten Fall ist er einfach verschollen. Deswegen packe ich pro Gang immer eine Sache ein, wo ich denke, dass ich sie daheim nicht mehr habe. Das führt zu der Tatsache, dass ich mittlerweile einen so großen Vorrat an Billigseifenspendern habe, dass ich mir drei Jahre lang, drei mal am Tag die Hände waschen könnte. Da ich da jetzt dran gedacht habe, stelle ich den Spender in meiner Hand (Vanille&Mandel) wieder zurück ins Regal.
In der TK-Abteilung angekommen entscheide ich mich für Lasagne und Tortelloni in Schinken-Sahne-Sauce. Nicht alles auf einmal, was ich heute Abend noch esse muss ich noch herausfiltern. Jedenfalls kommt ein Salat dazu, eine Gurke („Na du Hübscher?“) und diverse andere Dinge, manche davon finden auf mysteriöse Weise ihren Weg in meinen Einkaufswagen. (was mich wieder einmal von der Tatsache überzeugt, dass es entweder die ach so fleißigen Akzenta-Mitarbeiter sind, die einem heimlich Artikel in den Wagen legen, oder aber kleine Trolle, die denselben Zweck erfüllen)
Der Weg zur Kasse ist immer der gefährlichste Teil des ganzen Einkaufes.
Dort verstecken die klugen Einzelhandelskaufmänner und -frauen nämlich immer die Dinge, die man im Vorbeigehen einpacken soll. Kleine Snacks, unwichtige Billigartikel wie Nähgarn, und an der Kasse kommen die ganzen Einzelnaschereien. Da darf man mich ja gar nicht alleine dran lassen. Wenn ich zu diesem Zeitpunkt nicht bereits voll auf beschäftigt bin, packe ich immer einen ganzen Monatsvorrat an Süßwaren ein. Was natürlich wesentlich teurer ist wie die Großpackungen.
Dieses Mal habe ich jedoch eine gute Ablenkung. Ein neuer Kassierer sitzt an meiner Stammkasse, Kasse 5. Er wirkt wie grad achtzehn geworden, fesche Frisur, gepierctes Ohr. Nette Stimme, soweit ich sie verstehen kann. Da sich hinter mir niemand in die Schlange einreiht, packe ich alle Artikel in einer möglichst langen Reihe auf das Transportband, um den neuen Mitarbeiter einen möglichst langen Augenblick dabei beobachten zu können, wie er meinen Einkauf scannt. Er fängt ganz gut an, scannt fast wie ein Profi, die Lasagne zieht er jedoch doppelt über den Laser, weswegen er mit einer leichten Gesichtsröte „Storno Kasse 5“ in sein Mikrofon spricht. Die zwei Minuten, die die Schichtleitung benötigt, um zur Kasse zu kommen, nutze ich, um ein kleines Gespräch anzufangen.

„Erster Tag heute?“
„Mh, jaa. Auch erstes Storno.“
„Ach, du schlägst dich super. Ich hab da schon ganz andere erlebt.“
„Du kommst öfter her?“
„Jede Woche zwei bis drei Mal. Bin quasi ein Stammkunde.“
„Dann kennt man dich hier also?“
„Ein paar, ich kenne viele Kassiererinnen und Aushilfen. Alex.“
„Mike.“
„Hallo Mike, viel Glück im Schlaraffenland.“
„Danke, 17,88 macht das dann gleich, bitte.“

Mit dem Nennen des Preises beendet er gekonnt unser privates „Kunde zu Mitarbeiter“-Gespräch. Ich zücke stilvoll meine EC-Karte und überreiche sie mit einer, leider sehr schwulen, Handbewegung. Grinsend nimmt er sie an sich und zieht sie durch den Kartenleser. Rosi, eine Schichtleitung, biegt in den Gang zu Kasse 5 ein.

„Nabend Rosi, alles klar?“
„Hallo Alex, alles gut wie immer. Mike, du schuldest mir zehn Euro.“
„Wieso?“
„Ich hab gewettet du machst heute kein Storno mehr.“

Rosi storniert den Einkauf und Mike zieht alles nochmal über den Scanner. Er hat Recht, ich muss 17,88 € zahlen. Ich frage mich jedes Mal, wie die Kassierer das machen. Ob sie schon vorher sehen können, was der Kunde nach dem Storno zahlen muss, oder ob sie einfach so fit im Kopfrechnen sind.
Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch, als Mike mich antippt und mir meine Karte entgegen hält.

