Mordgeschichten aus dem Niederrhein

Dancingdet

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Mein Name ist Erwin Koslowski. Ich wurde 1938 in Altwasser in Schlesien geboren. Als ich sechs Jahre alt war flüchteten wir in den Westen und leben seither am Niederrhein; zunächst in Moers, später in Kamp-Lintfort. Von meiner Mutter habe ich die Klugheit, von meinem Vater den Jähzorn geerbt, und mir scheint das Pech an den Händen zu kleben; nein eigentlich klebt Blut an meinen Händen, aber ich war eigentlich immer ein Opfer der Umstände. Ich hoffe, dass ich trotz allem immer in guter Erinnerung meiner Freunde und Verwandten bleiben werde.

Es ist kochend heiß hier unten, und dunkel, und stickig. Die Luft ist voller Staub, der uns in Nase und Mund dringt. Mit zwölf Mann malochen (arbeiten) wir hier in nahezu 950 Meter Tiefe, um Kohle aus dem Gestein zu brechen.
Anton Werger, unser Steiger vor Ort treibt uns an. Heute will er den Rekord brechen bei der Tagesförderung; und Werger fiebert vor Aufregung.
Aber ich habe andere Sorgen. Die Trude, meine Frau hat die letzten Tage immer solche Andeutungen gemacht, das Aas.
Erst war ja alles in Ordnung, wie wir geheiratet haben, aber jetzt, nach 20 Jahre fängt sie auf einmal an, rumzustänkern. Mein Lohn iss nicht hoch genug, ich wär 'n faulen Sack, weil ich nicht auffe Steigerschule ginge und im Bett wär ja auch nix mehr los!
Es wär' schließlich meine Schuld, dat wir keine Kinder hätten, weil ich nicht genuch Ulleköppe (Kaulquappen) im Sack hätte und 'ne glückliche Familie hätt' sie sich auch anders vorgestellt. Aber das wär' ja auch alles kein Wunder; meine Mutter wär Schuld, weil sie mich mit einer Lüge großgezogen hätte.

Die große Lüge bestand darin, dass sie mich bei unserer Flucht 1944 (mein Vater war ein weitsichtiger Mann) auf Erwin umgetauft hatte.
Die Nazis hatten mittlerweile ganz Deutschland im Griff und die Braunen begannen bereits ihre Finger Richtung Österreich und Sudetenland auszustrecken.
Allen ging es mittlerweile gut. Die Nazis hatten mit der Wischiwaschi-Politik Schluss gemacht und endlich das getan, was sich anständige Bürger nach dem durch Verrat verlorenen Weltkrieg immer gewünscht hatten.
Meine Eltern lernten sich im August 1937 auf einem Tanzabend der Landjugend kennen. Vater war in einer Fleischerei als Metzger tätig und schuftete 12 Stunden am Tag, um sich etwas Geld beiseite zu legen. Sein Traum war, einmal im Leben nach Rom zu fahren. Vaters Bruder Peter hatte vor drei Jahren schon zum Westen rübergemacht und arbeitete auf einer Zeche am Niederrhein.
Mama war Näherin in einem großen Betrieb, der gerade einen Riesenauftrag zur Herstellung von Uniformen erhalten hatte.
Der Tanzabend bot den jungen Leuten der Umgebung die Möglichkeit, sich einmal wieder richtig auszulassen. Es gab Bier, Wein und Würste. Eine Kapelle spielte zum Tanz und Mama und Vater hatten eine Menge Spaß beim Walzer, der Polka und dem verbotenen Swing.
In den Tanzpausen setzte man sich an den Tisch, um etwas zu trinken und ein wenig zu plaudern.
Mein Vater war sehr angetan von Mamas Aussehen und sie liebte es, wenn seine kräftigen Hände sie über die Tanzfläche führten. Die Freunde der beiden taten ihr übriges, um sie zusammen zu bringen. Schließlich küssten sie sich hinter dem Zelt und feierten ihre Liebe weiter auf dem Tanzboden.
Beide waren etwas angetrunken, als mein Vater Mama nach Hause brachte. Auf dem Weg zurück zur Stadt brach ein Sommergewitter aus und sie mussten sie sich im Heuboden des Bauern Eibel unterstellen und aufwärmen.
Das Produkt des Aufwärmens meldete sich bald in Form von Übelkeit und dem Ausbleiben der Regel. Mama war verzweifelt und hat es ihren Eltern und Vater gegenüber lange verschwiegen. Als bekannt wurde, dass sie schwanger war, brach für meine Großeltern eine Welt zusammen. Ihre Tochter schwanger! Von einem Fleischer! Man überlegte sogar, die Mama zu einem 'Engelmacher' zu bringen. Aber Mama wollte so etwas nicht. Vater erfuhr erst von der Schwangerschaft, als mein Opa an seine Tür klopfte, um ihn zusammen zu stauchen.
Vater war jedoch ein Ehrenmann und so hat er um die Mama angehalten und geheiratet.
Es war eine tolle Hochzeit und sogar Vaters älterer Bruder Peter war mit seiner Frau und seinen kleinen Söhnen aus dem Niederrhein angereist, um mitzufeiern
Vater und Mama waren fasziniert vom 'braunen Messias', der allen aus der Seele sprach und allen ein Paradies auf Erden versprach. Demjenigen, der Arbeit für alle schuf; demjenigen, der die jüdischen Geldsäcke aus Deutschland jagte und der dafür sorgen wollte, dass alle Deutschen, auch die Österreicher, in einem Reich vereint seien.
Ihm zu Ehren taufte man mich auf den Namen Adolf!

