Mögen Sie einen Tee?

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Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
„Mögen Sie einen Tee?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, griff er nach der bereit stehenden Tasse und schenkte ein.
„Ich habe nicht viel Zeit, wir stecken gerade mitten im neuen Versuchsaufbau.“ Sie warf einen zögernden Blick auf die Wanduhr. „Also gut.“ Mit einem Seufzer ließ sie sich auf den Laborstuhl fallen, verschränkte die Hände im Nacken und schloss die Augen. Doktor Fröhlich betrachtete sie mit versonnenem Lächeln. Ihr flachsblonder Zopf lag wie ein Tau auf dem weißen Kittel und verdeckte das Schild an ihrer Brust, das sie als Dr. Beate Unselm auswies. Noch nie hatte er sie mit offenem Haar gesehen. Seine Augen wurden feucht und er räusperte sich entschlossen. „Milch, Zucker, Zitrone?“
Zucker bitte.“ Ihre meergrünen Augen blinzelten. „Zwei Stücke.“
Sie richtete sich auf. „Danke, umrühren kann ich selbst.“
Seine Hand zitterte ein wenig, als er ihr die Tasse reichte, doch sie schien es nicht zu bemerken. Ohne seine wissenschaftliche Reputation würde sie ihn überhaupt nicht bemerken.
Sie blies über den Tee. „Weshalb wollten Sie mich sprechen?“
Doktor Fröhlich antwortete nicht gleich. Ächzend stemmte er seine einhundertfünfzig Kilo aus dem Sessel, humpelte zum Fenster und sah in die herein brechende Dämmerung hinaus.
„Sie kennen meine Arbeiten?“ Es war mehr eine Feststellung, schließlich war das vom ihm vor dreißig Jahren entwickelte Multiple-Welten-Theorem eine der Grundlagen ihrer Versuche, in die parallelen Realitäten vorzudringen.
„Natürlich.“
„Ich habe mich geirrt.“ Die Lampen auf dem Institutsparkplatz flammten auf und tauchten die wenigen Fahrzeuge zwischen den verbliebenen Schneeresten in natriumgelbes Licht. Er wandte sich um.
Am liebsten würde er die ungläubigen Grübchen aus ihrem Gesicht küssen.
„Aber die Berechnungen...“
Er machte eine wegwerfende Handbewegung und lehnte sich gegen die Fensterbank. „Masturbative Formeln, die sich lediglich selbst bestätigen. Haben Sie noch?“
Sie nickte, in ihrem Gesicht kämpfte der Unglauben mit dem Respekt vor dem Mitbegründer ihres Forschungszweiges.
„Kommen Sie, ich möchte Ihnen etwas zeigen.“ Er winkte sie zu sich. „Ach bitte, bringen Sie mir meinen Tee mit?“
Die Anmut, mit der sie nachschenkte, ließ den Wunsch, sie in seine Arme zu schließen, beinahe übermächtig werden. In jeder Hand eine Tasse balancierend, kam sie herüber. Doktor Fröhlich lächelte dankbar und nahm seine entgegen.
„Aber es ist doch ein vollkommen schlüssiges Theoriegebäude. Das Zeitflussdelta, seine Unumkehrbarkeit... Der Temporalstaugenerator steht kurz vor dem Durchbruch...“
Der Eifer ließ ihre Augen blitzen. Ihre Nähe erzeugte einen beinahe körperlichen Schmerz und er wandte sich ab.
„Nein,“ sagte er und blies über die dampfende Oberfläche, „es wird keinen Durchbruch geben.“
„Nur noch eine Frage der erforderlichen Energie!“
Er reagierte nicht auf ihren Einwurf und fuhr ungerührt fort. „Manchmal helfen ein Blick aus dem Fenster und eine gute Tasse Tee, die Wahrheit zu erkennen.“ Er nahm einen vorsichtigen Schluck und beugte sich zur Scheibe vor. „Selbst bei Narren kurz vor der Emeritierung.“
Das Glas beschlug unter seinem Atem, dann schmolz der Fleck in der aufsteigenden Warmluft des Heizkörpers, bis er wieder völlig verschwunden war. „Das ist unsere Realität.“
Eine steile Falte hatte sich auf Doktor Unselms Stirn gebildet, er fand, sie stand ihr nicht.
„Ich begreife nicht...“
Er hob seine Tasse und deutete auf die zarte Dampffahne, die sich heraus kräuselte und im Nichts verschwand. „Möglichkeiten. Flüchtig und kaum wahrnehmbar.“
Er klopfte an das Fenster. „Unser Bewusstsein.“
Schlürfend trank er ein wenig und blies seinen Atem erneut an das Fenster. „Hier kondensieren sie zur Wirklichkeit.“
Schweigend beobachtete er seine verblassende Atemspur. „Eine Weile erinnern wir uns daran,“ setzte er schließlich leise hinzu. Er beobachtete von der Seite, wie Mitleid und Empörung in ihrem Gesicht miteinander rangen.
„Wollen Sie behaupten, die jahrzehntelange Arbeit der besten Köpfe auf unserem Planeten sei nichts als ein Irrtum? Nur weil Sie in Ihren Teedunst gesehen haben? Doktor Fröhlich, zwei Etagen unter uns bauen wir gerade die Anlage, die diesen ‚Irrtum’ beweisen wird!“ Die Empörung hatte gesiegt. Wie eine germanische Göttin stand sie vor ihm, so schön in ihrem Zorn und so unerreichbar.
„Sie erwarten doch nicht ernsthaft von mir, dass ich Ihnen da folge.“ Sie rammte die Hände in die Kitteltaschen und stapfte Richtung Tür.
„Sie wollen Beweise? Warten Sie!“
Sie blieb an der Tür stehen, noch immer die Fäuste in den Taschen vergraben und schüttelte den Kopf, wie in stiller Verzweiflung über so viel sturen Unverstand. Langsam drehte sie sich um. Das Mitleid mit dem verwirrten Alten hat gesiegt, dachte er voller Selbstironie.
„Was wollen Sie beweisen? Doktor Fröhlich, bitte ersparen Sie uns beiden die Peinlichkeit. Wollen wir dieses Gespräch nicht ganz einfach vergessen?“
Sie meinte es gut mit ihm, mehr konnte er nicht erwarten. Er nahm einen Schluck und schloss die Augen. „Schade,“ murmelte er, als die Bürotür hinter ihr ins Schloss fiel. Müde hauchte er das Fenster an. „Sie war eine exzellente Wissenschaftlerin. Hätte sie mich nicht lieben können?“
Dann wischte er sie mit seinem Ärmel fort.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Wäre ich Spock, würde ich jetzt fragend eine Braue heben.