„Das klappt mich, die Kasse sagt mir es sei nicht genug Geld auf dem Konto.“

Unter normalen Umständen hätte das eine sehr unangenehme Situation sein können. Zur Mittagszeit. Mit quengelnden Kindern in der Schlange. Mit einem unfreundlichen Kassierer und einer noch unfreundlicheren Schichtleitung. Ich denke kurz nach. Heute ist der achtzehnte. Geld müsste seit drei Tagen auf dem Konto sein.

„Versuch doch bitte nochmal.“

Er zieht die Karte nochmal durch den Leser, aber auch nach diesem Mal, und auch nach den vier weiteren Versuchen, während welchen mein Adrenalinspiegel immer weiter ansteigt, bekommen wir keine positive Antwort.

„Scheiße Rosi, was mach ich denn jetzt?“
„Hast du Bares mit?“

Ich schaue nach. Natürlich nicht, ich bin ein Plastikgeldmensch.

„Nein. Aber ich brauche die Sachen echt dringend.“
„Mensch Alex, du weißt, dass ich das selbst für die Kanzerlin nicht machen dürfte.“
„Ich weiß...“

Ich spüre wie mir die Tränen kommen, und zwar vor Wut und vor Scham. Sowas ist mir echt noch nie passiert und es fühlt sich echt beschissen an. Ich werde nie wieder vor Schadenfreude grinsen, wenn ich jemanden dabei beobachte, wenn es ihm passiert.
Ich stehe vor Mikes Kasse wie ein begossener Pudel, kleine Tränen laufen mir die Wange runter und ich weiß nicht was ich tun soll. Mike schaut anteilnahmslos auf seine Schuhe und Rosi steht mit verschränkten Armen dahinter.

„Und? Wat is' jetzt?“
„Ich...“
„Lass mal, ich mach das.“

Ich drehe mich um, Benni steht hinter mir.

„Aber scannen Sie das hier bitte auch noch, ja?“

Ich schaue zwischen den dreien hin und her und versuche meine Tränen zu verstecken. Benni soll mich nicht weinen sehen, noch nicht.

„Du musst das nicht machen, echt nicht.“
„Doch, sonst kannst du mich heute ja nicht zu … Lasagne einladen.“

Ich lächle, und als ich mit der halbvollen, buntbedruckten Akzenta-Tüte und Benni an meiner Seite Richtung Auto gehe, lächle ich noch viel mehr.

Daheim angekommen schmeiße ich sofort den Backofen an, während Fiko und Linus aufgeregt und neugierig Benni anschnuppern. Er scheint es sichtlich zu genießen, die beiden wuseln um seine Beine und schmiegen sich an seine Hand. Mistviecher. Fremdgänger. Wieso macht ihr das nicht auch mal bei mir? Ich stelle Benni ein Glas Cola hin, mit Eis und Zitrone. Ich bin ein guter Gastgeber.
Während wir uns über alles mögliche unterhalten erkundet Benni meine Wohnung. Er ist ganz fasziniert von meiner Buchsammlung, in der ich knapp dreihundert Bücher verstaue.

„Hast du die alle schon gelesen?“
„So ziemlich, manche sogar öfter als fünf mal. Aber es gibt auch welche, die ich noch nie gelesen habe.“
„Zum Beispiel?“

Ich stelle mich vor meinen Bücherschrank und suche nach dem perfekten Beispiel. Ich ziehe „Schiffbruch mit Tiger“ heraus.

„Hier. Da geht es um Gott und so. Ich hab den Text auf dem Buchrücken gelesen und kommentarlos ins Regal gestellt.“
„Glaubst du nicht an Gott?“
„Ich? Nein, nicht mehr. Früher, als Kind, ja. Aber seit ...“
„Seit?“

Ich schlucke. Ich weiß nicht, ob ich Benni jetzt schon von Nicholas erzählen kann. Ich meine, eigentlich kenne ich Benni ja kaum, und nur, weil ich mit ihm total gerne unanständige Dinge tun würde, heißt das ja nicht automatisch, dass ich ihm mein Herz ausschütte.

„Ich … naja,...“

Ich nehme einen tiefen Schluck aus meinem Glas.

