Mutationen

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moehrle

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Mutationen

I. Harald
Alles begann zu einer Zeit als Harald Kresch noch nicht in der ganzen Stadt als Dirty Harry bekannt war.
Einer Zeit in der er, nach gerade überstandener Pupertät anfing, das echte Leben kennenzulernen, dass, wie er glaubte, seine Mutter so lange versucht hatte vor ihm zu verbergen.
Dieses „echte Leben“ offenbarte sich in täglicher Arbeit.
Harald war nie ein guter Schüler gewesen.
Im Schriftlichen schon, doch seine mündliche Mitarbeit und sein Interesse am Lernstoff waren eine einzige Katastrophe gewesen.
Schließlich, als er den Hauptschulabschluss mit siebzehneinhalb endlich gepackt hatte, brachte ihn seine Mutter in dem Elektrogeschäft eines Bekannten unter.
Bei seinem mangelndem handwerklichen Geschick sollte er doch eine ordentliche, kaufmännische Lehre antreten, hatte seine Mutter zu ihm gesagt.
Haralds bescheidener Meinung nach übersah die gute Frau dabei jedoch, dass er über ebenso wenig Talent im kaufmännischen Bereich verfügte.
Leider war Harald weder mit fünf, noch mit fast achtzehn Jahren auch nur annährend in der Lage gewesen, seiner Mutter die Meinung zu sagen, und so trat er nach der Schule seine Lehre im Elekrobedarf­Porsch an.

In seiner Arbeit fand Harald nichts von dem echten Leben, das er sich erhofft hatte, dennoch schleppte er sich jeden Tag hin und wenn er dort war, dehnten sich die Stunden wie Gummi.
Er erwartete nicht viel vom Leben.
Er arbeitete, ging nach Hause, aß, holte sich einen runter, schlief und ging wieder zur Arbeit. Dieser feste Rhythmus, den er schon während seiner qualvollen Schulzeit eingeführt hatte, wurde kaum durch etwas Anderes unterbrochen.
Harald hatte keine Freunde, keinerlei Hobbys und schon gar keine Freundin. Alles was er in dieser Beziehung zu bieten hatte waren ein paar alte Herrenmagazine, die er schamvoll hinter einer Wandverkleidung in seinem Zimmer versteckt hielt, wo sie vor den neugierigen Augen seiner fürsorglichen Mutter sicher waren.
Irgendwann jedoch erwachte in ihm die Sexualität und plötzlich hatte er die Nase voll von den ewig gleichen Gesichtern, die ihn dröge-lüstern aus den zerknitterten Seiten heraus anstarrten und warf seine gesamte Magazinsammlung in einer Nacht-und-Nebelaktion in einen Müllcontainer am Stadtrand.
Ein paar Wochen zuvor hatten seine Träume begonnen.
Sie waren so anders als alle anderen Träume zuvor. Die Dinge die er vorher nur sah, berührte er nun in seinen Träumen und diese Berührungen verfolgten ihn bis in den Wachzustand.
Wenn er auch niemals zuvor eine Frau berührt hatte, zumindest nicht so, wurde er auf der Stelle süchtig nach diesem warmen Gefühl und er beschloss, das es ihm nicht mehr genügen würde, beim Anblick unbeweglicher Frauen einen kalten Orgasmus zu bekommen.
Er sehnte sich nach Wärme.
Harald war nicht ganz so weltfremd wie seine Mutter dachte und hoffte. Er glaubte zu wissen, wo er sich Wärme beschaffen konnte.
Er hatte gehört, dass in der Innenstadt eine sogenannte „sündige Meile“ existierte und als er seine heißen Träume bald nicht mehr ertrug fasste er allen Mut zusammen und beschloss mit dem Bus dorthin zu gelangen.

Als Harald an einem Samstag, während seine Mutter unterwegs war, schließlich im Bus Richtung Innenstadt saß, plagten ihn Zweifel. Drohend hing die schützende Hand seiner Mutter über ihm. Schon mit dem Bus in die Stadt zu fahren, ganz allein, stellte für ihn ein großes Wagnis dar. Zu übermächtig war seine Angst vor dem Unbekannten.
Er schwitzte und sah sich nervös um, kam sich vor als würde er von allen anderen Passagieren beobachtet werden, als wüssten sie, was er vorhatte.
Dann stieg er aus. Irgendwo. Er kannte sich wenig bis überhaupt nicht aus in der Stadt, deshalb hatte er nicht die geringste Ahnung wo er anfangen sollte zu suchen.
Alles was er hatte war die ungefähre Wegbeschreibung, die er während seiner Schulzeit aufgeschnappt hatte.
Nachdem er über eine Stunde herumgeirrt war, erreichte er endlich den Platz, von dem er so viel gehört hatte.
Bezeichnenderweise trug dieser Platz den Namen Platz der Freiheit.
Alles sah so anders aus, als er es sich vorgestellt hatte.
In seiner Vorstellung war es ein düsterer Fleck gewesen, umgeben von schäbigen Motels und den Neonschildern der Sexshops, wo die Männer die Kragen ihrer Jacken hochstellten um nicht erkannt zu werden.
Die Tatsache, dass dieser Platz aussah, wie fast alle anderen öffentlichen Plätze die er kannte, beruhigte ihn nicht wirklich. Staunend sah er sich um, ein großer, fetter Junge mit unreiner Haut und einem braven Haarschnitt.
Der Platz war klein und grün, umgeben von ein paar Geschäften, Wohnhäusern und zwei oder drei Hotels. Zaghaft betrat er ihn und blickte sich verstohlen nach den Prostituierten um, erblickte jedoch nur die üblichen Passanten.
Der Schweiß hatte große, nasse Flächen unter seinen Achseln gebildet, in denen er zu ertrinken drohte.