Es liest sich hervorragend, ist (um mal wieder mein Lieblingsbild zu benutzen: ) sehr "süffig mit extravagantem Unterton" – ich versteh nur das Ende nicht. Ich meine: ich kann mir alles Mögliche zusammendenken, was auf dieses Ende passt – von "Fröhlich ist Gott" bis einfach nur Psychologie ("Wenn ich sie nicht kriegen kann, ihre Nähe mich aber schmerzt, schmeiß ich sie eben raus"). Aber nichts davon braucht diese Parallelwelt-Sache, jedenfalls nicht wirklich…
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Doch doch, das braucht es.

In der linken Ecke:
Die Zeit als quantisierter Vorgang, d. h. sie 'tickt' in diskreten Einheiten, nämlich der sogenannten Planckzeit oder Elementarzeit (6,2*10hoch-43 Sekunden). In jeder Einheit spaltet sich die Realität in Möglichkeiten, eine davon ist die 'aktuelle Realität'.

In der rechten Ecke:
Das Bewußtsein bestimmt das Sein. Denk mal an Philip K. Dick.

RING FREI!

Das Ende:
Sieg durch ko, die Zeit kippt von den Quanten.

Aber nichts davon braucht diese Parallelwelt-Sache, jedenfalls [red]nicht wirklich[/red]…
Aaargh! http://www.leselupe.de/lw/showthread.php?threadid=67787
Hatte schon den Tafelschwamm in der Hand, aber soviel Weinseeligkeit konnte ich dann doch nicht einfach fortwischen.

Fand sich irreal, da verschwand er mit einem Mal
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Sorry, aber das bringt mich nicht weiter, beides wusste ich vorher schon (, und das mit der "Wirklichkeit im Bewusstsein" steht ja auch bretterbreit im Text). Ich komm aber ums Verrecken nicht drauf, was der Prof vorhat.
Wenn jemand (außer dem Autor) versteht, was in der Story passiert, weiht mich bitte ein.