„Als Kind hab ich noch an Gott geglaubt, hab diesen Scheißkerl richtig celebriert. Damals bin ich immer mit meinem besten Freund und seinen Eltern in die Kirche gegangen, weil meine Eltern selber nicht gläubig waren. Nicholas, hieß er. Wir waren unzertrennlich, haben alles gemacht. Ich war mit ihnen im Urlaub, in Spanien, in Italien, hab fast halb Europa kennen gelernt Wir saßen in der Grundschule nebeneinander, haben bei Klassenarbeiten voneinander abgespickt, haben zusammen schwächere verprügelt, wir waren mal nett und mal richtig scheiße.“

Ich schlucke und muss kurz pausieren. Die letzten zehn Jahre habe ich die Erinnerung an Nicholas erfolgreich verdrängt. Ich scanne den Raum nach einem Taschentuch, finde eines unter meinem Kopfkissen und wische mir unauffällig meine aufsteigenden Tränen weg. (ich tarne es als Nase putzen)

„An seinem zehnten Geburtstag sind wir morgens in die Kirche gegangen, es war ein Sonntag. Ich hatte ihm ein unglaublich tolles Geschenk besorgt, die allerneueste Wasserpistole, eine von diesen großen mit Tank, weißt du?
Wir sitzen also im Kreis von Pfarrer Nade, er ist schwarz und hat immer richtig coole Kindergottesdienste abgehalten. Naja, wir sitzen da also und singen und machen richtig mit, als ich sehe, dass Nicholas Augen ganz glasig werden. Ich tippe ihn an und sage, dass er wieder mitsingen soll, da dreht er seinen Kopf zu mir, sagt „Opa?“ und fällt um.“

Jetzt kann ich meine Tränen nicht mehr unterdrücken. Es läuft einfach, das zweite Mal heute Abend.

„Was ist mit Nicholas passiert?“
„Geplatztes Blutgefäß im Hirn. Einfach so. Peng. Tot. Die Sanis konnten nichts mehr machen. Nach diesem Tag bin ich nie wieder in die Kirche gegangen. Gott hatte mir meinen besten Freund genommen, mich sollte er nicht kriegen. Außerdem habe ich seitdem den Wunsch gehegt im Krankenhaus zu arbeiten. Kranke Leute gesund zu machen, ihnen zu helfen. Und ich habe es geschafft, ich werde Krankenpfleger im Klinikum.“

Benni sagt kein Wort und ich danke ihm dafür. Ich möchte am Liebsten grad einfach nur alleine sein, das Licht aus machen und still vor mich hin weinen, als Benni mich von hinten umarmt.

„Du konntest nichts dafür, das weißt du.“
„Ja, trotzdem. An diesem Tag habe ich meinen Glauben verloren und ich will ihn auch nicht mehr mehr zurück.“
„Das verstehe ich. Das muss schrecklich für dich gewesen sein.“
„Ja, kommt hin...“

Wir stehen noch eine ganze Weile so da, er umarmt mich und ich versuche nicht mehr zu weinen. Unter anderen Umständen hätte mein Herz Luftsprünge gemacht, aber jetzt tut es einfach nur weh.

„Ich muss noch meine Mails checken, ich erwarte eine wichtige Nachricht.“
„Ach, kein Thema, soll ich gehen?“
„Nein nein, bleib ruhig.“

Etwas steif lösen wir uns aus seiner unvorhersehbaren Zärtlichkeit, er drückt mir noch einmal freundschaftlich die Schulter. Ich lächle ihn verwegen an und setze mich an meinen Laptop. Drei ungelesene Mails.

Von: Annika Stamm <THEAnnika@gmx.de>
Datum: Montag, den 27. Juli 2008, 19:57:14 Uhr
An:apfelschorleschmeckt@yahoo.de
Betreff: Kündigung und blaa

Hey Spatz,

ich hab nur was mitbekommen von wegen Urlaub verschoben. Genaueres kann ich dir morgen sagen.

Da ist nix, keine Panik.

Samstag Butan?

<3 A.

Von: Pierre
An: lexi <apfelschorleschmeckt@yahoo.de>
Datum: 27.4.2008, 20:01:44
Betreff: RE: RE: ruf mich sofort an!!!!!!!!!!!!!

du checkst auch gar nix, die haben dir deinen ausbildungsvertrag gekündigt weil du seit zwei wochen nicht zur arbeit kommst. ich habe dir doch gesagt du musst deinen urlaub bitte verlegen, wir brauchen dich. ich war dabei, du hast den wisch unterschrieben. es tut mir so leid. ich rede mit dem chef aber ich verspreche dir nix.

kuss

pierer

Die dritte Mail besteht nur aus Werbung, aber das merke ich gar nicht mehr, da sich mein zentraler Hauptrechner im Kopf grad runterfährt. Ausbildungsvertrag gekündigt. Jetzt fällt es mir auch wieder ein. Ungefähr einen Monat vor meinem Urlaub ist Pierre zu mir gekommen und hat mich gebeten meinen Urlaub zu verschieben, weil Schwester Martina in der Zeit zu einer Schulung musste und man mich unbedingt auf der Station benötigte. Ich gehe also zum Chef ins Büro, unterschreibe den Wisch und wir lachen noch über Herrn Wesen, einen sehr seltsamen Patienten. Cheffe fragt mich, ob ich im Urlaub wegfahren werde und ich verneine. Sport, sage ich ihm, will ich im Urlaub machen, mal etwas Muskelaufbautraining. Was natürlich gelogen war, ich will ja abnehmen.