Resigniert saß Harald auf einer der Bänke am Rande des Platzes, starrte auf seine Schuhe und verfluchte sein Leben.
Um ihn herum wurde es langsam dunkel und für ihn wurde es Zeit wieder nach Hause zu fahren.
Da sprach ihn eine Stimme wie Honig von der Seite an. Erschrocken fuhr sein gerröteter Kopf nach oben und erblickte das Gesicht eines jungen Mädchens. Etwa sein Alter, eher jünger und sehr hübsch.
„Wartest du auf jemanden ?“, fragte die Honigstimme.
Harald wollte nicht antworten. Aus seinen matschig-braunen Augen starrte er sie an, und ihm war klar, dass alles was er sagen könnte im Vergleich zu ihr wie altes, zähflüssiges Öl klingen würde.
So schwieg er und sie redete weiter.
„Wartest du auf einen Freund ? Oder ein Freundin ?“
Sie zwinkerte ihm zu und strich sich eine Locke ihres langen, braunen Haares zurück, die sich aus ihrem Pferdeschwanz befreit hatte.
In seiner Ekstase bemerkte Harald nicht ihre abgekauten Fingernägel, ihr verfilztes Haar und die Narben an ihren Unterarmen.
Er verlor sich in ihren grün-braunen Augen und in der Gewissheit, dass ihr Zwinkern allein ihm gegolten hatte.
„Nein, ich hänge nur ein bißchen rum.“, versuchte Harald cool zu antworten, doch jegliche Coolness blieb auf der Strecke, als mitten im Satz sein Stimmbruch zurückzukehren drohte.
Das Mädchen strahlte ihn an und im Nachhinein betrachtet war dies der Punkt an dem Haralds Herz auszog zu einer Odysee mit nicht garantierter Wiederkehr.
Als er gerade dabei war, jede Note ihres Körpers zu einer Komposition in seinem Kopf zusammen zu fügen, fragte sie ihn:
„Möchtest du mit mir mitkommen ?“
Er dachte nicht über diese Frage nach. In diesem Moment wäre er ihr überall hin gefolgt. Es hatte so unschuldig geklungen.
Sie nahm seine Hand und zog ihn nach oben.
Sein bewusstes Denken setzte aus, als er ihr quer über den Platz folgte. Ihrer Wärme folgte.
Unterwegs erklärte sie ihm ihre Geschäftsbedingungen und Harald nickte sie nur eifrig ab, ohne sie richtig zu verstehen.
Als sie vor dem Motel standen, konnte Harald sich nicht mehr daran erinnern gelaufen zu sein. Er war sich nur der Wärme neben sich bewusst und der Tatsache, dass er mit diesem wundervollen Wesen schlafen würde...

II. Homo Amantus
Zwei Wochen später waren an Harald deutliche Veränderungen zu bemerken. Er war verschlossen und wortkarg geworden.
Seiner Mutter war dies ein Rätsel. Sie versuchte ihn noch fürsorglicher zu umsorgen, als sie es sonst tat, doch schüttete damit nur noch Öl in einen Vulkan der auszubrechen drohte.
Wenn Harald von der Arbeit nach Hause kam, verschwand er in seinem Zimmer, verschloß die Tür und ließ sich den ganzen Tag nicht mehr blicken. Das Harald fast nichts mehr aß, war schlimm für seine fettleibige Mutter, doch das Schlimmste war, das ihr einziges Kind nicht mehr mit ihr redete. Sie musste ihm jedes Wort aus der Nase ziehen.
Als Harald an diesem Tag nach Hause kam, hatte die Familienkrise ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht.
Er schloß die Haustür auf und knallte sie hinter sich wieder zu.
Seine Mutter erhob sich stöhnend aus ihrem Fernsehsessel, der unter ihrem imensen Gewicht quitschte und schleppte sich in den Flur um ihren Sohn zu begrüßen. Der stapfte tonlos an ihr vorbei, direkt in sein Zimmer.
Frau Kresch stand alleingelassen da, zwischen den Räumen, den starren Blick Haralds, der ihr Angst eingejagd hatte, immer noch vor Augen. Sie fing an zu weinen.
Sie weinte nicht laut, sondern schluchzte in ihren mächtigen Körper hinein, damit Harald sie nicht hören konnte.

