Morgen Du

Cynthia

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Morgen Du

„Unglaublich... diese plötzliche Hitze! Warum musste sie sich auch gerade heute zu einem Ausflug mit dem Rad entschließen?
Ihre Augen tränten. Nora war allergisch gegen so ziemlich alle Pollen die heute in der Luft herumschwirrten. Sie wäre besser zu Hause geblieben um endlich den Brief an Tom zu schreiben.
„Dort! Eine freie Bank. Ein herrliches Schattenplätzchen!"
Es war noch früher Vormittag und zum Glück auf den Wegen noch nicht so viel los wie sie es von den Nachmittagen her kannte.
Sie hasste dieses Gewimmel von Menschen, die alle gleichzeitig Entspannung und Bewegung in der Natur suchten.
„So... erst mal setzen! Was liegt denn dort auf dem halb zerfallenen Brett? Ein Buch? Es sieht ebenfalls aus, als ob es beim Berühren auseinander fallen könnte.“
Vorsichtig nahm Nora das Buch in die Hand.
Sie war ansonsten kein Freund der Bücher aber dieses weckte in ihr eine seltsame Neugier.
Das Äußere des Buches war aus weinrotem Karton. Auf dem Buchrücken schimmerten Goldspuren. In der Mitte des Deckblattes, ebenfalls in Gold, der Titel „Für Dich“.
„Wie schön, hört sich an wie ein Liebesroman“, sprach Nora zu sich.
Sie schlug das Buch auf.
Darin las sie ein paar von Hand geschriebene Zeilen.
„Ich bin ein ausgesetztes Buch, mein Besitzer hat mich hier zurückgelassen, damit ich von einem Menschen gefunden werde, der in mir liest. Meine Buchstaben werden ihn in eine Welt entführen, die er bisher noch nie betreten hat.
Nora hielt inne. „Hört sich das nicht wie im Märchen an? Warum muss ausgerechnet ich dieses Buch finden? Es ist soo dick! Wie oft schon habe ich derartige Bücher nach den ersten Geschichten wieder beiseite gelegt!?“
Da hörte sie aus der Ferne eine Stimme. Sie blickte sich um. Es war aber niemand zu erblicken, der gesprochen haben könnte. Die Stimme wurde deutlicher. Jetzt erkannte sie den Klang einer freundlichen Frauenstimme. Sie sagte: „Dieses Buch ist anders als alle anderen Bücher. Lies, und du wirst verstehen!“
Etwas verängstigt und neugierig zugleich begann Nora zu lesen.
Ja, Nora las. Es geschah einfach. Die Worte schienen ihr geradewegs entgegen zu fliegen. Zugleich entstanden vor ihr Bilder, welche sich zu Erzählungen zusammensetzten. Geschichten, die Nora sehr bekannt waren.
Es waren Geschichten aus ihrem eigenen Leben. Erlebnisse an welche Nora lange Zeit nicht mehr gedacht hatte. Begebenheiten aus ihrer Kindheit, Jugend und aus dem Leben mit Mann und Kindern.
Schöne und wenig schöne Momente kamen zurück in Noras Erinnerung.
Lange saß sie auf der Bank und las immer weiter. Nie zuvor hatte ein Buch sie so in seinen Bann gezogen.
Nora blickte auf.
Sie hatte nicht bemerkt, dass mittlerweile ein reges Treiben auf den Rad- und Spazierweg herrschte.
Es war bereits Nachmittag und Nora hatte das Gefühl nur ein kurzer Augenblick wäre vergangen.
Sie legte einen Grashalm als Lesezeichen in das Buch, klappte es zu und trat den Heimweg an. Unentwegt kreisten ihre Gedanken um das soeben Gelesene.
Es war ihr eigenes Leben! Wie konnte sie sich das erklären?
War alles vielleicht ein Traum?
Nicht möglich!
Sie spürte ja die Anstrengung, die das Treten der Pedale machte. Ebenso die Hitze um sich herum.
Sie hörte die Menschen und Tiere und spürte das grelle Sonnenlicht in ihren Augen. Es war Gegenwart!
Zu Hause angekommen legte sie das Buch sorgfältig in ihre Nachttischschublade um am Abend weiter zu lesen.
Wieder war es Neugier, die sie an diesem Abend dazu trieb zeitiger als gewöhnlich zu Bett zu gehen. Nicht um zu schlafen...Sie kramte das Buch hervor und las.