“Und? Haste was wichtiges bekommen?”

Ich schaue Benni fassungslos an und finde keine Worte. Er beugt sich zum Bildschirm runter und liest schnell Pierres Zeilen.

“Scheiße.”
“Kannste mal laut sagen. Was mach ich denn jetzt?”
“Du musst mit deinem Chef reden. Also, mit deinem Ex-Chef. Und du brauchst 'nen Job.”
“Wo krieg ich denn um die Uhrzeit einen Job her?”
“Na, heute nicht mehr, du Dussel. Morgen.”
“Morgen werde ich immer noch hier stehen und den Bildschirm anstarren.”
“Nöö, ich komm morgen und trete dir in den Arsch.”
“Musst du nicht arbeiten?”
“Nein, ich habe ein paar Tage frei. Ich bin dann so gegen elf bei dir.”
“Morgens oder abends?”

Er zieht eine Augenbraue hoch, schnappt sich seine Jacke und geht, lässt mich vollkommen allein in der Wohnung. Die Katzen knacken auf meinem Bett und ich stehe wie angewurzelt vor dem Schreibtisch.

“MORGENS ODER ABENDS???”
 

Hochgiftig

Mitglied
4. “Das macht dann 6,50 €, bitte.”

Es ist tatsächlich wahr. Ich bin nicht mehr in der Ausbildung zum Krankenpfleger. Durch ein vollkommenes Missverständnis musste ich den Traumberuf schlechthin aufgeben und mir nun etwas Neues suchen. Auf meinem Schreibtisch liegt schon die ganze Zeit der Bierdeckel mit Bennis Telefonnummer, aber ich traue mich nicht ihn anzurufen. Er sagt zwar, dass er mir helfen will, ich will ihn aber noch nicht fragen. Ich meine, ich habe zweimal vor ihm geweint, ohne dass ich ihn wirklich gekannt habe. Das muss für den Anfang reichen, da muss ich ihn nicht auch noch mit meinen Jobproblemen belasten.
Ich habe noch ein paar Tage Zeit, bevor ich mich wirklich um einen Job kümmern muss, meine Mutter hatte mir ein wenig Geld überwiesen. Ein wenig ist vielleicht etwas übertrieben, es reicht für zwei Monatsmieten plus Einkäufe plus jedes zweite Wochenende weggehen. Meine Mutter ist nämlich verhältnismäßig reich. Sie hat vor ein paar Jahren etwas mehr Geld im Lotto gewonnen und tourt seitdem um die Welt. “Komm doch mit, Schatz, das wird bestimmt klasse.”, hatte sie gesagt, aber ich hätte lieber mit dem Teufel gerungen, als mit ihr auf Weltreise zu gehen.
Meine Mutter ist nämlich sehr anstrengend. Laut, exzentrisch, redet ununterbrochen in einer Wahnsinnsgeschwindigkeit und hat alle zwei Wochen einen neuen Lover. Gut, auf das letzte bin ich vielleicht etwas neidisch, auf das Geld und die schönen Reisen auch, aber hey, ich musste mich damals entscheiden zwischen meinem Traumberuf und meiner Mutter. Wer hätte sich da nicht für die Arbeit entschieden?
Ich durchforste schon seit Stunden das gesamte Internet nach guten Jobs. Dabei gehe ich alle Möglichkeiten durch, 400-€-Job, Teilzeit, Vollzeit, nur die 1-€-Jobs, die lasse ich aus, das überlasse ich Leuten, die es noch dringender brauchen als ich. Während meiner Suche stoße ich immer wieder auf Call Center Agenturen, aber damit fange ich gar nicht erst wieder an. Ich hatte es in der Vergangenheit mehrfach mit Call Centern versucht, aber mein gutes moralisches Vorstellungsvermögen und meine pure Menschlichkeit verhindern leider, dass ich 80-jährigen Damen Internet samt DSL verkaufen kann. Oder aber HartzIV-Empfängern irgendwelchen teuren Schnickschnack, den sowieso niemand braucht.
Zwischen all den Jobangeboten fällt mir auch immer wieder das “Pornodarsteller” ins Auge. Ganz im Ernst – ich habe bereits über die Möglichkeit nachgedacht, Pornostar zu werden. Immerhin ist das doch ein gewaltiges Sprungbrett in Richtung Hollywood. Naja, zumindest ins Rotlichtviertel dort. Immerhin ist die Bezahlung gut. 1500 € pro Dreh, 2000 € pro Tag, man muss sich nur die guten Rosinen rauspicken und verschlingen.
Dann habe ich den Geistesblitz schlechthin. Ich gehe auf die Website von Akzenta, suche meinen Akzentamarkt heraus (ich bin etwas enttäuscht, dass dort nichts über sprechendes Gemüse steht), ändere meine Standardbewerbung so ab, dass ich fortan einen Job als Verkäufer suche, und schreibe noch mit hinzu, dass ich bereits viele dort Angestellte kenne und wir uns immer mit Vornamen ansprechen. Ein klein wenig zu dick aufgetragen klingt das schon, das gebe ich zu, aber es ist immerhin die Wahrheit und dabei sollte man ja bleiben, wenn man sich wo bewirbt.
Mein Drucker spuckt, mit letzter Kraft, die drei Seiten meiner Bewerbung aus (Lebenslauf, Bewerbungsschreiben mit Foto, letztes Zeugnis) und durchkrame den Schrank nach einer passenden Mappe. Ich weiß, dass ich hier irgendwo noch mindestens fünf habe, da ich das letzte Paket damals nicht geöffnet habe. Tatsächlich finde ich die teuren Mappen (eingeschlagen in schwarzem Samt, Magnetschließe) und verstaue die Papiere im Inneren. Jacke, Tasche, Schlüssel, Handy, alles, was man benötigt, wenn man mal eben einkaufen geht, wandert in meine unmittelbare Nähe über, ich knuffe die Katzen liebevoll zum Abschied und verlasse meine Wohnung. Mit der 32 fahre ich bis zur Werther Brücke und steige dort, für zwei Stationen, in die Schwebebahn. Mein Herz pocht schon ein wenig, einmal, weil ich nicht früher darauf gekommen bin, mich in meinem Akzenta zu bewerben, und dann, weil ich wahnsinnig aufgeregt bin. Das ist mein erstes Bewerbungsgespräch seit Jahren und ich bin wahrscheinlich total aus der Übung. Das heißt, sofern es zu einem Gespräch kommt.
Mit meiner üblichen Jedi-Geste öffne ich die Eingangstüre und schreite direkt zur Information. Ich habe Glück, Rosi steht dort und telefoniert.
Mit Rosi verstehe ich mich super. Einmal waren wir sogar was trinken, allerdings nur, weil wir uns zufällig in der Stadt getroffen haben. Es war jedoch unglaublich witzig und hinterher sind wir beide angetrunken nach Hause gegangen. Um 15 Uhr.
Ich positioniere mich so an der Information, dass sie mich auf jeden Fall sehen muss, und warte darauf, dass sie ihr Telefonat beendet. Da ich jedoch bereits diverse Minuten warten darf, räuspere ich mich ein, zwei Mal und tatsächlich, jetzt bemerkt sie mich. Sie lächelt, deutet mir mit der Hand an, dass sie noch zwei Minütchen braucht und als mich nach diesen zwei Minütchen eine strahlende Rosi herzlich begrüßt, fällt all meine Anspannung von mir ab.

