Mutti - paranoid und schizophren: Das Telefonat

a.dues

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Ein Kapitel in der endlosen Geschichte:

„Mutti – paranoid und schizophren“


Das Telefonat


So eine S------!
Meine Mutter ist schizophren und paranoid. Das ist nicht ohne Einfluss an mir vorbeigegangen. Natürlich.
Ich lebe in einer „Stadt“, weit entfernt von meiner Mutter und meinem Vater.
Ich bin jetzt seit einigen Jahren hier, weg von meinen Eltern. Ich stelle fest, dass es aufwärts mit mir geht. Mein Bruder ist auch nach „Stadt“ gezogen.
Die Krankheit meiner Mutter, im Allgemeinen der Zustand zuhause während meiner Kindheit und besonders während meiner Jugend hat mich nicht unverändert gelassen.
Der „Zustand“ zu hause ist nicht leicht zu beschreiben. Meine Mutter lebte mit meinem Vater, meinem Bruder und mir zusammen in meiner Geburtsstadt, kurz „Gebs“.
Langsam, langsam fühlte sich meine Mutter in der Ehe immer unwohler. Sie mochte meinen Vater noch nie wirklich, hatte ich das Gefühl. Sie erzählte mir oft davon, wie egoistisch und „brutal“ er sei und dass er mich schlagen wollte, als ich ein Kind war. Was machte ich als Kind, wenn ich so was von meiner Mutter gehört hatte? Ich glaubte es ihr einfach und hatte irgendwie ein bisschen Angst von meinem Vater.
Nun, ich weiß gar nicht, wo und wann ich meine Geschichte beginnen soll. Am besten heute.
Ich sitze jetzt hier und schreibe das nieder, da mich meine Mutter heute angerufen hat. Sie sagte mir: „Bodo - so heiße ich - kommst du in den Osterferien nach haus? Ich habe nämlich etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.“ Ich weiß mittlerweile, was das heißt, wenn meine Mutter mir etwas Wichtiges mitteilen will: Es heißt, sie hat eine Wahnidee – wie schon oftmals vorher. Wie immer wollte sie mir es zunächst nicht am Telefon mitteilen, doch ich fragte, ungeduldig und barsch, da mir diese Gespräche zutiefst verhasst sind, was sie mir mitteilen wolle. „Ich bin im Endstadium“, sagte sie mir. Jedoch klang ihre Stimme gar nicht wie die einer Kranken. Sie sagte dies zu mir, in einem Tonfall, als würde sie zu mir sagen: „Bodo, gehst du bitte Brot kaufen?“.
Ich hatte die Schnauze voll. Wieder eine Wahnidee. Immer dieselbe Scheiße. Immer, wenn ich mit meinen Eltern zu tun habe, kriege ich Scheiße zu hören. Entweder fällt meiner Mutter irgendeine Wahnsinnsidee ein oder mein Vater beschwert sich über die Stromkosten und meint im nächsten Moment: Ach, aber uns geht es ja gut. Immer nur S-----, dieselbe S-----!
Ok. Im Endstadium. IM ENDSTADIUM? IM ENDSTADIUM?!? So eine S------! Das war nicht das erste mal, dass mir meine Mutter irgendein pathetisches Geschwätz andrehte. Ich war zuerst einmal baff. So direkt war ihr Wahnsinn selten zum Ausdruck gekommen. Nun, ich war also baff und fragte nach - Ungeduldig, ungläubig, traurig und gehässig: „Was ist es?“ Sie sagte nichts. „Was ist es?“ Wieder nichts. „KREBS?“, schrie ich fast ins Telefon. „Eine Stoffwechselerkrankung.“ Endlich eine Antwort! „Eine Stoffwechselerkrankung?!“ dachte ich mir. „Wie kommt sie denn jetzt auf diese Idee?“ „Gifte haben sich in meinem Darm angesammelt, sind ins Blut und in die Nerven, ich bin im Endstadium. Mir ist nicht mehr zu helfen. Ich sterbe Ende Mai“. „Vom wem hast du die Diagnose?“, brüllte ich. Meine Nachbarn mussten mich hören. Wurscht! „Von einem Naturheilpraktiker…“ Die drei Pünktchen stehen für das übliche Geschwätz: „Der ist sehr gut, der weiß, was er sagt, der hat einer Bekannten geholfen, die schwer krank war – die ist jetzt geheilt.“ … Ich hörte gar nicht richtig zu.
Ich hatte seit 3 Monaten aufgehört zu kiffen, ich trinke seit dieser Zeit auch keinen Alkohol mehr. Deshalb sah ich die Situation mit ungewohnter Klarheit:

Sie hat einen Wahnanfall.
Es ist schrecklich, wenn jemanden seine Mutter anruft und ihm sagt, sie müsse sterben. Auch wenn sie es nur in einem Wahnzustand erzählt ist, es ist schrecklich, es ist schrecklich eine psychisch kranke Mutter zu haben und deshalb HABE ICH DAS RECHT DAZU, jetzt außer mir zu sein. Es ist normal, verdammt, dass man im Ar--- ist, wenn einen die Mutter anruft und sagt, sie sei im Endstadium. Seit langem, besser gesagt, eigentlich noch nie habe ich in einer erschütternden Situation wie dieser, so normal und menschlich reagiert.