Auch dein „Argh!" versteh ich nicht – weder den verlinkten Text noch was dich so daran aufregt (*), dass all meine Ideen (dazu, was der Prof zu tun gedenkt,) zwar auf die "Parallel-Welt-Idee" aufgeschmiedet werden können, aber eben (meist) durchaus auch ohne sie auskommen (, auf einen anderen Hintergrund geschmiedet werden können) – also nicht wirklich DIESEN Hintergrund brauchen, sondern auch mit einem mehr oder weniger ähnlichen funktionieren…

(*) …außer vielleicht, dass "nicht wirklich" inflationär benutzt wird.
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Auch dein „Argh!" versteh ich nicht – weder den verlinkten Text noch was dich so daran aufregt (*)
Weil ich mittlerweile jedes Mal Ausschlag kriege vom Sternchen.
Genau wie von der Gefühlsduselei, die sich seit Kachelmanns Anfängen epidemisch ausgebreitet hat. Inzwischen sind selbst harte Zahlen aus dem Wirtschaftsleben infiziert, wie ich erst vor wenigen Tagen in der WAZ nachlesen konnte.
Aber das ist ein Thema für sich...

..., dass all meine Ideen (dazu, was der Prof zu tun gedenkt,) zwar auf die "Parallel-Welt-Idee" aufgeschmiedet werden können, aber eben (meist) durchaus auch ohne sie auskommen (, auf einen anderen Hintergrund geschmiedet werden können)
Natürlich hätte ich auch einen anderen Theoriekontrahenten wählen können. Hab' ich aber nicht.
Natürlich kann man jede Geschichte auf unzählige Weisen erzählen. Ich habe diese genommen.
Hast mit Ideen gespielt, Jon?
Wie schön!
Ich verrate Dir was: Woanders habe ich das Stückchen unter die Wirklichkeit gekehrt.

Wenn jemand (außer dem Autor) versteht, was in der Story passiert, weiht mich bitte ein.
Pssst. ;-)

In Dampf geraten, verzog er sich zu neuen Taten
 

dan

Mitglied
@jon: ich kann dich beruhigen jon, ich verstehe die geschichte auch nicht(*). (**)


gruß dan


(*) geschweige denn die völlig zusammenhanglosen kommentare dazu.
(**) @Rumpelsstilzchen: und? juckt es schon wieder?
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Hallo Rumpelsstilzchen,

das ist, sprachlich gesehen, vielleicht dein bisher bester LL-Text.
Die Interpretation ist sicher auf mehrfache Weise möglich. Wer allerderdings einmal im wissenschaftlichen Bereich ein wenig herumgeschnuppert hat, sich anbei auch mit den Grenzen unserer Erkenntnismöglichkeiten befaßte, müßte einen eindeutigen Zugang zum Text finden.

Ein Sätzchen von unserem Herrn K. dazu: "Der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor." (aus: "Kritik der reinen Vernunft").

P.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Entschuldigung, aber…

„Wer allerderdings einmal im wissenschaftlichen Bereich ein wenig herumgeschnuppert hat, sich anbei auch mit den Grenzen unserer Erkenntnismöglichkeiten befaßte, müßte einen eindeutigen Zugang zum Text finden."
…und wer Super-Telepath ist, kann sich diese Infos vielleicht auch aus des Autors Hirn holen. Bitte Freunde, die hier ist kein Philosophie-Forum sondern das SF-Forum mit Lesern, die in der Regel nicht Philosophie studiert haben, also auch die in Fachkreisen sicher absolut üblichen Hintergrund-Gedanken nicht als sich automatisch aktivierende Interpretationshilfen zur Verfügung haben.

Aber wenn du den Zugang hast, Penelopeia, dann verrat du mir doch bitte, was der Professor vorhat. (Langsam werd ich nämlich echt kribbelig.)
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Guck mal an, der olle K.! Das war dem schon klar, als unsere moderne Science noch nicht einmal Fiktion war.

Jon, ich bin enttäuscht.
Seit wann darf SF keine Ansprüche stellen? Nur Jedi-Ritter und StarTrek ist doch fad.
Ich jedenfalls will beansprucht werden und die stärksten Herausforderer sind mir oft die liebsten.
Ganz ohne Training im offiziellen Philosophencamp.

Hat seine Denkmuskel angespannt und ist einem Einfall nachgerannt
 

petrasmiles

Mitglied
Also, wie ich das sehe ...

... ist das eine ganz einfache Geschichte, in der es eben nur um Wesentliches geht.
Ich sehe hier keine demnächst rauszufliegende Wissenschaftlerin, sondern eine junge/jüngere Frau, die ihre Neugier und geistige Flexibilität dem Wissenschaftsapparat, ihrem Ehrgeiz etc. geopfert hat. Forschen heisst doch, geistig zulassen zu können, dass auch das Gegenteil von dem, was ich gerade 'bewiesen' habe, möglich ist, oder? Sonst wird man doch Verwalter von Regeln. Und der gute alte 150 kg schwere Professor ist auch nur ein Mann, der auf der verdunsteten Feuchtigkeit auf Glas Gesetze der Welt erkennen kann, aber doch scheitert vor dem Weib, das ewig lockt, oder ;)
Rumpelsstilzchen ist ein Romantiker :)
So, jetzt muss ich weiter lesen gehen.
Ciao
P.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
„Seit wann darf SF keine Ansprüche stellen?"
Wer verlangt denn SOWAS?! Eine der Ansprüche ist eben, dass man kein Fachmann sein muss, um eine Geschichte zu verstehen. (Dass man als Fachmann zusätzlich Spaß haben kann, weil man Anspielungen versteht, die ein Nicht-Fachmann gar nicht bemerkt, ist etwas anderes.)

