Morgenimpressionen

Ganz früh am Morgen. Irgendwann in unserer Zeit. Die Stadt, in der ich gerade bin, ist in ein anderes Licht getaucht als abends zuvor als ich ankam. Fast wie in einen pastellfarbenen, zarten Wattebausch gehüllt, zeigt sich mir heute diese Stadt. Die ersten Sonnenstrahlen berühren die Dächer, ein sanftes Glitzern streicht über die Ziegel und vertreibt die kriechenden Schatten der Nacht.
Einige andere Frühaufsteher begrüßen mit mir den Tag und beginnen aktiv zu werden. Da die Katze, die vor dem Loch einer Hausmauer lauert, regungslos mit starrem Blick, und die nur darauf wartet, dass die Maus den Fehler ihres Lebens begeht. Auf der anderen Straßenseite füllt eine Frau die Körbe vor ihrem Laden mit allerlei Obst. Äpfel, Birnen und Bananen machen es sich in der Auslage vor dem Laden bequem und warten darauf, mit ihrem leckeren Duft und den appetitlichen Farben, von gierigen ?
Kundenhänden gegriffen zu werden.
Jäh werden die Katze, die Obstfrau und ich aus unserer Stille, aus unserer Gedankenruhe gerissen und ein kurzes Zusammenzucken erhascht uns, als ein alter klappriger Mann, an dem ich vorbeikomme, mühsam versucht, seinen kleinen vollbeladenen Bollerwagen auf den Bürgersteig zu ziehen und dabei über eine leere Dose stolpert. Der Wagen gleicht seinem Herrn und es scheint, als trage auch er die Last eines ganzen Lebens.
Fluchend und schimpfend spuckt der Alte mir knapp vor meine Füße. Zeichen seines allgemeinen Frustes. Ich schenke ihm trotz seiner unwirschen Geste ein Lächeln und will ihm helfend zur Hand gehen, als er mich mürrisch weiterwinkt und sich wieder hilflos allein zu schaffen macht. Stille kehrt zurück.
Es ist, als ob die Stadt kurz aufmaulte, kurz aus dem Schlaf hochschreckte und nun wieder in diesen versinkt, zumindest in einen Dämmerschlaf.
Ein paar Vögel beginnen, den Morgen zu begrüßen, das Bellen eines Hundes in der Ferne vereint sich mit dem Gezwitscher. Ich atme Morgenluft und lasse sie durch meine Nase strömen. Ein Stück meines Weges weiter dringt unbarmherzig der Geruch von alten Frittierfett aus einer Kneipe in meine Nase und vermischt sich mit meinem wohlduftenden Parfüm. Eine uncharmante Mischung, der ich nichts abgewinnen kann. Ich gehe weiter, lasse meine Blicke in ein Schaufenster mit Dessous wandern und sofort kommen Gedanken an den gestrigen Abend hoch, ein Abend voller Leichtigkeit und Lachen. Unwillkürlich umspielt ein Schmunzeln meine Lippen und ein warmes, leichtes Kribbeln breitet sich an bestimmten Stellen in mir aus.
„Hey, Sie da", ertönt es plötzlich schräg hinter mir und bringt mich aus meiner Meditation. „Ja, Sie." Ich drehe mich um, auf meinen Lippen bilden sich schon die ersten Worte, als der junge Mann, bevor ich noch etwas sagen kann, mir meine Geldbörse reicht, die mir ein paar Schritte vorher wohl entglitt und zu Boden gefallen war.
?
„Glück muss man haben und nette Menschen treffen", denke ich mir, als ich mich mit einem erleichterten Lachen bei ihm bedanke. „Gern. Und bewahren Sie sich dieses Lächeln, es ist wunderschön.“ Mit diesen Worten verschwindet er in einer Seitenstraße, fast so lautlos wie er erschienen ist.
Beschwingt setze ich meinen Weg fort, vorbei an einer anmutigen Jugendstil-Villa, die hinter ihren hohen Mauern wohl so allerlei Schätze verbirgt und Geschichten aus vergangenen und heutigen Zeiten zu erzählen hätte, vorbei an einem wundervoll blühenden Magnolien-Baum, dessen zartrosa Farben Sanftheit und Lieblichkeit ausstrahlen, vorbei an einem kleinen Rasenstück, dessen einstiges Grün zahlreichen Hundehaufen weichen musste.

Vorbei an Häuserzeilen, die ihre besten Tage bereits hinter sich gelassen haben, wie gelebte Gesichter - nicht aber die Würde und Schönheit des Alters ausstrahlend,
?
sondern die Abgeschlagenheit und Mürrischkeit einer trostlosen vergangenen Zeit.

Und dennoch, ich mag diese unterschiedlichen Gesichter einer Stadt.
Und auch die der Menschen.
Staunen können über das eigene Staunen. Ganz nah bei sich selbst sein. Ganz nah am Leben sein. In einem Sog der Lachen, Tränen, Hoffnungen & Sehnsüchte vereint.
Mit Chamäleon-Augen sehen. Dinge sichtbar machen, die sonst unsichtbar scheinen.
Den Pulsschlag der Zeit zu entschleunigen. Um in dieser oft schnellen und hektischen Welt, den Schleier von den Augen zu nehmen. Und wahrzunehmen - Städte, Landschaften, Gegenstände, Momente, Begegnungen und v.a. diejenigen, die man sehr gern hat.
Intensiv zu „sehfühlen" und zu „herzatmen"...
?
 



 
Oben Unten