Harald stand vor seinem Zimmerfenster, in der Ferne konnte er die Siluette der Stadt im Glanz der untergehenden Sonne sehen und dabei war er selbst mitten im Untergang. Keine seiner alten Wertvorstellungen –oder besser, die seiner Mutter-, hatte die letzten zwei Wochen überdauert, doch dessen war er sich nicht wirklich bewusst.
Sein Körper war immer noch vollgepummt mit Adrenalin. Seit ein paar Stunden fühlte er sich wie in Watte gebettet.
Am Nachmittag hatte es auf der Arbeit einen Vorfall gegeben:
Bis dahin hatte Harald geistlos seine Arbeit verrichtet und war in Gedanken bei IHR und in IHR.
Seit diesem Tag vor zwei Wochen wollte er gar nicht mehr woanders sein.
Sein Chef hatte ihn aus seinen Tagträumen gerissen und Harald war ohne Vorwarnung explodiert.
Die Kontrolle über Geist und Körper waren hinter einer Wolke purer Zerstörungswut verschwunden und als er sich Minuten später auf dem Bürgersteig vor dem Geschäft wiedergefunden hatte, konnte er sich nur noch bruchstückhaft daran erinnern, dass er unter anderem die teure Glasvitrine in Stücke gehauen und Herr Porsch mit Aktenordnern beworfen hatte.
Er hatte nicht vor seiner Mutter beizubringen was vorgefallen war.

Am nächsten Morgen führte ihn sein Weg nicht zum Elektrobedarf-Porsch, wo er ohnehin nicht mehr erwartet wurde, geschweige denn erwünscht war, sondern zur Bushaltestelle.
Harald fuhr wieder in die Innenstadt.
Als er im Bus saß kam es ihm vor, als wären sämtliche Heizungen voll aufgedreht, und das im Spätsommer.
Schweiß lief ihm in feinen Rinnsälen die Stirn herunter.
Harald war froh, als er endlich aussteigen konnte und diesmal brauchte er noch keine Viertelstunde um zum Platz der Freiheit zu gelangen, auf dem wieder reger Menschenverkehr herrschte.
Er wusste SIE würde da sein.
Er vermisste und fürchtete SIE gleichzeitig, denn er hatte keine Vorstellung davon, wie ihr Wiedersehen aussehen würde.
In seiner Phantasie war er so viele Variationen durchgegangen, dass er nun völlig unsicher war.
Er fragte sich ängstlich, ob SIE ihn, nach zwei Wochen, überhaupt wiedererkennen würde und war sich nicht sicher, ob er die Antwort darauf wissen wollte.
Das Mädchen hatte sich in seinen Verstand und sein Herz eingeschlichen und ohne zu wissen, wie er es bewerkstelligen sollte wusste Harald auf eine naive Art, dass sie zu ihm gehörte und das er sie rausholen musste aus diesem Milleu.
Schließlich setzte er sich auf die Bank, auf der er gesessen hatte, als er IHR das erste Mal begegnet war. Erinnerungen schossen in ihm hoch, in dem Moment, als sein breiter Hintern die Sitzfläche berührte.
Er sah SIE vor seinem inneren Auge, ihre Augen, ihre vollen Lippen, er roch SIE, hörte ihre Honigstimme in seine Ohren flüstern und blieb völlig verstört zurück als diese Vision wieder verschwand.
Aus leeren Augen schweifte sein Blick über den Platz, doch SIE war nicht da. Harald kam zu dem Entschluss, dass es noch zu früh war und so wartete er fast regungslos, ohne einen einzigen klaren Gedanken zu formulieren, bis zum Nachmittag.
Dann erst brachten die Schmerzen in Hintern und Rücken ihn dazu sich zu erheben und auf die Uhr zu sehen.
Sein Magen knurrte wie eine wilde Bestie, doch Harald hatte in den letzten beiden Wochen gelernt mit diesem Gefühl im Bauch umzugehen.
Er beachtete das Grollen überhaupt nicht.
Seine Mutter wartete daheim mit dem Essen auf ihn und machte sich wahrscheinlich bereits Sorgen, das wusste er und es war ihm egal.
Die Liebe und das Verantwortungsgefühl ihr gegenüber hatte sich innerhalb kürzester in Wut und Gleichgültigkeit gewandelt.
Harald würde heute nicht nach Hause gehen, bevor er SIE gesehen hatte und er verspürte keine große Lust dazu überhaupt nach Hause zu gehen.
Immer mehr sah er in seiner Mutter, und das war nicht schwer, ein gewaltiges Gewicht, dass ihn nach unten zu ziehen drohte.
Er setzte sich wieder.
Harald sah an sich herab und verfluchte seine Mutter erneut.
In den Klamotten, die sie für ihn gekauft hatte, kam er sich vor, wie ein zu großes Kind.
In diesem Moment begriff Harald, dass das, was er selbst kaum verstand, seine Mutter niemals verstehen würde und fühlte sich damit ein bißchen erwachsener.