“Alex, schön dich zu sehen. Du hast dich ja lange nicht mehr blicken lassen.”
“Ja, war in letzter Zeit etwas im Stress. Sag, kannst du das hier für mich deinem Chef geben?”
“Was ist denn das?”

Sie rückt ihre winzige Brille zurecht und schaut auf meine Mappe. Erwartungsvoll blicke ich in ihr Gesicht, versuche durch ihre Augen in ihr Hirn zu gucken. Klappt nicht, welch Wunder.

“Du möchtest also Mitglied der Akzenta-Familie werden. Hast du ein Glück.”
“Wieso?”
“Grade heute ist jemand entlassen worden. Und Herr Lennemann ist heute persönlich zu Besuch. Der ist wie du.”
“Verzweifelt und arbeitslos?”
“Er steht auf Männer, Dummerchen. Warte kurz hier, ich hole ihn.”

Ich wippe nervös vor und zurück. Ich darf es nicht ausnutzen, dass dieser Herr Lennemann schwul ist. Obwohl, wenn ich es recht bedenke, ich bin ja prinzipiell gesehen für Sex mit Vorgesetzten, um einen Vorteil zu erlangen.
Während Rosi mich warten lässt blättere ich durch die Prospekte, die an der Info liegen. Werbung, Produktanpreisung, alles, was ich zuhause immer sofort entsorge. Und nun sollte ich genau dies alles verkaufen. Zumindest kassieren.
Rosi kommt zurück, im Schlepptau ein unglaublich gutaussehender, zu meinem Erstaunen junger, Mann. Geschätzte fünfundzwanzig Jahre. Haut leicht gebräunt. Dunkle Augen. Er trägt den falschen Nachnamen für sein Aussehen.