Ich war zornig. Zornig auf meine Mutter, auf die Krankheit meiner Mutter, zornig überhaupt, auf diese ganze Sch----, die mir meine Familie bereitet, zornig auf diese Sch----, die mich selber in den Wahnsinn getrieben hat.

Genau kann ich mich nicht mehr erinnern, wie das Gespräch weitergelaufen ist. Auf jeden Fall habe ich gesagt, geschrieen: „Ach was! Du stirbst jetzt nicht! Warst du im Krankenhaus? Warst du bei einem schulischen Mediziner, hast du eine gescheite Diagnose?“ Als Antwort darauf kam nur das übliche Geschwätz über den Naturheilpraktiker, wie kompetent der sei und wie vielen Menschen er geholfen habe.
Ich war stolz auf mich. Noch nie hatte ich meine Meinung so klar ausgedrückt und so eindringlich formuliert: „Ach was, du stirbst jetzt nicht! So ein Sch---! Ich glaube dieser Diagnose nicht!“
Heimlich schlich sich ein Gedanke ein. Ein Gedanke, der mir, ehrlich gesagt, schon gleich zu Beginn des Telefonats kam, als sie sagte, sie sei im Endstadium. Ein Gedanke, der für außenstehende Menschen kalt klingen mag. Doch wer sein Leben lang, als hilfloses Kind, als hilfesuchender Teenager von dem Wahn seiner Mutter gemartert worden ist, der versteht diesen Gedanken. Derjenige versteht auch, dass dieser Gedanke nicht kalt, nicht böse gemeint ist, sondern nur eine logische Sequenz jahrelanger, ja eigentlich einer lebenslangen Qual ist: ENDLICH IST ES VORBEI! Endlich kann dieses Kapitel abgeschlossen werden. Endlich habe ich meine Ruhe! Endlich ein Ende! Der Tod zieht klare Grenzen. Sie ist weg. Nie mehr neue Wahnsinnsideen, nie mehr neue Qualen. Nie mehr muss ich mir diesen Wahnsinn anhören, nie wieder muss ich mir Sorgen um sie machen, nie wieder muss ich mit mir selber kämpfen, mich fragen, wie ich sie lieben soll oder kann, obwohl sie mein Leben zerstört.
Einen kurzen Moment lang gab ich diesem Gedanken nach, freute mich, wie sich ein Jahrzehnte lang Gefolterter freut, wenn die Tortur aufhört, doch ich wusste genau, dass es nicht so einfach ist. Und ich wusste auch, dass der Tod meiner Mutter auch keine wirkliche Erleichterung bringt.

Nun ja. Mit scharfen Worten, eindringlich und klar sagte ich ihr, dass das ein Blödsinn sei, was sie mir da erzählte, dass sie nicht sterben müsse. Ich war stolz auf mich. Ich ließ mich nicht so stark vom Pathos meiner Mutter mitreißen, ich blieb halbwegs standhaft und klar denkend. Außerdem war dies eine konkrete Situation. Ich mag konkrete Situationen: Mutter psychisch krank, bildet sich ein, sie muss sterben, ruft Sohn an, will reinen Tisch machen, den Weg frei machen, um guten Gewissens zu sterben. Sohn weiß, dass das Wahn ist, redet ihr gut zu. Situation ist recht dringlich: Selbstmordgefahr? –> Psychiatrischen Notdienst konsultieren, habe endlich eine Situation konkreten Wahns meiner Mutter.

Insofern weinte und lachte ich nach dem Telefonat gleichzeitig. Nicht bildlich gesprochen. Ich weinte und lachte gleichzeitig, abwechselnd. Wahn macht wahnsinnig, der Wahn meiner Mutter machte mich auch wahnsinnig. Das ist leider so.