Als es schließlich Abend wurde und die Dämmerung einsetzte, war es damit vorbei. Düstere Gestalten schlichen über den schlecht beleuchteten Platz und einige von ihnen sahen Harald an, als wäre er eine leichte Beute. Obwohl starker Wind aufkam und er fror, da er nur ein T-Shirt trug, schwitzte er stark unter den Armen.
Ihm kam der Gedanke, dass diese Typen seinen Angstschweiß riechen könnten und dieser Gedanke brachte ihn nur noch mehr ins Schwitzen.
Er fühlte sich wieder wie ein Kind und ein Teil von ihm wollte wieder zu seiner Mutter.
Dann betrat SIE den Platz.
Zwischen zwei schwach leuchtenden Laternen kam das Mädchen, dass sich ihm als Nina vorgestellt hatte, aus einer Seitengasse auf die Mitte des Platzes zugeschlendert. Für Harald wurde der Platz mit einem Mal heller und erstrahlte in einem goldenem Glanz, der alle Ängste wegspülte und seine Seele wärmte.
Einem inneren Impuls folgend wollte er aufspringen und auf SIE zulaufen, SIE umarmen und nie wieder loslassen.
Er hatte das Gefühl, das sie die einzige Medizin für seine schwere Krankheit war.
Für einen Moment dachte er, SIE käme direkt auf ihn zu, doch das tat sie nicht.
Er riss allen Mut zusammen, den die Erziehung seiner Mutter ihm noch gelassen hatte und stand langsam auf. Blut schoss in seinen Kopf und zauberte Sternchen in seine Augen.
Dann wankte er los, mit babyweichen Schritten.
Nina hatte sich mittlerweile auf eine Bank auf der anderen Seite des Platzes gesetzt. Sie wühlte in ihrem Armeerucksack und kramte eine Schachtel Luckys hervor.
Sie steckte sich eine an, stützte den Kopf auf die Hände und starrte verträumt vor sich hin ins Halbdunkel.
Harald fühlte sich wie in einer Achterbahn. Eine unbändige Kraft schob ihn auf sein Ziel vor. Er wollte aussteigen, doch die Befehlskraft über seinen Körper war ihm entzogen.
Plötzlich stand er vor IHR und ihm kam alles viel zu schnell vor.
Sie bemerkte ihn und hob den Kopf.
Sie sah müde aus und hatte dunkle Ringe unter ihren großen, geröteten Augen.
Harald stand da, schwankend vor Nervosität, unfähig etwas zu sagen.
Ihr Blick war fragend.
Wie sie ihn so ansah und darauf wartete, dass er etwas sagte, wurde ihm klar, dass sie nach zwei Wochen keine Ahnung mehr hatte, wer er war.
„Suchst du jemanden ?“
Ihre Stimme stach tief in seine Brust und teilte sein Herz.
Er musste sich zwingen zu antworten.
„Ich habe dich gesucht, Nina.“, brachte er schließlich hervor und Ninas ungläubig erhobene Augenbraue ließ ihn fast erschaudern.
„Du kamst mir direkt so bekannt vor.“, strahlte Nina auf einmal und es war offensichtlich das sie log.
„Möchtest du mitkommen ?“
Harald wollte, aber er konnte nicht, er hatte nur noch genug Geld bei sich um den Bus zurück zu bezahlen und wusste sowieso nicht, ob er ihre bezahlten Berührungen ertragen könnte.
„Ja, schon.“, druckste Harald herum.
„Aber ?“, fragte Nina ihn fordernd und sah Harald von unten aus ihren braun-grünen Augen an, dass es ihm am ganzen Körper zitterte.
Ihre aufgesprungenen Lippen lächelten und sie stand auf.
„Aber... Ich habe kein Geld dabei, ich wollte nur...“
Ninas Gesicht verfinsterte sich, der Glanz aus ihren Augen verschwand, jegliches Interesse an Harald schien verflogen.
„...nach deiner Telefonnummer fragen.“
Nina lachte laut auf. Sie lachte Harald aus und nichts mehr an ihrem Gesicht war niedlich oder sympathisch.
Abwehrend hob sie ihre Hand, schulterte ihren Rucksack, drehte sich um und ging.
„Du kannst wiederkommen, wenn deine Mama dir Taschengeld gegeben hat.“, rief sie ihm zu, ohne sich umzudrehen und ließ den völlig verstörten Harald zurück.
An diesem Abend verließ Harald den Platz nicht mehr.
Er schlief auf eben jener Bank, auf der er den halben Tag verbracht hatte und hatte keine Angst mehr davor ausgeraubt zu werden.

III. Evolution
Die Nacht, die er auf der Bank verbracht hatte, war der Moment, an dem sich die Welle brach, die Harald ins echte Leben spülte.
Er war am nächsten Morgen noch ein einziges Mal nach Hause gegangen, wo ihn seine Mutter völlig außer sich empfing.
Er emfand nur noch Verachtung für sie.
Während er seine Sachen gepackt hatte, war sie heulend um ihn herum getänzelt, doch er hatte sie nicht beachtet.
Mit seiner alten Schultasche bepackt und mit seinem Sparkonto und ein wenig Bargeld in der Tasche hatte er das Haus und seine in Tränen aufgelöste, alleinerziehende Mutter verlassen. Er war mit dem Bus zurück in die Stadt gefahren, wo er sich ein Zimmer im billigsten Motel nahm.
Die ersten Tage dort verbrachte er vorwiegend im Bett, starrte die Zimmerdecke an und dachte über sich selbst nach, in einer Form wie er es nie zuvor getan hatte.