“Ahh, Sie sind Herr Me...” will er grade ansetzen, er kommt jedoch nicht weiter, da er über seine eigenen Füße fällt und mich zu Boden reißt.
Ich habe ja nichts gegen körperliche Nähe von unbekannten Menschen, solange sie gut aussehen, aber so langsam habe ich die Nase voll dabei ständig umgeschubst zu werden. Drei Mal in zwei Monaten ist ein Schnitt, der ein Leben lang reicht. Erst der Typ in der Disco, der so widerlich nach Bier gestunken hat, dann Benni, jetzt Herr Lennemann.

“Guten Tag, Herr Lennemann, ja, ich bin Alexander Mertens. Und ich würde gerne in diesem Akzentamarkt einen Job als Kassierer bekommen.”
“K-kein Thema, ich habe ihre Bew-Bewerbung gesehen. Kommen Sie b-b-bitte mit in mein Büro.”

Er steht von mir auf, die hereinkommenden Kunden denken sich bestimmt ihren Teil, und er geht voraus in Richtung seines Büros.

“Stottert der immer so?”, flüstere ich Rosi zu.
“Eigentlich nicht.”, antwortet sie mit einem Lächeln.

Herr Lennemann führt mich einmal quer durch den Markt, kein Wunder, dass Rosi mich so lange alleine gelassen hat. Hinter meinem Lieblingsgemüsestand (“Komm schon, du hübscher Kerl, kauf mich!”), zwischen Getränke- und MoPro-Abteilung, führt er mich durch eine große Doppeltür in den Backstagebereich.
Ich komme mir direkt vor wie ein Angestellter. Überall, wo wir langgehen, werde ich von den Leuten gegrüßt, die ich durch meine häufigen Einkäufe schon kenne. Meist zwinkern sie mir zu, oder heben die Hand.

“Hey Alex, haben sie dich jetzt auch bekommen?”, feixt Serdat, ein türkischer Mitarbeiter von der Fleischtheke.
“Ich kämpfe noch drum, Serd.”
“Herr Mertens, b-b-bitte hier entlang.”

Durch noch eine Tür, einen weiteren Gang, eine weitere Tür, Treppe, Gang, Tor, Tür, Gang und finaler Tür kommen wir in Herr Lennemanns Büro an. Er bitte mich vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, was ich mit einem Lächeln sofort tue.

“S-Sie mö-mö-möchten für uns arbeiten, ich h-habe hier schon mal einen V-V-Vertrag, für eine Teilz-Teilzeitstelle als Kassierer. P-P-P-P-P...”

Er fasst sich an die Stirn.

“Entschuldigen Sie bitte, ich bin etwas nervös.”
“SIE sind nervös? Sollte ich das nicht sein?”
“Nein, nein. In der Tat habe ich keinen Grund so angespannt zu sein, aber das ist mein erstes Be-Be-Bewerbungsgespräch seit langem. Bislang hat das immer m-m-mein Stellvertreter gemacht.”
“Is' klar.”

Er steht kurz auf, trinkt einen Schluck Wasser, stellt sich ans Fenster und atmet tief ein und aus. Dann setzt er sich wieder.

“Nochmal von vorne, entschuldigen Sie bitte. Also, hier ist der Vertrag, Sie müssen quasi nur noch Ihre Personalien eintragen und unterschreiben. Sie arbeiten hier auf Stundenbasis, bei Berufsbeginn gibt es 8,60 € die Stunde, mit Tendenz nach oben. Weihnachtsgeld gibt es, welches zwei Drittel vom Bruttolohn beträgt.”

Ich staune nicht schlecht. Da fang ich grad erst an zu arbeiten, und schon wird mir alles auf einem Silbertablett präsentiert. Ich überlege für den Bruchteil einer Sekunde, ob es sich lohnen würde, trete dann meinem Gewissen mit einem lauten Lachen in den Arsch und setze meinen Stempel unter den Vertrag.

“Sehr gut, ich denke Sie und ich werden gut miteinander klar kommen. Haben Sie heute noch was vor?”
“Nein, eigentlich nicht. Wieso?”

Für einen Augenblick denke ich, er will mich angraben.

“Weil Sie dann jetzt theoretisch schon in die Kassiertätigkeit eingeführt werden könnten, wenn Sie denn möchten.”
“Sehr gern.”
“Gut, dann gehen Sie jetzt in den Aufenthaltsraum, den wir vorhin passiert haben, nehmen dieses Schreiben mit”, er füllt schnell ein Standardformular aus, “und melden sich bei Fred, er ist verantwortlich für die Neuen und für den Arbeitsdress.”
“Gut, danke.”