Und wieder wanderte sie durch eine Welt, die sie gut kannte. Jede Einzelheit war ihr vertraut. Schließlich kam Nora an einen Punkt an welchem sie nicht mehr von der Vergangenheit las, sondern von der Gegenwart. „Sollte sie weiterlesen? Was... wenn nach der Gegenwart die Zukunft erzählt würde? Wenn sie lesen würde was morgen sein wird!“
Nora blickte furchtsam auf.
„Schon... sie hatte sich ja oft gefragt was wird? Doch im Grunde war sie ja froh es nicht zu wissen. Wäre das Leben nicht unendlich langweilig, wenn sie im Voraus wüsste, was geschehen wird? Jedoch könnte sie mit dessen Wissen vielleicht Unheil abwenden?
Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen!
Schließlich ist der Mensch ja nicht dazu in der Lage am Schicksal zu drehen.
Also was nun? Weiterlesen oder nicht?“
“JA!“ Die Neugier hatte wieder mal gesiegt. „Ist ja auch nur ein Buch“.
Noras Erwartungen bestätigten sich nicht...Statt der Blicke in die Zukunft stand dort nur ein einziger Satzgeschrieben: „Es wird etwas geschehen, aber bestimmt nicht das, von dem du denkst es passiert.“
„Stimmt. Und...war nicht schon dieser Satz allein eine Bestätigung dafür?“
Weiter stand war auf dieser Seite nichts.
Nora blätterte um.
Auf der nächsten Seite erschienen plötzlich blasse, kaum lesbare Buchstaben.
Nora musste sich sehr anstrengen diese um diese zu entziffern.
„Von nun an sollst DU diejenige sein, welche meine Seiten mit Worten füllt."
„Was? Ich soll Geschichten schreiben?"
Nora wehrte sich gegen diesen Gedanken. Jedoch der Wunsch es doch wenigstens einmal zu versuchen ließ sie nicht mehr los. „Macht ja nichts, wenn es nicht besonders gut wird," dachte sie. „Es ist schließlich nur für mich.“
In den folgenden Tagen schrieb Nora immer öfter in das Buch, welches zu ihrem ständigen Begleiter wurde.
Sie bemerkte mit Freude, dass Gedanken, die im Geist noch so schwer und verwirrend gewesen waren plötzlich leicht und transparent wurden.
Sie schrieb alles, was ihr in den Sinn kam. Wichtiges, banales, schönes, hässliches...
Nora erfuhr durch das Schreiben eine Befreiung ihrer sonst eingesperrten Gedanken.
Kaum waren sie frei, begannen sie sich zu wunderbaren Bildern und Geschichten zu entfalten. Es kam der Tag, an dem Nora auf der letzten, leeren Seite, des Buches angelangte.
Was nun?
Das Buch selbst wies ihr den Weg.
Wieder erschienen blasse Letter: „Du bist nun so weit, dass du all das Erfahrene auch ohne mich ausführen kannst.“ Lasse mich frei, wie du deine Gedanken frei gelassen hast! Viele Menschen sollen noch einen solchen Weg gehen, wie du ihn gegangen bist.“
„Ja, aber ich habe doch alle Seiten beschrieben!“
„Der Nächste wird mich so vorfinden, wie du mich gefunden hast.“
Kaum hatte Nora dies gelesen, war die Schrift auch schon verschwunden.
Am nächsten Tag packte Nora das Buch in ihren Rucksack und fuhr in die Stadt.
Es herrschte ein buntes Treiben.
Die Sonne schien.
Nora setzte sich in ihr Lieblingscafe und bestellte sich einen Cappuccino.
Sollte sie?
Langsam schlürfte sie das schaumige Getränk.
Sie wünschte sich, die Tasse würde niemals leer werden.
Doch es blieb ein Wunsch. Sie wurde leer.
Nora bezahlte, holte das Buch aus dem Rucksack, nahm den inzwischen getrockneten Grashalm heraus und legte es auf den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte.
Einen Moment hielt Nora inne, um dem Buch noch einen letzten verliebten Blick zuzuwerfen.
Dann schritt sie zielstrebig hinaus auf die Strasse.
Was nun geschah entzieht sich unserer Kenntnis...
Jedoch wer weiß?
Vielleicht findes Du morgen das Buch!?
 



 
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