Also: Das WESENtliche an einer Geschichte ist der Plot (was PASSIERT wann wo warum und durch wen/mit wem?) – im Gegensatz zum Aufsatz/Essay, dessen Wesen das Beleuchten und Einordnen von Fakten und Ideen ist (was IST wie und warum ist es so?).
Dass eine gute Geschichte auch einen über die pure Handlung (den Plot) hinausgehenden, sozusagen welt- und menschenbeobachtenden Aspekt hat, ist unbestritten, aber wenn sie nur daraus besteht, fehlt ihr das Wesentliche.

Wie die beiden "Helden" der Geschichte sind, gehört zum Setting (konkret: Zur „Definition der Charaktere" ), nicht zum Plot. (Auch wenn die Figuren sehr schön lebendig geschrieben sind – aber darum geht es bei meinem Problem mit den Text nicht.)

Das Setting ist: Forschungseinrichtung arbeitet an einem Experiment, das auf der Theorie von Doktor Fröhlich (Sorry, dass ich immer Prof sagte, seine "Stellung" klang so) basiert. Dr. Föhlich = (hier kommt die Charakterisierung, inkl. der "Ausgangs-"Beziehung zu den andern Figuren der Geschichte). Am Experiment arbeitet auch Dr. Beate Unselm und die ist so: (Charakterisierung).

Der Plot ist: Fröhlich ruft Unselm ins Büro, sagt ihr, dass er sich irrte und das Experiment abgebrochen werden muss (wieso eigentlich? Ist es nur Verschwendung oder ist es gefährlich?). Sie glaubt ihm nicht und will weiter am Experiment arbeiten. Er wird sie deshalb (?) "auslöschen". – Und genau hier bricht der Plot: Was PASSIERT bei diesem geplanten (?) "Auslöschen"?

Die Art, wie er es ihr sagt, das "Melancholisch-Philosophische", und die Art, wie sie es nicht glaubt, sind der über den Plot hinausgehende Faktor. Sicher: Dieser Aspekt ist das Salz in der Suppe. Ohne das ist Text (allermeistens) langweilig. Aber – und Hollywood bestätigt es immer wieder aufs Trefflichste – ohne tragfähigen, "kompletten" Plot ist alles nur – nein nicht kalter: – halbgebrühter Kaffee. Ein tragfähiger Plot dagegen ist (, wenn nicht gerade saumäßig schlecht erzählt), immer servierbar – man wird den Kaffee nur nicht als besonders lecker in Erinnerung behalten. (Obwohl mit genügend Zucker auch das oft genug passiert.)

Oder: Unter die Oberfläche schaut man nur, wenn man sich nicht mit Fragen bezüglich der Oberfläche aufhalten muss.
 

endlich

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Möglichkeiten ...

@jon
Es dreht sich um Möglichkeiten ... Was ist an dem Aufhänger mit der Parallelwelt-Theorie auszusetzen?

@rumpelsstilzchen
Faszinierend. Geschichten, die Raum für eigene Gedanken lassen. Offensichtlich kann man darüber geteilter Meinung sein, aber eins ist sicher: Man hat länger was davon ... :)

Begeistert
endlich
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Es dreht sich um Möglichkeiten ... Was ist an dem Aufhänger mit der Parallelwelt-Theorie auszusetzen?
Nichts. Er sagt nur nichts darüber, was der Chef tun wird/will. Ja wenn irgendwo ersichtlich wäre, dass er zwischen den Welten springen kann oder die "Manifestation der Möglichkeiten" beeinflussen kann – ja dann wäre ich doch schon ein ganes Stück weiter…
 

endlich

Mitglied
Ich habs so verstanden, dass er genau das eben nicht kann. Es wäre eine Möglichkeit gewesen, dass sie ihn liebt, aber keine, die real geworden ist.
Oder vielleicht war es auch gar keine Möglichkeit - keine, die Realität werden konnte - keine Ahnung.
Angenommen, er zweifelt die unendlichen Möglichkeiten an, wäre dies eine Bestätigung seines Weltbilds. Was nicht heißt, dass er unbedingt recht haben muss.
Ich glaube nicht, dass es hier um recht haben geht.
Nur um einen Menschen und sein persönliches Dilemma.