Aber es blieb nicht lange ruhig im Reich. Ich war gerade etwas über ein Jahr alt, als die Polen uns überfallen wollten. Schließlich gab mein Namensgeber den Befehl zurück zu schießen und einzumarschieren. Es muss ein Riesenjubel im Haus Koslowski gewesen sein. Vater war mit Feuereifer bei der Sache und forcierte seine Einberufung zur Wehrmacht. Und sein Eifer sollte belohnt werden. Er durfte an die Westfront, um am Blitzkrieg gegen Frankreich teilzunehmen. Binnen weniger Tage wurde die französische Grenze ohne nennenswerten Widerstand überschritten.
Mein Vater kam im September 1940 und 1942 von seinen Fronteinsätzen nach Hause und deshalb habe ich noch zwei Schwestern. Doch irgendwann änderte sich das Kriegsglück und Deutschland musste an mehreren Fronten kämpfen. Mamas und Vaters Enthusiasmus wich dem Gefühl einem Betrüger und Massenmörder auf den Leim gegangen zu sein. Vater wurde schließlich an die Ostfront versetzt.
Die Eltern von Mama starben an Typhus, während Vater gegen die wilden russischen Horden kämpfte. In seinem letzten Brief, der irgendwann Anfang 1944 bei uns eintraf, riet er der Mama, schnellstmöglich aus Schlesien zu verschwinden.
Wir sollten Richtung Westen machen, weil dort keine Russen und keine Polen seien, sondern die Amis und die Tomis.
Mama packte unsere Habe zusammen. Am Bahnhof von Waldenburg herrschte helle Aufregung. Die Nachricht, dass die Ostfront zusammengebrochen war machte die Runde und viele Leute versuchten, Schlesien zu verlassen.
Überall waren Männer der SS zu sehen, die versuchten, die Menschen davon abzuhalten, in den Zug Richtung Westen zu steigen.
Ich war fast sechs Jahre alt und trug meine kleine Schwester, die die meiste Zeit in meinen Armen schlief, als Mama mit uns in den vorletzten Wagen wollte. Die Menschenmenge drängte uns nach vorn, bis plötzlich ein herrisch schreiender SS-Hauptsturmführer seine Waffe zog und in die Luft schoss. Er hatte drei SS-Männer dabei, die ihre automatischen Gewehre ebenfalls auf die Menge richteten.
Es gab eine laute Diskussion, die in Beschimpfungen endete und schließlich zu Handgreiflichkeiten führte. Der kleine Schuster Herr Weber packte den Hauptsturmführer an der Uniform und redete dabei wie wild auf ihn ein, während die hinter ihm stehenden Leute weiter nach vorn drückten. Es löste sich ein Schuss! Herr Weber wurde nach hinten geschleudert und hielt sich die Brust. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor. Dann war es eine Sekunde lang totenstill.....und im nächsten Moment brach die Hölle los. Ich wurde durch die nach vorn stürmenden Männer zu Boden geworfen und konnte Marga noch so eben vor einem Aufprall bewahren. Dabei schlug ich mir die Knie und die Ellbogen auf. Tränen schossen mir ins Gesicht und so konnte ich nicht sehen, was der Mob mit den SS-Leuten anstellte. Es gab noch einen weiteren Schuss, der aber offensichtlich nichts traf, dann schlugen die Männer auf die Schergen der Schutzstaffel ein. Mama schob mich in den Waggon und setzte sich so weit sie nur konnte vom Ort des Geschehens weg.
Sie wollte nicht sehen, dass es bei unserer Flucht fünf Tote gegeben hatte. Sie vergrub den Kopf in ihrem Arm und weinte lautlos.
Ich kann mich nur noch bruchstückhaft an die Reise erinnern. Mama hatte die eigentliche Route schon genau ausgearbeitet. Am Bahnhof in Duisburg hatten wir dann das erste Mal Kontakt zum Niederrhein, der schließlich unsere Heimat werden sollte.
Wir stiegen in den Hippeland-Express, der uns zum Moerser Bahnhof brachte. Von hier aus mussten wir nur ein kleines Stück laufen, um bei Vaters Bruder Onkel Peter in Meerbeck zu landen.
Von meinem Vater haben wir nichts mehr gehört, bis 1957 endgültig die Nachricht eintraf, dass er gefallen war.
Onkel Peter starrte uns ziemlich feindselig an und ließ uns immer wieder spüren, dass wir ihm eine Last waren. Als Kind fehlt einem wahrscheinlich noch das Gespür für solche Dinge und außerdem waren wir froh, endlich ein zu Hause gefunden zu haben.
Mama war ziemlich fertig und hat oft nachts geheult. Uns gegenüber ließ sie sich aber nie etwas anmerken und erzog uns so gut sie konnte.
Onkel Peter und Tante Hilde wohnten ziemlich feudal in einem Zechenhaus. Onkel Peter war Steiger auf Rheinpreußen 4!
Wir quartierten uns im Schuppen ein und meine beiden älteren Vettern halfen uns, den Raum einigermaßen wohnlich zu gestalten. Paul war schon vierzehn Jahre alt und ging auf der Zeche in die Lehre. Heinz war zwei Jahre jünger und ging noch zur Schule.