IV. Dirty Harry
Derselbe Harald, der früher Schweißausbrüche bekam, wenn er nur alleine mit dem Bus fahren musste, stand jetzt, über anderthalb Jahre später, in der Schlange vor der Kasse eines Fotogeschäftes.
Vor ihm hantierte ein alter Mann mit Kleingeld aus seiner Brieftasche. Harald sah genervt aus.
Der alte Mann zählte die Münzen mit großer Sorgfalt und zählte dabei laut.
„Ich hab es eilig.“, sagte Harald mit fester Stimme und schubste den Mann vor sich zur Seite.
Das Geld fiel auf den Boden.
„Junger Mann“, sagte der Verkäufer streng, sein Gesicht jedoch war voller Angst.
„Sie können doch nicht...“
Harald konnte und schnitt ihm das Wort ab.
„Halt dein Maul und gib mir drei Filme und zwar schnell. Von denen da !“
Der Verkäufer, selber ein alter, grauhaariger Mann, wollte ihn schon schon drängen zu gehen und damit drohen, dass er die Polizei ruft, doch Haralds eiskalter Blick ließ ihn gehorchen.
Zitternd kramte er die Filme heraus und legte sie auf die Theke.
Vor lauter Aufregung vergaß er zu kassieren und Harald ging wortlos nach draußen.
Nicht nur Haralds Verhalten hatte sich in dieser Zeit komplett geändert, auch sein Äußeres hatte sich so sehr verändert, dass ihn wahrscheinlich nicht einmal seine Mutter wiedererkannt hätte.
Er hatte sich seine Haare abrasiert und mindestens fünfzehn Kilo abgenommen, obwohl er sich zusätzlich Muskelmasse antrainiert hatte.
Jedes Kleidungsstück, dass er früher besessen hatte und das seine Mutter ihm gekauft hatte, hatte er entweder daheim gelassen, oder mittlerweile weggeworfen.
Er hatte sich entschieden nur noch schwarz zu tragen.
Das war ihm auch in seinem neuen Job behilflich, er war als Rausschmeißer in einem Strip-Club engagiert worden.
Harald, der sich während seiner gesamten Kindheit niemals geprügelt hatte, war sehr zufrieden mit seiner Arbeit und hatte sich innerhalb kürzester Zeit zurecht einen Ruf angeeignet, der ihm den Namen Dirty Harry eingebracht hatte.
Auf diesen Namen war er in gewisser Weise stolz.
Doch im Moment hatte es Dirty Harry eilig.
Außer Atem erreichte er den Platz der Freiheit und hoffte, dass er nicht zu spät dran war.
Er setzte sich auf dieselbe Bank, auf der er vor scheinbar unendlichen Zeiten seine befreiende Nacht verbracht hatte und zog einen Fotoapperat aus seiner Lederjacke.
Er öffnete sie und legte sorgfältig einen neuen Film ein.
Sein schwarzes Herz machte einen Sprung, als er sah, dass SIE gerade den Platz betrat.
Harry stand langsam auf und drehte sich um.
Mit unruhigem Blick bewegte er sich auf eine große Hecke zu, hinter der sie ihn nicht sehen konnte.
Als er dort ankam, sah er sich um, fühlte sich unbeobachtet und verschwand im Inneren des Gebüsches.
SIE hatte jemanden bei sich, einen Mann, der locker ihr Vater, wenn nicht ihr Großvater hätte sein können.
Harry nahm seine Kamera und zoomte näher heran.
Er musste hart schlucken, denn Nina sah fröhlich aus.
Der Mann hatte seinen Arm um sie geschlungen und schien ihr etwas zu erzählen. Aus ihren großen Augen blickte sie interessiert zu ihm auf, warf dann den Kopf in den Nacken und lachte.
In Harry brodelte dumpfe, hilflose Wut.
Die Beiden blieben stehen, umarmten sich kurz und der ältere Herr verließ den Platz.
Nina blieb zurück, sah ihm hinterher und zündete sich eine Zigarrette an.
Sie hatte sich kaum verändert, wenn überhaupt, war sie noch hübscher geworden.
Jetzt erst drückte Harry den Auslöseknopf seiner Kamera.
Ein schönes Foto, dachte Harry, denn es war eines der wenigen, auf denen SIE lächelte.
Es würde einen besonderen Platz in einem seiner Fotoalben bekommen, in denen er die Bilder von Nina aufbewahrte.
Vielleicht würde er sich das Bild auch an seine Wand hängen, oder es als Poster entwickeln lassen.
Harry beobachtete Nina noch eine ganze Weile, schoss noch ein paar weniger gelungene Fotos von ihr und verließ den Platz erst, als auch sie ihn verließ.
Für ihn wurde es Zeit, sich für die Arbeit umzuziehen.

Durch seinen Job im Night-Life, so hieß der Club in dem er nun arbeitete, und die Tatsache, daß er einen großen Teil seiner freien Zeit auf dem Platz der Freiheit verbrachte, verstand er mittlerweile mehr vom Milleu als ihm lieb war.
Er wusste genau welches Mädchen zu welchem Zuhälter gehörte und er wusste ebenso für wen diese Zuhälter arbeiteten.
So wusste er auch für wen Nina arbeitete.
Bei den Mädchen war Harry sehr beliebt, denn er kannte keinerlei Rücksicht bei Kunden, die zu aufdringlich wurden und auch seine Kollegen, wenn man sie denn so nennen konnte, respektierten ihn.
Mit dem Besitzer des Clubs verband Harry gar fast so etwas wie Freundschaft, seit dem Tag als er ihn um einen Job angebettelt hatte.
Auf dessen Frage warum er diesen Job unbedingt wollte, hatte Harry ihm geantwortet, er hätte Spaß daran Arschlöchern die Fresse einzuschlagen, doch das war natürlich nicht einmal die halbe Wahrheit.
Sein Boss hieß Tom und war ein alter Nazi, doch das war Harry egal.
Er stand sozusagen unter seinem privaten Schutz und da Tom auf dem Platz und in den windigen Straßen um ihn herum das Sagen hatte, wagte es selten jemand ihm blöd zu kommen.