Ist nur meine Interpretation, Rumpelsstilzchen möge ggf. protestieren! :)

LG endlich
 

jon

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Teammitglied
Also wenn er es nicht kann und der Satz

„Sie war eine exzellente Wissenschaftlerin. Hätte sie mich nicht lieben können?“

auf nichts anderes hinausläuft als dass er sie rausschmeißt, dann dann ist der "Aufhänger" für'n A… Hintern.

Je mehr Dinge in einer Geschichte nicht einfach gestrichen oder geändert werden können, ohne dass die "Pointe", das "Entwicklungsergebnis" sich ändert, desto besser ist sie (gebaut).
Wenn nun "Rausschmiss" (statt „Wechsel zu einer anderen manifestierten Möglichkeit") ist, was der Dr. tun wird, dann kann man nahezu beliebig im Rest der Story rumfuhrwerken, ohne dass sich an diesem "Entwicklungsergebnis" was ändert. (Bei "Mord" würde sich das eventuell schon einschränken – man müsste dann nur andeuten, wie der Mord mit dem "Aufhänger" zusamenhängt.) Ergo wäre die Story hochgradig schlecht (gebaut). Das wäre aber nun wirklich nicht das, was ich bei Rumeplsstilzchen für wahrscheinlich halten würde.
 

endlich

Mitglied
Wieso rausschmeißen? Sie ist doch von selber gegangen, oder nicht? Und er hat es nicht verhindern können.

Tut mir leid, aber ich versteh die Argumentation nicht. Ich bewerte doch eine Geschichte nicht danach, dass man möglichst wenig ändern kann, ohne, dass es sich auf das Endergebnis auswirkt???

Wenn es jetzt ein Krimi wäre oder eine Detektivgeschichte, aber hier? Kurzgeschichten sind doch oft einfach ein Streiflicht auf ein paar Minuten in einem Leben. Vielleicht auch in einem Moment, wo jemanden plötzlich etwas bewusst wird, was sein eigenes Leben rückwirkend in ein ganz anderes Licht stellt.

Davon abgesehen, was könnte man denn ändern, ohne die Aussage zu verfälschen? Man könnte die Gesprächspartnerin austauschen, vielleicht. Aber es muss jemand sein, der den Kontext seiner Vergangenheit versteht. Also kann man sie vielleicht doch nicht austauschen? Oder den Tee gegen einen Kaffee? Oder eine andere Theorie? Aber keine würde sooo gut passen.

Ich sag ja gar nicht, dass es so sein muss, wie ich es jetzt interpretiert habe, aber zu behaupten, wenn es so wäre, sei das hochgradig schlecht, finde ich dann doch etwas gewagt.

Als würde jemand zu Picasso sagen: "Das Bild ist hochgradig schlecht, da erkennt man ja gar nicht, was das sein soll, und ob der Stich da rot oder blau ist, hat für die Aussage keine Relevanz." Aber andere erkennen vielleicht was, und für sie hat die Farbe des Striches plötzlich Relevanz. Und Picasso sitzt vermutlich in der Ecke und freut sich über die Ideen der Leute - am besten so viele Ideen wie Betrachter.
Ein Bildhauer hingegen, der so detailgetreu wie möglich einen Apfel aus Stein gemeißelt hat, wäre vermutlich beleidigt, wenn jemand ihn für eine Birne hält.
Aber ist der Apfel jetzt mehr Kunst oder besser als das Bild von Picasso, nur weil man ihn auf den ersten Blick erkennen und eindeutig benennen kann?

@Rumpelsstilzchen: Jetzt lass uns doch mal nicht so alleine hier! Sonst diskutieren wir uns zu Tode! ;-)

LG endlich
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Und Picasso sitzt vermutlich in der Ecke und freut sich über die Ideen der Leute
Genau. ;-)

Aber im Ernst:
am besten so viele Ideen wie Betrachter.
Das nun auch wieder nicht, dann wäre es ja beliebig.

Dem Stein, der Jon so schwer im Magen liegt, habe ich drei Hauptfacetten geschliffen.
Und ein Jeder unter Euch guckt von einer anderen Seite rein.
Die wissenschaftlich-philosophische, ich hab' sie selbst erläutert und Penelopeia hat noch eins drauf gesetzt.
Die zwischenmenschliche (Ja, ich bin ein Romantiker!).
Die sureale: WENN Dr. Fröhlich sie aus seiner Realität fortwischen kann, widerspricht das unserer Wirklichkeitserfahrung. Oder doch nicht? Wer würde es wissen? Traumhaft.