Doch dann holte uns der Krieg doch noch mit seiner ganzen Grausamkeit ein!
In Meerbeck, wo die Bombardierung wegen der Treibstoffwerke besonders stark war, waren von 3.000 Siedlungshäusern fast alle beschädigt und 1.000 nahezu vollkommen zerstört. Onkel Peters Haus hatte einiges abbekommen, war aber noch bewohnbar.
Das Schlimmste war für uns Kinder der nächtliche Bombenalarm und die Hetze zum nächsten Bunker. Irgendwann tauchten dann die Amerikaner auf und befreiten uns vom Nationalsozialismus.

Trotz der allgemeinen Knappheit an Versorgungsgütern ging es uns den Umständen entsprechend gut. Mama kochte für die Schlafburschen aus der Nachbarschaft auf deren Lebensmittelkarten, wusch ihre Wäsche und half dem einen oder anderen, Briefe an ihre Liebsten zu formulieren. Man trieb den so genannten Wiederaufbau voran. Die Alliierten hatten den Morgenthau-Plan verworfen und arbeiteten daran, die Vorschläge der US Außenministers George C. Marshall durchzuführen. Glücklicherweise gehörte die Steinkohle zu einem der wichtigen Rohstoffe, die zum Aufbau der Schwerindustrie benötigt wurden. Man ging mit Eifer daran, das Land wieder aufzubauen und die Vergangenheit zu verdrängen.
Wir Kinder hatten eine Menge Spaß miteinander, wir spielten in zerbombten Hausruinen und in den Bunkern in der Nähe. Wir gingen zu Schule und lernten etwas für Leben.
Wir erlebten, wie das Land Nordrhein-Westfalen gegründet wurde; wir verfolgten im Radio die Abenteuer des Forschers Thor Heyerdahl, der mit seinem Balsafloß 'Kon-Tiki' von Peru nach Polynesien segeln wollte. Wir hörten, wie die Männer über einen Adolf Hennecke sprachen, der in der SBZ über 24m³ Kohle allein abgebaut haben sollte. Wir jubelten, als die Bundesrepublik Deutschland ausgerufen wurde und ärgerten uns, als die DDR die Ausgleichslieferung für unsere Steinkohle einstellte.
Paul zog nach Neukirchen-Vluyn, um dort auf der Zeche Niederberg zu arbeiten, so dass Mama und meine Schwestern in sein Zimmer ziehen konnten. Ich blieb im Schuppen wohnen, während unsere Sportler erstmals wieder an Olympischen Spielen teilnehmen durften. Ich schloss die achte Klasse ab und bewarb mich auf der Zeche Rheinpreußen, auf der ich dann schließlich angenommen wurde.
Dann gab es in der DDR den Volksaufstand, der alle in der Nachbarschaft ziemlich aufbrachte. Mit einem Mal stand wieder eine Bedrohung vor der Tür. Ein dritter Weltkrieg wäre durchaus denkbar gewesen und ich spürte die Sorgen und Befürchtungen der Erwachsenen.

Onkel Peter hatte beschlossen, unser Plumpsklo im Garten einige Meter zu versetzen, da die alte Grube schon ziemlich voll war. Die wurde zwar regelmäßig mit Stroh und Chlorkalk abgestreut, aber der Geruch war im Sommer schon ziemlich stark.