Harry stand wie jeden Abend vor dem Eingang des Night Lifes und starrte mit bösem Blick auf die Straße vor sich. Die kalte Waffe an seiner Seite fühlte sich gut an.
Es gab nur selten etwas zu tun und wenn er mal jemanden aufmischen musste, dann war derjenige ohnehin schon zu besoffen um sich entsprechend zu wehren.
Im nüchternen Zustand hätte es kaum jemand gewagt sich in Toms Club wie eine Sau aufzuführen, denn jeder wusste, dass Tom mit eiserner und Schlagringen bewehrter Hand regierte.
So hatte Harry viel Zeit zu beobachten und er achtete auf jede Einzelheit. Seit er von daheim weg war fühlte er sich irgendwie intelligenter. Er hatte die Leute verstanden die sich in dieser Sub-Kultur bewegten und war sich sicher sie nach seinem Willen manipulieren zu können.
Eine kleine Gruppe bewegte sich auf ihn zu. Zwei ältere Herren mit zwei jungen Mädchen an ihrer Seite. Geschäftsleute, wie Harry auf den ersten Blick feststellte. Von ihnen ging keinerlei Gefahr aus. Harry konnte die Menschen mittlerweile sehr gut einschätzen.
Die beiden Mädchen kannte er flüchtig.
Als er sie einließ zwinkerte ihm eines der Mädchen zu und Harald lächelte geschmeichelt zurück. Seit er hier arbeitete hatte er mehr Chancen bei Frauen, als er sich je zu erhoffen gewagt hatte, aber all diese Mädchen hatten keine Chancen bei ihm. Sie konnten dem Vergleich mit IHR einfach nicht standhalten.
Vielleicht, so glaubte Harry manchmal, war es seine Unnahbarkeit die sie so anziehend fanden.
Er blickte ihnen hinterher, während sie im Inneren des Clubs verschwanden und als er sich wieder umdrehte sah er die Ratte die Straße hochkommen.
Die Ratte oder auch Rattenmann genannt war einer der Luden, die unter Tom arbeiteten und er kam fast jeden Abend vorbei, um etwas zu trinken, bevor oder nachdem er seine Runde machte und das Geld von seinen Mädchen einsammelte. Er war ein schmieriger, kleiner Typ und in seinem Gesicht regierte stets ein unechtes, dreckiges Grinsen.
Als er Harry sah wurde sein Grinsen noch breiter und dreckiger.
Harry zwang sich zurückzugrinsen, doch im Inneren kochte er.
Der Rattenmann war Ninas Zuhälter und jedesmal wenn Harry ihn sah hegte er den Wunsch ihm sein dümmliches Grinsen für immer auszutreiben. Aber trotz seines jämmerlichen Aussehens war der Rattenmann hochgefährlich und cleverer als man auf den ersten Blick vermutete.
Zudem war er ebenfalls ein Liebling von Tom, was die Sache unnötig verkomplizierte.
„Ah, Dirty Harry, mein Mann.“, sagte er und klopfte ihm auf die Schulter.
Harry nickte freundlich zurück, sagte aber nichts.
„Wie läuft das Geschäft, mein Junge ?“
„Ziemlich ruhig und was machen deine Mädchen ?“, fragte Harald und in seinen Gedanken sah er Nina. Fast hätte er nach seiner Waffe gegriffen.
„Ach, du kennst je diese Schlampen, versuchen ständig den Rattenmann abzuziehen. Er lässt sich so eine Scheiße aber nicht gefallen.“
Harry nickte, als verstünde er und als die Ratte im Club verschwand, sah er ihm hinterher und wünschte sich ihm einfach von hinten eine Kugel in den Kopf jagen zu können, das war jedoch unmöglich.
Er hasste Leute, die von sich in der dritten Person sprachen, erst recht wenn sie sich selbst Rattenmann nannten, aber er hatte Pläne diesem Hass Ausdruck zu verleihen.
In den nächsten Stunden gab es für Harald fast nichts zu tun, er stand steif an seinem Platz, ohne sich zu bewegen und hatte Zeit den Hass in seinem Kopf neu zu ordnen.