An den Kanten bricht die Lesersicht; das Ende ist unbestimmt.
Kann er sie verschwinden lassen?
Vielleicht sogar, als habe es Dr. Beate Unselm nie gegeben?
Oder träumt er?
Wünscht er?
...

Siehst Du Jon, genau diese Unbestimmtheit macht den Plot aus.
Weil ich sie wollte.
Ich will immer noch, auch wenn es nicht im Schreibratgeber steht.

Unter die Oberfläche schaut man nur, wenn man sich nicht mit Fragen bezüglich der Oberfläche aufhalten muss.
Diese Oberfläche ist ein Möbiusband.

Was tue ich hier eigentlich?
Die Geschichte kann doch selber sprechen.

Hat seine Stimme abgegeben, jetzt hat er nix mehr zu sagen
 

endlich

Mitglied
Vielen Dank, Rumpelsstilzchen, hast mich von der akuten Diskussionsneurose geheilt! ;-)
Werde ab sofort wieder deiner Geschichte das Wort überlassen.

Gute Nacht!
endlich
 

jon

Mitglied
Teammitglied
@ endlich
Wieso rausschmeißen? Sie ist doch von selber gegangen, oder nicht?
… aus dem Zimmer, ja, aber sie geht zurück ans Experiment – und von dort (und aus dem Institut) kann er sie vielleicht (? Lücke im Plot) entfernen.

Generell:
Ich bewerte doch eine Geschichte nicht danach, dass man möglichst wenig ändern kann, ohne, dass es sich auf das Endergebnis auswirkt???
… ich schon. Der Hintergrund dafür ist: Kunst – so sie den Namen verdient – bildet die Wirklichkeit nicht nur ab (wie ein Schnappschuss mit willkürlich in die Gegend gehaltener Kamera).
Sie beleuchtet sie auch. Vor allem Literatur illustriert, wie die Welt funktioniert (, vor allem, wie der Mensch funktioniert). Und die Welt ist geprägt von Folgenhaftigkeit – das darstellen zu können ist eine der Stärken, die Literatur (inkl. Bühne/Film) den (meisten? ich sage alle!) anderen Kunstformen voraus hat. Wie immer in der Kunst (und generell), ist Abstraktion vom „nicht dafür Relevanten“ der Königsweg, um etwas zu verdeutlichen. DESHALB halte ich die Texte für am besten gebaut (! – zu „gut erzählt“ gehört noch etwas mehr), die all das weglassen, dessen Folgen nicht im „Erzählfenster“ stattfinden bzw. die so gebaut sind, dass die Folge haargenau zum Erzählten passt und nicht mit anderen „Vorgeschichten“ auch reibungsfrei funktioniert.

In diesem Fall: Würde ich annehmen, Rumpelsstilzchen wäre für „grottenschlecht gebaute Texte“ anfällig und Dr. Fröhlich würde die Unselm einfach nur feuern, dann würde das mit nahezu jeder anderen Konstellation – angefangen vom Arbeitsgebiet der beiden bis zur „Entscheidungsfindung“ – auch funktionieren. (Da ich aber aus Erfahrung nicht annehme, dass Rumpelsstilzchen dafür anfällig ist, gehe ich davon aus, dass er sich diese Lösung nicht gedacht hat beim Schreiben. Aber – rein vom Text her – ist sie möglich.)
Zwischen diesem Zustand „grottenschlecht gebaut“ und „Folgenhaftigkeit perfekt illustriert“ liegen aber Welten.
Wird Unselm ausgelöscht, weil das Experiment, von dem sie nicht lassen will, sie töten wird, dann ist noch immer jede experimentelle Wissenschaft als Spielort möglich. Die Geschichte lässt diese Möglichkeit zu. Hat Fröhlich einen Weg gefunden, die „Kondensation der Möglichkeit“ zu ändern und die Unselm einfach „wegzudenken“? Dann ist immer noch die Art des Experiments und die Parallelwelt-Sache weitgehend beliebig ersetzbar. Oder ist die Theorie zum Experiment nur solange richtig, wie er dran glaubte (warum ist dann ER das Maß und nicht SIE?), dann ist völlig offen, wie er einen Irrtum feststellen konnte, und es hat kausal nichts mit dem "Auslöschen der Unselm“ zu tun.

