Mr. Harper

LilyaLou

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Aufgrund der Tatsache, dass Mr. Harper wieder einmal seinen Namen vergessen hatte, beschloss er, diesem Spektakel auf den Grund zu gehen. Es gab doch für alles eine Lösung, so hatte man es ihm beigebracht. Mr. Harper war stolz darauf, bemerkt zu haben, wie seine leicht rundliche Nachbarin mit den Kringellocken und der blauen Brille, die eigentlich keine Stärke hatte (was Mr. Harper ebenfalls zu seiner Genugtuung herausgefunden hatte), die großen und kleinen Steinchen vor ihrer Haustüre zählte und dabei die Stirn so sehr runzelte, dass Mr. Harper befürchtete, ihr Gesicht würde irgendwann in dieser Position stehen bleiben. Mr. Harper wusste sogar, warum seine Nachbarin sich jeden Tag so lange bei ihren Steinen aufhielt. Sie wollte Herbert nicht verlieren, den dicksten und größten Stein von allen, aber da Mr. Harper ziemlich schlau war, wusste er auch, dass die anderen Steinchen seiner Nachbarin beinahe genauso wichtig waren und deshalb wendete sie sich jeden Morgen dem Zählen zu, um nachzusehen, ob auch wirklich noch alle da waren. Ihr Ehemann war ein alter Käse, so nannte Mr. Harper ihn, wenn ein schöner Tag war. An schlechten war er eine alte Wurst, denn Fleisch aß Mr. Harper nicht gerne. Das erinnerte ihn an seine Katze „Ball“, die er so getauft hatte, weil sie so dick war, dass man jeden Moment befürchtete, sie würde wie ein Ballon in die Luft schweben. Und nein-Mr. Harper hatte sie nicht gegessen, was man bei dem Stichwort Fleisch wohl vermuten könnte, aber das Gegenteil war hier der Fall. Mr. Harper meinte nicht, dass seine Katze ihn gefressen hätte, was vollkommen unmöglich wäre. Er erinnerte sich nur daran, wie „Ball“ das Fleisch verschlungen hatte, was Mr. Harper ihm jeden Tag zuwarf. Doch eines Tages war sie nicht mehr da und Mr. Harper war sich sicher, dass sie geplatzt war. Seine Nachbarin lachte darüber nur und dann wurde sie unglaublich wütend, da sie meinte, die Katze hätte ihre Steinchen gefressen.
Mr. Harper hatte darüber ebenfalls nur gelacht und der Frau gesagt, dass ihre Steinchen wohl seine Katze gegessen hatten. Das hatte er nur gesagt, damit die Nachbarin ein schlechtes Gewissen hatte, denn Mr. Harper wusste natürlich immer noch, dass „Ball“ geplatzt war. Insgeheim hoffte er, er würde sie irgendwo finden. (Man müsste davon ausgehen, sie läge verteilt herum, aber bei diesem Gedanken überfiel Mr. Harper ein merkwürdiges Gefühl, das er irgendwie nicht beschreiben konnte, weil er ja schließlich nicht wusste, wie es ist, zu platzen) Aber trotzdem würde er sich gerne auf die Suche machen, um seine Katze anschließend bei den gestorbenen Steinchen seiner Nachbarin zu begraben. Das Problem war nur, dass er häufig vergaß, wie er denn zurück zu seinem Haus finden konnte und deswegen ließ er es lieber bleiben. Manchmal aber vergaß er sogar, dass er eigentlich den Weg nach Hause vergaß und verließ deshalb seine schöne Wohnung, die er jeden Tag pflegte und auch fütterte wie seine Katze. Man könnte sich fragen, wie man ein Haus füttern kann, aber Mr. Harper war der einzige Mensch, der wusste, wie etwas dieser Art funktionieren konnte. Und weil er im Alter von fünfunddreißig Jahren immer noch ziemlich clever war, wusste er natürlich auch, wie alt er morgen sein würde.