Ich verlasse sein Büro und will grade die Türe schließen, als er hinter mir her ruft.

“Ach, Herr Mertens?”
“Ja?”
“Ich … es ist mir etwas unangenehm.”
“Bitte, muss es nicht.”

Kurze Pause.

“Ich habe Ihr Internetprofil gesehen, dort wo Sie … nunja, das mit den Fotos, und den Songtexten, auf dieser … homosexuellen Website...”

Ich habe eine dunkle Ahnung was jetzt kommt.

“Jaaaaa, und?”
“Ich … nunja, ich habe es mit großen Interesse betrachtet und mich gefragt, ob Sie und … ich ...”
“Jaaaaa?”
“Ob wir … mal … zusammen Mittag essen, oder etwas trinken gehen.”
“Ich fühle mich sehr geschmeichelt, Herr Lennemann, aber ich...”
“Sie haben bereits jemanden. Natürlich, wie könnte jemand wie Sie nur Single sein.”

Genau.

“Ja, genau so ist es. Sorry.”
“Macht nichts, die nettesten Männer sind immer die, die bereits vergeben sind. Viel Glück bei ihrem neuen Job, Herr Mertens.”
“Danke.”

Eigentlich wollte ich ja sagen, dass ich mich hier nicht beworben habe, um Dates auszumachen und Jungs kennen zu lernen. Dafür gibt es das Internet, dafür gibt es das “Get Up” und das “Espresso&More”. Aber da er mir die perfekte Vorlage gegeben hat, habe ich mich für seine Variante entschieden. Zumindest für den Anfang.
Den Weg zurück in den Angestelltenaufenthaltsraum finde ich mit Hilfe des Hausmeisters. Unglaublich freundlich zeigt er mir den Weg und zieht am Ende sogar seinen Hut.

“Alex, mein Freeeeeeund!”

Serdat kommt auch mich zu gelaufen.

“Du weinst nicht, du schmollst nicht und du bist nicht sauer, demnach schließe ich, dass du den Job hast.”
“So kann man es auch sagen, ja, weißt du wer Fred ist, Serd?”
“Das ist der junge Mann mit den Engelslöckchen, hast du heute noch deine Einführung?”
“Ja, jetzt sofort sozusagen.”
“Ach, schade, ich muss jetzt leider los, Kickboxtraining. Wünsch dir viel Spaß.”
“Danke, Serd.”

Fred sitzt an einem großen Tisch und tippt auf seinem Laptop. Ich weiß nicht, ob er mich bemerkt hat, aber ich räuspere mich so laut und gleichzeitig so dezent wie möglich.

“Ich habe dich schon bemerkt. Ich muss nur noch schnell diese Mission beenden. Schau schon mal in den Schrank hinter mir, da findest du einen Kittel.”

Im Schrank befinden sich mehrere Kittel, ich lese unauffällig die Namensschilder, während meiner Suche nach einem unbenutzten. Er sitzt wie angegossen und sofort fühle ich mich pudelwohl in ihm. Ich will grad den Schrank wieder schließen, als mein Blick auf ein weiteres Namensschild fällt. Ein Name, der mir sofort in den Ohren klingelt und meine Alarmglocken läuten lässt.

“T. Lenk”

Ich kenne nur einen T. Lenk, diesen einen T. Lenk, der mein Herz berührt, es gestreichelt, dann zusammengequetscht, herausgerissen, durch den Fleischwolf gedreht und zu Würstchen verarbeitet hat. Jetzt weiß ich wenigstens wo es hingekommen ist, direkt an die Fleischtheke vom Akzenta.

“Hey, der Kittel steht dir gut.”
“Danke, steht das T. hier für Tristan?”
“Du kennst Tristan?”
“Ja, flüchtig. Arbeitet der noch hier?”
“Nein, der ist umgezogen. Irgendwo in den Osten.”