Man könnte die Gesprächspartnerin austauschen, vielleicht. Aber es muss jemand sein, der den Kontext seiner Vergangenheit versteht.
Was für einen Kontext? Wenn ich mir den Text anschaue – und mehr hab ich ja nicht – dann muss sie nur seine Theorie(n) gut und ihn als Person ein bisschen (nur so gut, um ihn für etwas verschroben zu halten) kennen .

Oder eine andere Theorie? Aber keine würde sooo gut passen.
WIESO? Was an der Theorie (an welcher der beiden? bzw. in welcher Verknüpfung der beiden) führt so zwangsläufig zu „Schade, sie war eine gute Wissenschaftlerin“, und wie passiert das, dass es nicht auch von einem ganz anderen Punkt aus auch dahin führen würde? Die Antwort darauf gehört in die Geschichte und nicht als Ratespiel dem Leser vor dem Latz geknallt.

… aber zu behaupten, wenn es so wäre, sei das hochgradig schlecht, finde ich dann doch etwas gewagt.
siehe oben. Und: Das bezieht sich auf den Plot – die Charakterisierung der Figuren (im Rahmen der Textlänge und des Qualität des Plots) und die Sprache sind top, ohne Frage.

Aber andere erkennen vielleicht was, und für sie hat die Farbe des Striches plötzlich Relevanz. Und Picasso sitzt vermutlich in der Ecke und freut sich über die Ideen der Leute - am besten so viele Ideen wie Betrachter.
Das klingt im ersten Moment plausibel. Natürlich ist nicht immer alles für jeden erkennbar. Haarig wird‘s, wenn die, die es erkennen, dem, der es nicht erkennt, es nicht zeigen/erklären/benennen können. Das ist in der Regel ein sicheres Zeichen dafür, dass sie es auch nicht verstehen, sondern "nur so ein Gefühl" haben.
(In diesem Fall: Ich habe NIE gefragt, was für Charktere die Figuren sind, welche Konsequenzen es hat/hätte, wären die Theorien Wirklichkeit etc. – ich habe gefragt „Was meint Fröhlich mit „Schade, sie war eine gute Wissenschaftlerin“ und dem anschließenden Auslöschen?“ – und das hat mir noch niemand beantworten können. Langsam bekomme ich den Verdacht, dass nicht mal der Autor es weiß. Und das ist das Übelste, was einem Text (oder anderem Kunstwerk) passieren kann.)
Nicht jeder sieht also in einem Werk die „Botschaft“ – klar. Aber jemand, der sich daran erfreut, dass alle was dazu denken/sagen – egal, ob es irgendwas damit zu tun hat, was er sich beim Schaffen des Werkes dachte – der ist kein Künstler (, der eine Aussage treffen und vermitteln will und dabei möglichst noch unterhalten möchte) sondern nur ein Provokateur, ein krampfhaft Aufmerksamkeit Heischender, ein Schaumschläger. (Zur Vorbeugung: Ich halte Rumpelsstilzchen nicht für „so einen“ – es ist nur ein Gegenargument zu „Kunst ist, wenn alle drüber spekulieren“.)

Aber ist der Apfel jetzt mehr Kunst oder besser als das Bild von Picasso, nur weil man ihn auf den ersten Blick erkennen und eindeutig benennen kann?
Wie oben schon gesagt: Kunst bestimmt sich nicht im Grad des Fotorealistischsein, sondern darin, wie man die Welt (bzw. den vom Künstler beabsichtigten Teilaspekt der Welt) darin erkennen kann. Eine der wesentlichen Stärken der Kunst ist zudem, auch Antworten anzubieten, die nicht als „absolut und allein richtig“ gelten (können) oder gar mehrer Möglichkeiten zu bieten. Dazu gehört NICHT, für eine Situation schlichtweg alles für möglich zu erklären. Das ist im Leben nicht so und wird in der Kunst nicht dadruch "erlaubter", dass man einfach die nötigen Vorinformationen, die die Möglichkeiten einschränken, "abschneidet". Das wäre wie "Alfons holte zum Schlag aus." zum Kunstwerk zu erklären – es zeigt nichts, nicht mal, wie ein zum Schlag ausholender Alfons aussieht (hat er 'ne Axt? nimmt der die Hand? die Faust? macht er Karate? ist er wütend? berechnend? ist es Spaß?)
Und eine der „Aufgaben“ der Erzählenden Literatur ist (im Gegensatz zum Essay), die „abstrakten Einsichten in die Welt“ anhand konkreter (, wenn auch fiktiver) Geschehnisse in ihrer Konsequenz für uns/die Menschen/die Gesellschaft zu zeigen. Hier – in dieser Geschichte – wird weder die Konsequenz gezeigt (, denn es ist eine andere Konsequenz, Unselm zu „tatsächlich löschen“ oder sich „einfach nicht mehr an sie zu denken“ oder „sich zu wünschen, sie wäre löschbar“…) noch, was dazu führt (, wenn Fröhlich sie „tötet“, sagt das etwas völlig anderes über seinen Charakter aus als wenn er nur träumt, sie sei löschbar…) Hier wird nicht nur kein Einblick in die „Welt“ gewährt, keine Antwort angeboten, hier wird der Leser der Antwortmöglichkeit (gezielt?) beraubt.