„Nächstes Jahr soll hier zwar eine Kanalisation gebaut werden, aber bis dahin...“
Wir griffen also zu Hacke, Spaten und Schaufel und begannen, eine neue Grube auszuheben. Wir schafften an diesem Tag bereits die Hälfte der geplanten Tiefe.
An diesem Abend ging Tante Hilde mit Hertha und Marga (meinen Schwestern) zur Abendmesse, so wie sie es seit Jahren immer donnerstags praktizierte. Dafür schleppte sie die Armen auch noch freitags zur Mittagsmesse, denn sie war sehr gläubig und war davon überzeugt, dass das Haus nur deshalb von den Bomben verschont wurde, weil sie ständig zu Jesus Christus gebetet hatte. Damit sich an diesem Glück nichts ändert, verbrachte sie jede freie Minute mit beten oder mit Gottesdienst.
Heinz ging zum Fußball und Mama blieb zu Hause, um noch etwas zu nähen oder um unsere Sachen zu flicken.
„Deine Sachen für die Nachtschicht stehen in der Küche, Schatz,“ rief Tante Hilde noch und zog die Bagage hinter sich her. Onkel Peter ging ins Haus, um sich frisch zu machen und ein wenig zu ruhen, bevor er anfuhr und ich legte mich in meinem Schuppen auf die Pritsche.
Ich war kurz eingeknickt und wurde wach, weil ich Durst hatte. Schnell sprang ich auf, um mir einen Schluck Selters aus der Küche zu holen. Im Haus hörte ich ungewohnte Geräusche, also schlich ich durch die Küche und pirschte mich die Treppe hinauf.
Mama stand über einer Waschschüssel und wusch sich die Mumu, während sie laut schluchzte. Onkel Peter zog sich die Hosen hoch und war ganz rot im Gesicht. „Wenn Friedrich davon erfährt, bringt er dich um, Peter!“ heulte Mama. „Das geht nicht so weiter; seit neun Jahren tust du mir das an.“ „Ach, hör auf ! Du willst es doch auch immer,“ schnauzte er zurück. „Einmal, einmal nur Peter! Und seitdem bedrängst du mich jeden Donnerstag.“ „Sei froh, dass ich dich und deine Blagen bei uns aufgenommen habe. Du könntest etwas dankbarer dafür sein, dass ihr nicht auf der Straße leben müsst!“ Mama heulte wieder los und ich zog mich mit hochroten Ohren zurück in meinen Schuppen. Auf der Pritsche liegend begann ich zu weinen. Ich war wütend auf meine Mutter und auf meinen Onkel. Mein Vater galt als vermisst und die beiden betrogen ihn! Onkel Peter war schon immer sehr komisch zu uns gewesen und offensichtlich lag es an Mama, dass er uns bei sich aufgenommen hatte. Und Mama war schließlich eine junge Frau, die hin und wieder Bedürfnisse hatte, die Tante Hilde bei Onkel Peter nicht befriedigen konnte oder wollte. Kein Wunder, trug sie doch fast einen Heilgenschein! Mistkerl! Verrecken soll er!

