Morgenluft

Charlene

Mitglied
Morgenluft​

Ich bin nichts weiter als ein Wanderer. Stein um Stein, Fuge um Fuge erstreckt sich mein Weg vor mir, beschränkt meine Welt. Aber ich bin nichts weiter als ein verirrter Wanderer, dem die Wegemarkierungen verborgen sind und der seine Karte verloren hat.

Ich lasse die Haustür hinter mir ins Schloss fallen und schlage den Kragen meiner Jacke hoch, denn es ist kalt heute Morgen. Der Himmel ist grau, als ich meinen täglichen Weg beginne, so grau wie der Panzer eines Nashorns und genauso undurchdringlich. Die kühle Morgenluft gleicht einem bräunlichen Schleier, der alles einhüllt, die Farben ihrer Kraft beraubt und den Konturen der Häuser, der Autos und sogar denen der Menschen die Schärfe nimmt, sie verschwimmen und ineinander laufen lässt. Meine Ohren sind ganz kalt, die Spitzen beginnen taub zu werden. Ich genieße dieses Gefühl, die Wirkung, die die kühle, feuchte Luft auf meine Haut hat, die mein Gesicht blass und meine Wangen rot macht. Kurz hole ich meine Hände aus den Jackentaschen hervor und berühre meine Ohren. Sofort spüre ich, wie das Blut und mit ihm die Wärme zurückkehrt.
Die Ampel schaltet auf rot und ich bleibe gehorsam stehen, habe Zeit die Menschen auf der anderen Seite zu betrachten, ihren Anblick in mich aufzunehmen, regelrecht aufzusaugen. Sie sind alle da, meine Bekannten, meine Freunde, meine Gefährten, von denen ich nichts weiter weiß, als dass sie jeden Tag zur gleichen Zeit an dieser Ampel stehen, in der gleichen Reihenfolge und sich gegenseitig nie beachten.
Sie trägt heute wieder ihre alte, graue Spitzenstola, die vor drei Jahren noch strahlend weiß war. Ja, sie hat sie sich heute Morgen wieder über die breiten Schultern geworfen, um den kräftig gebauten Oberkörper zu verbergen. Ihre Schuhe sind flach, der winzige Absatz längst abgelaufen, die Nähte der Riemchen ramponiert. Das Grau der Stola, das Beige der Schuhe, der Blümchenrock ganz in Lila, Rosa und Pink gehalten und das Tomatenrot ihres Pullovers – die Farbzusammenstellung irritiert mich jeden Tag und manchmal frage ich mich, ob sie vielleicht farbenblind ist. sie wohnt nicht weit von der Kreuzung, an der wir alle hier stumm stehen und auf das erlösende Grün der Ampel warten. Nur noch ein paar Schritte trennen sie von ihrer Wohnung in dem etwas heruntergekommenen Altbau. Woher kommt sie um diese Uhrzeit? Das frage ich mich jeden Tag, ohne je wirklich meiner Phantasie freien Lauf zu lassen oder nach einer plausiblen Antwort zu suchen, weil ich dieses schwammige, neblig wabernde Gefühl der anonymen Verbundenheit so mag.
Mein Blick wandert zu dem Mann neben ihr. Heute ist er nervös, sehr sogar. Die Aktentasche unter den Arm geklemmt, steht er in seinem schwarzen Mantel mit den aufgenähten grauen und braunen Stoffflicken da, mit blank polierten schwarzen Schuhen und blickt alle zwei Sekunden auf sein Handgelenk. In dem Dunst heute kann ich die goldenen Uhr, die er trägt, zwar nicht erkennen, aber ich habe sie schon oft genug gesehen. Er ist der Typ, dem man auf den ersten Blick den Geschäftsmann ansieht und den man sich beim besten Willen nicht in legerer Kleidung vorstellen kann. Doch warum hält er an seinem alten Mantel fest, der überhaupt nicht zu seiner übrigen Erscheinung passt? Bis noch vor ein paar Jahren hatte er immer einen exakten Mittelscheitel, doch nun sieht seine Frisur immer topmodern aus. Allerdings kann auch das nicht über einige, wenn auch kleine, Falten hinweg täuschen, die sich um seine Augen sammeln.
Die Ampel schaltet auf grün und ich habe kaum zwei Schritte getan, als Er schon an mir vorbei hastet. Neues Aftershave, denke ich, als mir einen parfümierter Duft in die Nase weht. Sein alter Mantel bauscht sich hinter ihm auf.
Als ich die andere Straßenseite erreiche, sind sie beide schon verschwunden. Jeder in eine andere Richtung.
Es ist die Routine, die mich fasziniert und die auch mich selbst in ihren Kokon eingewickelt hat und nicht mehr gehen lässt. Diese Gleichmäßigkeit, die ihren eigenen Regeln folgt und zu einer Art Naturgesetz geworden ist, dem man sich beugen muss, ob man will oder nicht. Es gibt kein Entrinnen, nicht mehr jedenfalls. Es ist wie eine Droge für mich. Als ob eine unsichtbare Leine mich zöge, verspüre ich jeden Tag den Drang, auf die Straße hinaus zu gehen und meine Wege abzulaufen, ein Teil der Routine zu sein, ein Mitglied dieser ewig wandernden Gruppe.