“Irgendwo in den Osten” ist gut. Er ist nach Berlin gegangen, gerade zu dem Zeitpunkt, wo ich ihm sagen wollte, dass ich ihn über alles liebe und mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen könne. Zu dem Zeitpunkt, wo ich einen wunderschönen Ring habe anfertigen lassen, in welchem “T & A” eingraviert war. Er ist einfach abgehauen, ohne ein Wort zu sagen, ohne mir Bescheid zu geben, dass er fährt. Ich habe es über Dritte erfahren. Drei Wochen lang habe ich getrauert, dann bin ich mit Annika nach Berlin gefahren, wir haben ihn ausfindig gemacht und ich habe in der Disco vor seinen Augen mit wem rumgemacht. Das hat den Guten echt fertig gemacht, er kam angekrochen und hat sich entschuldigt, dass er nicht einfach so hätte fahren dürfen, dass ich gerne bei ihm bleiben dürfe. “Wir sind hier fertig, Maus.”, habe ich nur gesagt und Annika und ich sind wieder gefahren. Auf der ganzen Autofahrt von Berlin nach Wuppertal habe ich nur geweint, sie zeitweise auch, und ich habe drei Flaschen Jägermeister mit Cola vernichtet. In dem Augenblick, in welchem wir die Stadtgrenze passiert hatten, war ich über ihn hinweg und seitdem habe ich dieses Teufelsgebräu nie wieder getrunken.
Dadurch, dass ich seinen Namen gelesen habe, werden meine Knie für einen kleinen Augenblick weich, ich schaffe es jedoch mich wieder zu fassen, bevor Fred etwas bemerken kann.

“Dann mal auf, Freund von Tristan, ab an die Kasse.”

In Gedanken lasse ich Fred auf eine Millionen Arten sterben.

Die Arbeit an der Kasse macht Spaß. Fred zeigt mir den Scanner, erklärt mir, wie ich die Tasten richtig benutze und als letztes das EC-Gerät. Ich kassiere mehrere Kunden, bevor er mich dann komplett allein an der Kasse lässt. “Mach mal 'ne Weile, wenn du Hilfe brauchst – ich bin die 36.” Es läuft erstaunlich gut, ich mache keine Fehler und die Kunden lächeln über mein “Ich bin neu – bitte helfen Sie mir!”-Schild. Ich bin grad drin in meinem neuen Element, als mich ein vertrautes Gesicht an der Kasse aufschauen lässt. Es ist Mike.

“Oh, hi Mike.”
“Hi.”
“Weißt du noch, ich hab vor der Kasse geweint.”
“Ja.”
“Und? Arbeitest du auch noch hier? Wär ja lustig, wenn wir jetzt Kollegen wären.”
“Nein.”
“Was nein?”
“Nein, ich arbeite nicht hier und nein, es wäre nicht lustig. Jetzt kassier mich schon.”

Ich weiß zwar nicht was er hat, aber er verschwindet ziemlich angefressen und macht meine Kasse um stolze 4,33 € reicher. Strike.
Ich kassiere nun schon gefühlte drei Tage, und so langsam werde ich müde. Ich werde heute Abend ganz bestimmt ein “piep piep” im Ohr haben, vom Scanner. Ich weiß nicht, wie lange ich das hier machen werde, aber für's erste muss ich wohl oder übel damit leben müssen.
Als sich nach einer Weile niemand mehr an meine Kasse stellt blick ich ganz flink auf mein Handy. Einen Anruf verpasst, zwei Nachrichten. Ich will grad die Nachrichten lesen, da stellt sich auch schon ein ganz sympathischer Geselle an meine Kasse.
Es ist ein Mann, ein Obdachloser, dem Aussehen nach zu urteilen. Er trägt einen Hut und einen langen Bart. Er legt sechs Flaschen Bier und eine Flasche Klaren auf's Förderband und mit dem Fußschalter lasse ich die Flaschen zu mir rollen. Flasche für Flasche wandert über den Scanner, ich habe noch nicht so ganz geblickt wie es geht, dass ich vom selben Produkt mehrere Teile auf einmal scanne. Aber das ist ja logisch, ist ja noch nicht mal mein erster offizieller Tag.

“Das ma...”
“Das macht dann 6,50 €, bitte.”

Ich schaue den Obdachlosen ganz verdutzt an.

“Ja, genau, das...”
“Das macht dann 6,50 €, bitte.”

Will der mich verarschen? Ich schaue auf den Kassenbildschirm. Er hat Recht.

“Das macht dann 6,50 €, bitte.”
“6,50 €. Es sind immer 6,50 €.”

Er legt mir den Betrag in kleinen Münzen auf die Kasse und ich benötige erst einmal ein paar Augenblicke, um das ganze Geld zu zählen. Es stimmt auf den Cent genau.

“Danke, schönen Ta...”

Doch er ist schon verschwunden. Was ein komischer Kauz. Ich bete, inständig, dass es nicht noch mehr von der Sorte gibt, dann fällt mir ein, dass ich nie wieder beten wollte und gebe mir einen imaginären Hieb mit der Peitsche.
Mein erster halber Tag endet mit einem weiteren, stotterlastigen Lobvortrag von Herrn Lennemann, feierlich überreicht er mir meine Stempelkarte. Ich bedanke mich artig, stecke die Karte in mein Portmonee und verlasse strahlend meinen Akzentamarkt.
 



 
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