Das wäre siebenundvierzig, denn morgen war ein schlechter Tag. Heute war ein ziemlich guter, denn er war schließlich fünfunddreißig.
Mr. Harper lächelte fröhlich und grüßte seine Nachbarin, die heute eine gelbe Brille trug und ein Steinchen grün anmalte und er fragte sich, ob diese Brille nun eine Stärke hatte oder nicht. Doch er hatte nicht mehr Zeit, darüber nachzudenken, denn da rutschte schon die geheimnisvolle Brille von der krummen Nase und landete auf ihren Steinchen und Mr. Harpers Nachbarin stieß einen lauten Schrei aus und drückte den Herbert-Stein fest an sich. Sicherlich musste er getröstet werden, denn Mr. Harper wollte schließlich auch nicht, dass eine Riesenbrille vom Himmel fiel, ganz genau auf ihn drauf. Aber das war ja physikalisch nicht möglich und Mr. Harper war stolz darauf, diesen Gedanken gefasst zu haben.
Er fragte sich, warum sie ihn damals im Chemielabor nicht an den roten Saft gelassen hatten, dabei wusste Mr. Harper doch, dass dieses Gebräu eigentlich giftig war und er wollte ja nur wissen, ob man Steinchen auch töten kann. Nun ja, seine Nachbarin hätte das womöglich nicht verkraftet und Mr. Harper wollte doch nicht, dass sie vergaß, ihre Haare zu waschen. Das passierte nämlich immer, wenn sie traurig war, hatte Mr. Harper wieder mit Stolz herausgefunden. Jedoch hatten die komischen wandelnden Kittel im Chemielabor seine Begabung nicht erkannt und Mr. Harper war dann so traurig gewesen, dass er vor lauter Weinen seinen Weg nach Hause wieder einmal vergessen hatte. Irgendwie hatte er sich dann wie neunundneunzig gefühlt, da das wirklich ein besonders schlimmer Tag gewesen war. Eigentlich war es ja nicht möglich, an einem Tag das Alter zu wechseln, aber trotzdem fragte Mr. Harper sich, ob man sich denn wie eins oder zwei fühlen konnte. Eigentlich wäre das dann auch ein schlechter Tag, denn als kleines Kind weiß man doch nicht, was man tut und darf nicht selber über sein Leben bestimmen. Das machen schließlich die Eltern, aber Mr. Harper wusste leider nicht, ob seine Eltern nun die Kühe auf der Weide neben seinem Haus waren oder die zwei Krähen auf dem Gartenzaun. Also beschloss Mr. Harper dann, lieber zwei zu sein, denn er wollte ja noch nicht sterben, wie man es mit neunundneunzig gewöhnlich tat. Irgendwann kam dann eine Frau vorbei, die wissen wollte, woher er käme und Mr. Harper erwiderte nur, dass er irgendwie nicht mehr wusste, warum der rote Saft eigentlich rot war und nicht gelb. Und die Frau hatte den Kopf geschüttelt und ihn dann stehen gelassen.
Heute, wo er fünfunddreißig war, war sich Mr. Harper sicher, herauszufinden, warum er nicht mehr wusste, wie er hieß. Vielleicht sollte er den alten Käse fragen, aber wenn der morgen eine alte Wurst wäre, könnte er natürlich auch heute schon böse sein und nur darauf vorbereitet, ihm eines auszuwischen. Aus diesem Grund beschloss Mr. Harper, selber nachzudenken und zog sich deswegen eine Mütze an, denn er wusste ganz genau, dass Mützen ihm helfen, die schlauen Gedanken im Kopf zu behalten. Aber Hüte sind nicht gut, denn Mr. Harper wollte nicht, dass sein Wissen zwischen seinem Kopf und dem Deckel des Hutes herumschwirrten. Also ging er zum zweiten Mal an diesem Tag an seiner Nachbarin vorbei, die zusammen mit dem alten Käse vor dem Auto stand und darauf wartete, dass Mr. Harper nun vorbeikam. Zumindest vermutete er das, denn Nachbarn sind eigentlich ganz friedliche Menschen, doch wenn sie böse gucken, musste das etwas mit ihm zu tun haben.