Obwohl die Wolkendecke heute undurchdringlich scheint und die Temperatur über Nacht so weit gefallen ist, dass ich meinen Atem immer als eine kleine Wolke vor mir herschiebe, ist es endlich Frühling. Die Bäume, die den Straßenrand säumen, beginnen wieder auszutreiben, die Blumen zu ihren Füßen blühen bereits in zarten Farben. Der Himmel hat nicht mehr das bleierne dunkle Wintergrau, die Luft riecht und schmeckt anders, nach Neuem, nach Frische - nach Frühling.
Als ich um die Straßenecke biege, werde ich etwas unruhig. Mit einem kurzen Blick auf meine Uhr vergewissere ich mich, dass ich mich nicht in der Zeit vertan habe. Nein, ich bin pünktlich, weder zu früh dran, noch zu spät. Ein unendlich scheinender Strom an Autos fährt an mir vorbei, bis ihm von einer Ampel vorübergehend Einhalt geboten wird, und es schließlich wieder weiter geht... Mein Blick irrt zu der Turmuhr, auf die ich zu laufe. Nein, nein, es hat schon alles seine Richtigkeit – und dennoch kann ich ihn noch nirgends sehen. Sollte ich mir Sorgen machen? Seit Jahren, ja eigentlich, seit ich jeden Tag morgens meine kleine Runde drehe, kommt er mir entgegen, bleibt ab und zu stehen, um sich nach seinem grauen Pudel umzudrehen, dessen kringeliges Fell die gleiche Farbe hat, wie sein eigener Vollbart und das, was von seinem Haar noch übrig ist. Doch ausgerechnet heute kommt er nicht. Warum? Diese Frage beschäftigt mich, bis ich den Turm erreicht habe und unter dem Torbogen durchgegangen bin. Wenn ihm etwas passiert ist? Oder es seinem Hund nicht gut geht? Am Ende ist der kleine Pudel sogar gestorben... Ich mache mir Sorgen.
Nachdem ich in eine Seitenstraße eingebogen bin, verlangsame ich meinen Schritt. Mein Herz beginnt schneller zu klopfen und ich wäre am liebsten wieder umgekehrt. Nicht weit vor mir befindet sich eine Fahrschule. Es ist neu, dass manchmal morgens eine Gruppe Jugendlicher davor steht und wartet. Neu, neu. Warum habe ich nicht daran gedacht? Ich laufe so langsam, dass ich fast stehen bleibe. Jemand rempelt mich von hinten an und drängt sich, etwas unverständliches murmelnd, an mir vorbei. Was soll ich denn nur machen? Schritt für Schritt nähere ich mich der Gruppe. Die meisten von ihnen rauchen, sie lachen, machen Scherze, stehen so dicht beieinander, dass auf dem Gehweg kein Durchgang mehr bleibt. Ich will da nicht vorbei. Meine Hände werden feucht. Verstohlen streiche ich meine graue Jacke glatt, versuche den Ölflecken darauf zu verdecken und den Riss, den ich mit ungeschickten, groben Stichen genäht habe. Sie werden sich über mich lustig machen, das weiß ich. Sie werden still werden, wenn sie auf mich aufmerksam geworden sind und mit den Fingern auf mich zeigen, und lachen, laut lachen... Doch nichts geschieht. Ohne mich zu beachten, treten sie alle einen Schritt zurück und machen eine kleine Gasse für mich frei. Rasch lasse ich die Gruppe hinter mir, mein Herz beruhigt sich und ich atme tief, ganz tief die frische Morgenluft ein. Sofort bin ich wieder ruhig, ein berauschendes Glücksgefühl überkommt mich. Zögernd bleibe ich stehen, drehe mich kurz um. Ein junges Mädchen sieht in meine Richtung. Sie hat glänzendes blondes Haar, das ihr hübsches Gesicht wie ein goldener Rahmen umgibt. Als sie meinen Blick bemerkt, lächelt sie mich an. Sie nimmt einen Zug von ihrer Zigarette und wendet sich wieder jemand anderem zu. Verblüfft setze ich meinen Weg fort, durch kleine Straßen und enge Gassen, schlendere vorbei an hastenden Menschen, umgehe Baustellen, bis ich schließlich wieder vor meiner Haustüre ankomme. Meine Haut prickelt von der Kühle, es scheint mir, als ob ich plötzlich alles ganz klar sehen könnte. Am liebsten würde ich hier stehen bleiben, mich ganz von der Morgenluft einhüllen lassen, in ihr duschen, baden, sie so tief einatmen, dass sie meinen ganzen Körper ausfüllt, mich von innen erfrischt. Ich atme so lange ein, bis ich das Gefühl habe, meine Lungen müssten auseinander bersten. Ich fühle mich so lebendig.