Etwas riss ihn aus seiner Lethargie.
SIE überquerte die Straße und kam auf das Night Life zugelaufen und sah aus als hätte sie es sehr eilig.
Für einen Moment setzte Harrys Denken aus, er wusste nicht was er sagen würde, wenn sie vor ihm stand.
Sein ganzer Körper fing an zu zittern.
In der gesamten Zeit, in der er hier arbeitete hatte er sie zweimal flüchtig hier gesehen und beide Male hatte sie ihn nicht einmal beachtet.
Jetzt stand Nina direkt vor ihm und für einen Moment schoss ihm der absurde Gedanke durch den Kopf, dass SIE in ihm den dicken, schwerfälligen Jungen erkannte, der er einmal war.
„Ist Mark da drin ?“, fragte sie ihn mit wütender und unendlich müder Stimme.
Er starrte in ihre Augen und fühlte sich in der Zeit zurückversetzt.
Er erkannte jede Nuance der Farben in ihren Augen und war überzeugt sie enthielten mehr Farben als ein Regenbogen.
Endlich zwang sich Harry dazu ihr zu antworten.
„Welcher Mark ?“
Seine Stimme klang wieder wie jene, die er sich mühsam abtrainiert hatte.
„Du weißt schon, der Rattenmann.“
Nina lachte verächtlich.
„Ja, er ist...“
Noch bevor er den Satz beenden konnte, betrat Nina das Innere des Night Life und Harry konnte ihrer zierlichen Figur nur noch sehnsüchtig hinterhersehen.
Seine Knie wurden weich und fast wäre er auf dem Bürgersteig zusammengebrochen.
Kurz nachdem Nina hineingegangen war hörte Harry von Innen Geräusche, mit denen er mittlerweile vertraut war.
Es waren Geräusche, die Ärger ankündigten.
Er stürmte hinein.
Das Night Life war nicht besonders groß, der untere Teil bestand nur aus einer langen Theke, einigen Tischen und der Tanzfläche für die Stripperinnen. In der hinteren Ecke war die Treppe, die nach oben zu den Zimmern der Mädchen führte.
Nina stritt sich mit Mark, dem Rattenmann.
Einige der anderen Gäste hatten sich um die Beiden versammelt.
Es ging um Geld.
„Du kannst nicht einfach in mein Zimmer marschieren, wenn ich nicht da bin und meinen ganzen Tageslohn mitnehmen, du blödes Arschloch.“, schrie Nina ihn an.
Der Rattenmann saß immer noch an seinem Tisch und lachte betrunken.
Er trank sein Glas leer, erhob sich und boxte Nina ansatzlos mit der Faust ins Gesicht.
Auf einen Moment wie diesen hatte Harry gewartet.
Wütend schnaubend stapfte er zur Theke, schnappte sich ein Glas und rannte auf die Ratte zu.
Brüllend holte er aus und schlug ihm das halbvolle Bierglas gegen die Schläfe. Die Ratte ging mit einem verdutzten Gesichtsausdruck zu Boden. Während er nach unten glitt schlug Harry noch einmal zu und als sein Gegner blutend auf dem Bauch lag bearbeitete er ihn mit wilden Tritten. Erst als er in seine Jacke griff, um seine Waffe zu ziehen, konnte er von Maikel dem anderen Türsteher und einem der Gäste festgehalten und entwaffnet werden.
Nina saß mit blutender Nase auf dem Boden und sah Harry fassungslos an. IHR Anblick erweckte in Harry neue Wutreserven.
Er riss sich los und stürzte sich erneut auf die Ratte, rollte ihn auf den Rücken und schlug wie besessen auf seinen Kopf ein. Der Rattenmann hatte mittlerweile das Bewusstsein verloren.
Sein Gesicht hatte nun nichts mehr rattenhaftes an sich.
Tom, der Besitzer des Clubs, kam aufgeregt die Treppe heruntergestürmt.
„Was läuft hier für eine Scheiße ?!“, schrie er und alle im Saal verstummten.
Er trug nur eine Boxershort und ein T-Shirt mit der Aufschrift White Trash.
Entsetzt starrte er auf die Szene vor sich. Sein Blick wanderte vom bewusstlosen Rattenmann zu Harry und wieder zurück.
Er konnte nicht glauben was er sah.
Dann bemerkte er Nina, die sich gerade aufrichtete und er glaubte zu verstehen.
„Was ist hier passiert ?“, fragte er.
Mikel, der Rausschmeißer, erklärte es ihm in knappen Sätzen.
Vergeblich versuchte Tom den Rattenmann wieder wach zu bekommen.
„Ruft verdammt noch mal einen Krankenwagen !“, schrie er sichtlich angespannt.
Harry stand mit gesenkem Kopf daneben und bemerkte nicht den bewundernden Blick, mit dem Nina ihn ansah.
Tom stand auf und packte Harry am Kragen.
„Wenn er wieder wach ist, wird er dich umbringen wollen und ich habe keine Lust ihn davon abzuhalten. Es ist mir scheißegal warum das hier passiert ist, aber lass dich hier besser nie wieder sehen.“
Mit diesen Worten schubste er Harry von sich.
Harry machte das er rauskam. Er hatte eines von Toms Gesetzen gebrochen und wusste was das hieß. Er war hier nun nicht mehr länger erwünscht.
Die anderen Gäste sahen ihm auf seinem Weg nach draußen hinterher.
Nun wandte Tom sich Nina zu.
„Und du kannst dich ebenfalls verpissen. Mit dir hat man nichts als Ärger, du dumme Schlampe.“
Er gab ihr eine saftige Ohrfeige.
Tom drehte sich um.
„Was glotzt ihr so ? Bringt einen Lappen und etwas Wasser und ruft gottverdammtnochmal einen Krankenwagen.“

