Müde

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joecec

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Müde


Sie hätte ihre Nägel mal wieder lackieren können. Wäre heute Samstag gewesen, hätte sie es sicher gemacht, gleich am Morgen, nach dem Frühstück mit ihm. Falls er sie gelassen, die Finger von ihr gelassen hätte.

Georgina saß vor ihrem Spiegel, kämmte sich ihre langen pechschwarzen Haare und lächelte sich zu. Der hellrote Lippenstift, den sie zusammen mit Ellie ausgesucht hatte, gefiel ihr noch besser als im Geschäft. Zusammen mit dem teils zu dick aufgetragenen Rouge wirkte er wie ein Jungbrunnen. Sie hätte ihm so gefallen, damals, als er sie noch angesehen hatte. Anders. Sie wusste nicht mehr, wie.

„Deine Titten waren auch schon mal besser in Form.“ Das hätte er sich sparen können. Sie hatte nicht einmal geheult, weil sie überhaupt nicht mehr heulte. Weinen machte sie sichtbar, Weinen machte sie hörbar, Weinen verriet ihm, dass sie da war und wo sie war. Unsichtbar sein, das hätte geholfen. Die meiste Zeit war sie es, für ihn.

„Du bist nicht das Problem, er ist es!“, hatte Ellie auf sie eingeredet, immer und immer wieder, bis sie es aus purer Erschöpfung eingesehen hatte. Ellie hatte ihr angeboten, sie könne bei ihnen einzuziehen.
„Wie soll das gehen? Ihr seid schon zu fünft!“
Ellie hatte auf alles eine Antwort, also lautete die unausweichliche: „Pack deine Sachen, wir bringen dich jetzt hier weg!“
Ihr erstes Frauenhaus war eine einschüchternde Festung mit einem verschlossenen Tor und einer Kamera, die sie begaffte, als wisse jeder im Inneren des Gebäudes, warum Georgina hier war. Und wahrscheinlich war das auch so.

Sie schlief in einem Doppelzimmer. Was die andere schrie, bevor sie sich in ihrem Bett herumwarf, konnte Georgina nicht verstehen. Wollte sie auch nicht. Jedes Knacken der hölzernen Fensterrahmen, jede Blechdose auf der Straße, jedes Wimmern aus dem Bett gegenüber raubten eine Stunde Schlaf oder mehr.

Georgina stand nicht auf der Warteliste und die letzte Nacht hatte sie aus purem Glück hier verbringen können. Sie stand mit ihrer großen Tasche an der Bushaltestelle, rief Ellie an und drückte sie weg, noch bevor die Verbindung zustande kam. Sie konnte ihr nicht immer auf die Nerven gehen, ihr und ihrem Mann und den Kindern. Sie sah auf die Uhr. Er würde bei der Arbeit sein, wenn sie nach Hause kam. Genug Zeit, sich etwas zu überlegen, sich vielleicht etwas einfallen zu lassen, weshalb sie die Nacht nicht bei ihm verbracht hatte.

Sein Auto war weg, sein Bett zerwühlt, im Wohnzimmer lagen Bierdosen und eine leere Flasche Korn. Sie räumte auf, lüftete und ging nach oben. Vor dem Schminkspiegel zog sie sich aus, betrachtete die blauen Zeugnisse ihrer Verfehlungen, die sie nicht abstellen konnte, weil sie einfach keine Regel darin erkennen konnte. Sie holte die kleine Dose aus der Schublade, sah sie an wie eine schöne Kindheitserinnerung und trug sie ins Bad.

Die Dose lag auf der Ecke der Badewanne, die sich langsam füllte und diesen wohlig duftenden Schaum gebar. Sie schloss die Tür, drehte den Schlüssel um und stieg in das dampfende Wasser. Das tat gut, jedes Mal. Sie hatte schon dreimal heißes Wasser nachlaufen lassen, bis sie zu der schwarzen Dose ihres Vaters griff. Sie lächelte, als sie die Haustür hörte.

Die Klingen waren in kleine Briefchen verpackt, für die man ruhige Finger brauchte. Sie war die Ruhe selbst. Auch, als er die Treppe hoch und gegen die Tür polterte. Er würde in den Keller gehen und sie würde schon lange schlafen, wenn er wiederkam, mit einem Hammer oder der Axt oder was auch immer. Sie war müde. Einfach nur müde.
 

joecec

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Laut Zentraler Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser fehlen in Deutschland, Stand 2017, über 4.000 Plätze in Frauenhäusern und die Betroffenen müssen wieder nach Hause geschickt werden. Die Familienministerin weiß das. So wie ihre Vorgänger*innen.
 



 
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