Ich erwachte am nächsten Morgen, und musste mich sputen, damit ich nicht zu spät zur Arbeit kam. Die gesamte Schicht über war ich völlig unkonzentriert, weil mir der Vorfall einfach nicht aus dem Sinn gehen wollte.
Das Mittagessen stand in der Küche, als ich nach Hause kam. Onkel Peter arbeitete schon wieder an der Grube, die anderen waren bereits in der Kirche; Heinz hatte Mittagsschicht.
Es war mir unangenehm zu meinem Onkel nach draußen zu gehen.
Mir war speiübel, als ich mich schließlich zu ihm traute. „Mensch, wo bleibst du denn,“ schüttelte er den Kopf. „Ich warte schon fast eine Stunde.“ Und dann murmelte er etwas von Faulheit und Undankbarkeit. „Gib mal den Spaten runter!“ Ich holte aus und gab ihm den Spaten! Die Wucht zersplitterte seinen Schädelknochen und das Blatt des Spatens drang um zweidrittel in sein Gehirn ein. Ohne einen Ton sackte er in sich zusammen und sein Blut sickerte in den Grubenboden. Einige Augenblicke stand ich wie erstarrt, dann bekam ich mich in den Griff. Er hatte es nicht besser verdient!
In meinem Kopf ratterte es. Was würden die anderen sagen, wenn sie erfahren, dass ich ihn umgebracht hatte? Langsam reifte ein Plan in mir. Zunächst musste ich die Leiche verschwinden lassen.
So bestreute ich ihn mit einer Lage Chlorkalk, füllte etwas Erde über seinen Leichnam und füllte schließlich eine Lage Stroh in die Grube.
Das alte Klohäuschen versetzte ich mit Hilfe von einigen Rundhölzern. Dann holte ich Onkel Peters Schichtdubbels (Brote) und seine Thermokanne, warf sie in die alte Abortgrube, deckte alles mit Chlorkalk und Stroh ab, bevor ich sie zu schaufelte und den Boden verdichtete.
Ich zitterte. Was würde geschehen, wenn Onkel Peter nicht auftaucht ? Die Polizei würde kommen und Fragen stellen. Ich begab mich in die Küche und trank einen Schluck Wasser gegen die aufkommende Übelkeit. Mein Blick fiel auf die Küchenuhr. Ich hatte noch etwa 20 Minuten Zeit, bevor meine Verwandtschaft aus der Kirche zurück sein würde. Als nächstes musste es so aussehen, als sei Onkel Peter zur Arbeit gegangen.
Ich angelte mir Onkel Peters Jacke, seine saubere Hose, seine Mütze und seinen Schlüsselbund, schwang mich aufs Rad und strampelte zur Zeche, schlich mich durch die Markenkontrolle und drückte die Stempelkarte meines Onkels. Dann stahl ich mich vorsichtig in die Kaue, holte seine Sachen vom Haken und legte die saubere Wäsche darauf. Das Arbeitszeug packte ich in ein Wäschenetz. Draußen schlenderte ich schließlich möglichst auffällig herum.