Der Flur meiner Wohnung ist dunkel. Ich starre in den Spiegel mir gegenüber, der an einigen Stellen schon blinde Flecken aufweist. Blass kann ich mich erkennen. Blass und grau. Ich ziehe meine Schuhe aus, stelle sie ordentlich neben die Türe und streife dann meine Jacke ab, um sie auf einen Kleiderhaken an der Garderobe zu hängen. Es ist immer noch kalt und der Gedanke, dass bald der Sommer kommt, erleichtert mich ungemein. Aus einer Schublade hole ich zwei paar dicke Strümpfe heraus und ziehe sie mir an, genauso wie einen dicken, selbstgestrickten Norwegerpullover, der mir etwas zu groß ist. Es gibt keine Heizung, nur einen Kohleofen in meinem Schlafzimmer, aber es ist mir zu mühsam jetzt einzuschüren. Es würde sowieso nicht reichen, um die ganze Wohnung warm zu bekommen. In der Küche mache ich mir einen Topf Wasser warm und hänge anschließend die zwei Teebeutel hinein, die ich schon gestern gebraucht habe. Als der Tee dampfend fertig gezogen hat, gieße ich ihn behutsam in meine Lieblingstasse und umklammere sie mit beiden Händen. Der heiße Dampf befeuchtet die trockene Haut meines Gesichts. Im Wohnzimmer setze ich mich in meinen alten Sessel und trinke vorsichtig einen Schluck heißen Tee. Obwohl meine Fensterscheiben frisch geputzt sind, dringt nur fahles Licht herein. Das Haus auf der anderen Straßenseite ist zu hoch, als dass die Sonne jemals zu mir herein scheinen könnte. Nach kurzem Überlegen zünde ich zwei Teelichter an, die auf dem Tisch zwischen Sessel und Sofa stehen. In der Wohnung unter mir spielt jemand Klavier. Ich weiß nicht wer, denn ich kenne meine Nachbarn nicht. Sie alle ziehen ein, leben für eine Weile hier und verlassen dann das Haus wieder. Sie kommen und gehen, nur ich bleibe. Die Musik ist angenehm. Ein bisschen Abwechslung in meiner stillen Wohnung. Mein alter Fernseher ist kaputt, schon seit langem, und auch mein Plattenspieler geht nicht mehr, die Batterien meines kleinen Radios sind leer. Ich trinke noch einen Schluck Tee. Er ist herrlich warm, schmeckt aber etwas fade. Vielleicht hätte ich doch zumindest einen frischen Teebeutel nehmen sollen... Die Musik plätschert angenehm vor sich hin. Das Stück kommt mir bekannt vor, sicherlich ist es etwas von diesem Mozart oder Beethoven. Ich kenne mich da nicht so aus. Die Flammen der Kerzen brennen ruhig, zucken nur manchmal ein bisschen, wenn ein kräftiger Windstoß, meine Vorhänge tanzen lässt; die Fenster sind schon recht alt und nicht mehr wirklich dicht. In Gedanken versunken und auch ein bisschen müde zupfe ich an meinem Ohrläppchen und sehe zum Fenster hinaus, warte auf den nächsten Morgen.

**********************
Über Kommentare jeglicher Art würde ich mich sehr freuen!
Danke fürs Lesen,
~ Charlene ~
 

Nieselregen

Mitglied
Ja,

liebe Charlene,
deine Geschichte hat mir ausgesprochen gut gefallen, ohne wenn und aber!
Von Anfang an hast du mich mit deinen präziese beobachteten Details und sehr bildhaften Beschreibungen gefangen genommen. Mit der schlichten Beschreibung eines alltäglichen Schicksals der Altersverarmung und -vereinsamung ohne unnötige Effekthascherei oder übertriebener Dramatik, hast du mich wirklich tief bewegt.
In Zukunft werden solche Schicksale leider viel häufiger werden, das gibt der Geschichte einen sehr aktuellen Hintergrund.

Liebe Grüße
Nieselregen
 



 
Oben Unten