Harry trottete mit gesenktem Kopf die Straße entlang.
Er war auf dem Weg zu seiner Wohnung, wusste aber, dass er dort nicht mehr lange bleiben konnte. Wenn man sich hier etwas zu Schulden kommen ließ war man vogelfrei.
Er hatte keine Ahnung wo er nun hin sollte.
Sicher, er konnte zu seiner Mutter zurück, aber das brachte er nicht fertig. Außerdem war diese Stadt zu klein, wenn ein Typ wie der Rattenmann einen auf den Index gesetzt hatte. Er erkannte, dass er weg musste aus dieser Stadt, weg von IHR.
Das brach ihm das Herz.
„Hey !“, rief eine Stimme hinter ihm und er erkannte SIE sofort.
Es war die Honigstimme die ihn in seinen Träumen verfolgte.
„Bleib mal stehen.“
Er blieb stehen und in seiner Brust hämmerte es unbarmherzig.
SIE kam auf ihn zugelaufen.
Für einen Moment dachte er, dass der Wahnsinn, der die letzten Monate an ihm genagt hatte, nun entgültig die Kontrolle über ihn gewonnen hatte, aber es war wirklich Nina.
Sie stand vor ihm und sah ihn lächelnd an. Für einen Moment wussten beide nicht was sie sagen sollten und Harry musste dem Drang widerstehen, sie zu umarmen.
„Danke.“, sagte sie schließlich und in ihrem Blick war etwas, dass Harry nicht genau identifizieren konnte, aber es zauberte eine angenehme Gänsehaut auf seine Arme.
Lange sagte er nichts, sondern sah sie nur an und wurde sich langsam der Situation bewusst.
„Du brauchst dich nicht zu bedanken, ich habe nur meine Arbeit gemacht.“
Sie schüttelte ihren Kopf.
„Nein und das weißt du auch. Ich weiß nicht wieso, aber du hast es für mich getan.“
Er bemerkte, dass sie ein Weinen unterdrückte.
Sie umarmte ihn und es war wie in Haralds Träumen, es war so surreal, dass er damit rechnete, jeden Moment, mit einem schwarzen Nebel im Kopf wach zu werden, wie es ihm so oft passiert war.
Er hielt SIE in seinen Armen und die Umarmung schien eine Ewigkeit zu dauern.
Als sie ihn losließ fragte sie:
„Wegen mir hast du deinen Job verloren, warum hast du das getan, du kennst mich doch überhaupt nicht !?“
Fast hätte Harry laut gelacht.
Er sagte nichts, aber in seinem Blick sah sie alles.
Fast alles.
„Wo gehst du jetzt hin ?“, fragte ihn Nina.
Harry überlegt und schüttelte dann den Kopf.
Er hatte nicht die geringste Ahnung.
„Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne mit dir kommen. Ich glaube ich kann mich hier auch nicht mehr sehen lassen. Ich wollte sowieso diesen ganzen Scheiß hinter mir lassen.“
In seinem Blick sah sie, daß er nichts dagegen hätte, wenn sie mit ihm ging.
Sie nahm seine Hand und gemeinsam gingen sie die Straße entlang.
Harry konnte nicht fassen was gerade passierte, es war als wären seine Träume Realität geworden und trotzdem nagte etwas an ihm. Etwas in der hintersten Ecke seines Verstandes.

V. Mutationen
Harald saß am Esstisch und vor ihm ausgebreitet lagen einige Fotos von Nina. Gedankenverloren starrte er sie an, die Zigarette in seiner Hand war bis auf den Filter abgebrannt.
Fast zwei weitere Jahre waren vergangen.
Er und Nina hatten eine gute Zeit gehabt. Er hatte alles über sie erfahren und sie fast alles über ihn, doch er hatte ihr niemals erzählt, dass ihre Beziehung eigentlich schon vor über drei Jahren begonnen hatte. Mit bezahltem Sex.
Sie hatten sich zusammen eine Wohnung gemietet, weit weg von Leuten wie Tom und dem Rattenmann, und Nina hatte einen richtigen Job angenommen.
Sie arbeitete als Kassiererin in einer großen Supermarktkette.
Nicht gerade ihr Traumjob, aber sie war froh, nicht mehr anzuschaffen. Und Harald war es auch.
Als er sie an der Wohnungstür hörte, sammelte er schnell die Fotos ein und verstaute sie in seiner Hosentasche.
Nina betrat die Wohnung.
Sie sah gepflegter und ein gutes Stück erwachsener aus als früher.
Nina stellte ihre Handtasche auf den Esstisch und begrüßte Harald mit einem dicken Kuss auf die Lippen.
„Wie war dein Tag ?“, fragte sie ihn, doch Harald gab nur ein Grunzen von sich.
„Aha, sehr interessant. Was ist los ?“
„Nichts.“, log Harald und rang sich ein Lächeln ab.
Sie sieht nicht mehr wie früher aus, dachte er mit einem Anflug von Melancholie.
„Was willst du heute essen, Süßer ?“
Harald wollte nichts essen, in den letzten beiden Jahren hatte er wieder ziemlich genau das zugenommen, was er im Jahr zuvor abgenommen hatte.
„Ich hab schon gegessen.“, sagte er knapp.
Er erwartete, dass Nina ihn misstrauisch ansah, doch stattdessen lächelte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Sie ging zum Kühlschrank und nahm sich einen Schokoriegel heraus.
In diesem Moment erinnerte sie Harald an jemanden, aber er wusste nicht genau an wen.
Er sah ihr zu, wie sie ihre Jacke auszog, sich auf die Couch setzte und den Fernseher anstellte. Eine junge, attraktive Frau.
Doch in dem Moment, als er sie beobachtete, wie sie die langen Beine hochlegte, ihren Schokoriegel kaute und in den Fernseher starrte, erkannte er, an wen sie ihn erinnerte.
Es war ihm als säße eine junge, schlankere Version seiner Mutter vor ihm.
Da riss etwas in Harald, dass unwiderbringlich verlorenging und er brach in bittere Tränen aus.

ENDE
 



 
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