Einige Kumpel grüßten mich kurz mit einem 'Auf' (das Kürzel für Glück auf) und fragten fröhlich, wo denn mein Onkel sei. „Der ist schon angefahren,“ rief ich zurück und spurtete nach Hause, nachdem ich seine Sachen in ein Brombeergebüsch gestopft hatte. Die Klamotten würden bestimmt von einem Streuner – davon gab es hier viele – gefunden werden und verschwinden.
Meine Leute waren schon da und bewunderten den neuen Standort des Klos.
„Mann, das habt ihr ja gut hingekriegt,“ nickte Heinz anerkennend. Dann nahm er mich beiseite. „ Hömma, ich hab' gestern den Herbert Schmitz getroffen und der hat mir gesagt ich soll mich auf Prosper Haniel bewerben. Die zahlen fast 15% mehr Lohn! Vatter weiß da noch nix von und ich trau mich auch nich' ihn zu fragen. Ich kann ers ma im Bergmannsheim wohnen, bis die 'ne Wohnung für mich haben.“ „Warte noch bis Sonntag, dann ist er wieder in Geberlaune,“ scherzte ich, obwohl mir immer noch ganz übel war.
Als Onkel Peter am Samstag nicht erschien, dachten alle, dass er wohl doppelt macht (eine Doppelschicht fährt). Aber als er am Sonntag immer noch nicht auftauchte, wurde die Sache kritisch. Tante Hilde schickte Heinz und mich zum Pütt, damit wir nach Onkel Peter fragen.
Niemand hatte ihn gesehen, er schien immer noch unter Tage zu sein. Seine Schicht hatte ihn vor Ort nicht gesehen. Die Markenkontrolle prüfte alles und stellte fest, das Onkel Peter immer noch vor Ort sein musste. Der Kauenwärter bestätigte das, weil Onkel Peters Klamotten immer noch am Haken hingen. Man vertröstete uns auf Montag, schickte aber vorsichtshalber ein paar Leute nach unten, um ihn zu suchen. Die Suche dauerte fast eine Woche.
Das Bergamt schaltete sich ein und auch die Polizei, die uns alle befragte. Alle antworteten wahrheitsgemäß und ich heulte Rotz und Klümpel (Wasser), da ich ihn schließlich als Letzter gesehen und unter Zeugen zur Zeche gebracht hatte.
Polizei und Bergamt überprüften sogar alle Aussagen; schließlich wurde Onkel Peter offiziell als vermisst eingestuft.
Tante Hilde war die erste Zeit völlig aufgelöst; Paul kam sie ,so oft er konnte, besuchen; Heinz trat die Stelle bei Prosper an und meine Mutter war erleichtert.

Vier Jahre später erhielt sie die Nachricht von Vaters Tod und bekam eine schmale Witwenrente. Ich schloss meine Lehre ab, nahm eine Stelle auf der Zeche Friedrich-Heinrich in Kamp-Lintfort an. Wir bezogen eine Wohnung auf der Ferdinantenstraße, meine Schwester Hertha begann ihr Lehre, Marga ging weiter zur Schule und das Leben nahm seinen gewohnten Gang.
Onkel Peter tauchte nie wieder auf.
 



 
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