@ Rumpelsstilzchen

WENN Dr. Fröhlich sie aus seiner Realität fortwischen kann, widerspricht das unserer Wirklichkeitserfahrung. Oder doch nicht? Wer würde es wissen?
… dann fehlt im Text die Info, wieso Fröhlich es weiß. Dass es möglich ist. Oder warum er sie nicht einfach „ihn liebend“ denkt, statt sie gleich auszulöschen. Oder warum der nicht „meine Theorie ist doch richtig“ „kondensiert“.

Oder träumt er?
Wünscht er?
… auch das noch! Jetzt öffnest du den Plot auch noch für Möglichkeiten, die im Text mit nichts aber auch gar nichts angedeutet sind! Das ist wie „Ich habe dir was gebacken. Im Ofen ist ein Kuchen. Kann aber auch eine Quiche sein. Oder ein Keks. Oder ein Schweinebraten. Auf jeden Fall ist es noch heiß.“ … was bedeutet, es kann auch ein heißer Stein sein, die verkohlte Leiche der Nachbarskatze oder ein Klumpen strahlendes Uran (, es ist ja nirgends gesagt, dass das, was der „ich“ gebacken hat, identisch ist mit dem, was jetzt im Ofen ist.).

Siehst Du Jon, genau diese Unbestimmtheit macht den Plot aus.
Ein Plot, der unbestimmt bleibt in dem, was passiert, ist kein Plot. Das ist bestenfalls eine Anfangsidee für einen Plot.

Diese Oberfläche ist ein Möbiusband.
… was nichts anderes bedeutet als das „vollkommene Sich-im-Kreis-Drehen“. Was in seiner Vollkommenheit zwar eine Weile faszinieren mag, aber nur lähmt und letztendlich „dumm macht“.

Die Geschichte kann doch selber sprechen.
Schon möglich. Aber sie nuschelt an ein paar entscheidenden Stellen …
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Jon, wir kreißen nicht, wir kreisen.
Deshalb werden wir wohl keine Lösung gebären, obwohl wir uns um dasselbe Massezentrum drehen:
Eine der wesentlichen Stärken der Kunst ist zudem, auch Antworten anzubieten, die nicht als „absolut und allein richtig“ gelten (können) oder gar mehrer Möglichkeiten zu bieten.
Genau das habe ich hier versucht, ohne x-beliebig zu werden.

ich habe gefragt „Was meint Fröhlich mit „Schade, sie war eine gute Wissenschaftlerin“ und dem anschließenden Auslöschen?“ – und das hat mir noch niemand beantworten können. Langsam bekomme ich den Verdacht, dass nicht mal der Autor es weiß. Und das ist das Übelste, was einem Text (oder anderem Kunstwerk) passieren kann.)
Doch, ich weiß es: Er wischt sie einfach fort.
Weg ist sie, aus dem Sinn und aus dem Sein.
Das Bewusstsein bestimmt das Sein.
Was ist daran unbestimmt?
Natürlich birgt die Antwort neue Fragen; einige hast Du selbst genannt.
Genau so bohrt sich Wissenschaft übrigens durch ihren Erkenntnisgang.

quote: Oder träumt er?
Wünscht er?

… auch das noch! Jetzt öffnest du den Plot auch noch für Möglichkeiten, die im Text mit nichts aber auch gar nichts angedeutet sind!
Na hör mal, da gibt es einen grundsoliden Temporalstaugenerator im Haus, an dem man sich den Zeh verstauchen kann.
Und der Doktor hat nichts als flüchtigen Dunst.
Wieviel Kilo braucht denn der Kopf, ehe der Hammer den Lukas schlägt?

Nochmal:
Das Bewusstsein bestimmt das Sein.
Das ist die These.
Über Reichweite und Konsequenzen soll der Leser gefälligst selber nachdenken. Oder bei Vordenkern nachlesen.
Ich wollte ja keine ontologische Habilitationsschrift daraus machen.

Vom Verdacht betrübt, hat er's noch mal klar gemacht
 



 
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