„Entschuldigung, wie heiße ich?“, fragte Mr. Harper freundlich lächelnd, bevor der alte Käse etwas sagen konnte. Mr. Harper beobachtete die Steinchen und war plötzlich wieder ganz stolz darauf, eine Mütze anzuhaben, denn die Steinchen hatten schließlich keine Mütze und waren deswegen zu dumm, um sich zu bewegen, da die ganzen schlauen Gedanken schließlich schon weggeflogen waren.
Vielleicht sollte er den Steinen seiner Nachbarin ganz viele kleine Hüte basteln, denn die Steine sollten ja nicht schlauer werden als er. Nur nicht mehr ganz so doof wie jetzt, damit wäre es schon getan. Nur woher sollte er denn die Gedanken nehmen, die eigentlich nicht mehr vorhanden waren?
„Mr. Harper, Ihren Namen haben Sie uns noch nie verraten“, sagte der alte Käse.
„Also heiße ich Mr. Harper?“
„So ist es. Aber Ihren Vornamen kennen wir nicht.“
„Ach so“, sagte Mr. Harper. „Dann bin ich eben ein Fridolin.“
„Schön, Mister Fridolin Harper, wir würden gerne wissen, warum Sie abends um unser Haus herumschleichen und unsere Pflanzen pflücken.“
Mr. Harper wusste das. Es hatte alles einen guten Zweck. Er wollte doch nur, dass es den Steinchen wirklich gut ging und nicht die Blumen die ganze Aufmerksamkeit der Nachbarn erlangten. Aber das konnte er seinen Nachbarn natürlich nicht sagen, also schwieg er einfach. Das hatte „Ball“ auch immer gemacht, wenn Mr. Harper mit ihm geschimpft hatte, weil er einfach weggelaufen war und erst mitten in der Nacht wiederkam – eine Maus im Maul.
Die Maus hatte Mr. Harper dann immer liebevoll in seinem Garten vergraben, doch er hatte dann immer ein schlechtes Gewissen gehabt, weil seine Katze dann so traurig guckte und er befürchtete, sie würde sich wie siebundachtzig fühlen, natürlich im Katzenalter. Und das war nicht gut.
Aber jetzt dachte Mr. Harper gar nicht mehr an seine Katze, denn er war glücklich, endlich wieder einen Namen zu haben. Also drehte er sich um und ging den Weg entlang, auf dem unendlich viele Steine lagen und Mr. Harper wunderte sich, warum der alte Käse und seine Frau sie nicht bei sich aufnahmen und zu Herbert setzten. Die beiden riefen ihm irgendetwas hinterher, aber Mr. Harper war viel zu beschäftigt, um darauf zu achten. Er sah lieber in den Himmel und fragte sich, was „Ball“ da oben wohl machte und ob er all diese unschuldigen Mäuse in Ruhe ließ. Denn wenn Mr. Harper eines Tages sich wie zweihundert fühlen würde, müsste er ja theoretisch auch sterben und würde dann zu seiner Katze kommen und könnte sie von bösen Taten abhalten, aber dann wiederum war er sich nicht sicher, ob es denn einen Himmel für Mr. Harpers und Katzen und Mäuse gab. Aber das würde er ja heute noch herausfinden, denn er hatte schließlich eine Mütze an. Die hatte zwar ein paar ganz kleine Löcher, aber so viel Wissen würde er dadurch auch nicht verlieren.
Und dann sah Mr. Harper die Bäume an und fragte sich, ob er darauf klettern könnte und ob er die Kraft dazu hätte und ob er da oben auch noch ein Buch lesen könnte. Aber Mr. Harper war sich dann doch sicher, dass das funktionieren würde, denn heute war er schließlich fünfunddreißig.
 



 
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