Nun, nach diesem Telefonat hatte ich Angst um meine Mutter. Ich war verzweifelt, schon wieder so eine Situation miterlebt haben zu müssen, obwohl ich ja gerade deshalb so weit von ihr weggezogen war, um solchen Situationen zu entrinnen. Aber es gibt kein Entrinnen. Außerdem, gäbe es auch keine Fernkommunikation, Erinnerungen bleiben immer. Außerdem hat meine Mutter mein Leben, als ich noch bei ihr wohnte, Jahre lang direkt beeinflusst. Das vergisst man nicht. Deshalb würde der Tod meiner Mutter auch nicht eine hundertprozentig klare Linie ziehen. Meine Mutter, die Erinnerung an sie, ist immer in mir und wird es auch immer bleiben. Da gibt’s keine endgültige Ruhe vor ihr. Nein, nie werde ich Ruhe haben, solange ich mich an sie erinnern kann. Na ja, aber hundertprozentige Ruhe strebe ich nicht an, weil ich eh weiß, dass es das nicht gibt. Hauptsache meine Mutter DOMINIERT mein Leben nicht.
Nun ja, ich hatte Angst. Angst, weil meine Mutter noch nie einen so konkreten Anfall gehabt hatte. Ich wusste genau, dass sie andauernd Angstzustände hat, Todesangst, dass sie schwer psychisch krank ist. Aber sie hat sich immer halbwegs zusammengenommen. Ich sah ihr genau an, dass sie dieses ohnehin brüchige und durchscheinende Mauerwerk um ihre psychische Krankheit nur mit äußerster Mühe aufrecht erhielt. Eigentlich ist dieses Bild einer Mauer übertrieben. Jeder der einen halbwegs klaren Verstand hat, sieht, dass meine Mutter psychisch krank ist. Ja, laut diesem Satz hatte mein Vater lange Zeit keinen klaren Verstand. Ob dem wirklich so war, will ich nicht beurteilen, Tatsache ist, dass mein Vater nicht ganz verstand oder verstehen wollte, dass meine Mutter psychisch krank wurde. Sie fühlte sich schlecht, wegen der STRAHLEN, wollte in eine neue Wohnung umziehen  mein Vater zog um. Sie war misstrauisch gegenüber den Nachbarn etc… auf jeden Fall unternahm mein Vater nichts Sinnvolles dagegen, solange bis die Lage eskalierte, Polizei eingeschaltet wurde, es zu Handgreiflichkeiten kam usw. Natürlich waren ich und mein Bruder immer mitten drin. Wir kriegten das alles mit, diese ganze Sch----!

Nun ja, um im Jetzt zu bleiben, nach diesem Telefonat hatte ich Angst um meine Mutter. Ich sorgte mich um sie. War sie selbstmordgefährdet? Ich hatte nämlich auch die Ehre, die zweifelhafte, grausige Ehre, psychotische Zustände zu erleben und wusste: Wenn man sich dazu überwindet, seine Ängste, seine Todesängste, seine Wahnideen – also in diesem Fall, dass sie an der Stoffwechselerkrankung sterben müsse – auszusprechen und an andere Menschen – mich - mitzuteilen, dann sind die Wahnideen stark, dann sind sie sehr stark, dann sind sie dermaßen unerträglich stark – wie kann ich das beschreiben? Es geht nicht. Jeder der selbst schizophrene, psychotische Wahnzustände durchgemacht hat, weiß, durch welche Hölle man da geht. Es ist die Hölle auf Erden. Es ist dermaßen unerträglich, grauenvoll – ich weiß nicht mit welchen Bildern, mit welchen Filmen oder mit welchen Worten ich diese grauenhaften Zustände blanken Entsetzens heraufbeschwören könnte, dass es ein nicht Betroffener nachvollziehen könnte. Es ist der blanke Wahnsinn. Todesangst. Der Körper fühlt sich nicht mehr wie ein Körper an, mehr wie eine Fabrik, eine Fabrik von Stresssubstanzen, die auf Hochtouren läuft. Man ist nicht mehr DA, man ist in einem WAHN. Ich kann das nicht beschreiben. Und selbst wenn ich Goethe wäre oder Shakespeare und die Worte dazu hätte, würde ich sie nicht gern verwenden. Wer das jemals erlebt hat und das Glück hat, die Wahnzustände als solche zu erkennen und sie irgendwann wieder loszuwerden, der weiß, wovon ich spreche. Von welcher Qual.
Dazu fällt mir ein: Gäbe es einen Verantwortlichen für Wahn, gäbe es Gott, ich würde ihn verprügeln, derart verprügeln, denn welches Wesen mit einem Funken Verstand könnte so etwas bewusst schaffen? Es müsste ein Sadist sein, ein sadistisches Schwein.

Nun, ich hatte Angst um meine Mutter, ich machte mir Sorgen um sie, da ich wusste, welche höllischen Qualen sie durchmachte. Sie tat mir leid. Ich wollte helfen und hatte Angst um sie, dass sie sich womöglich umbringen könnte. Vor allem tat sie mir leid, weil ich dasselbe schon durchgemachte habe und weiß wie unbeschreiblich sie leidet.
Ich rief zum ersten Mal in meinem Leben einen psychiatrischen Notdienst an. Ich hatte Glück. Glück, dass die Schwester, die am Apparat war, einen Hustenanfall bekam und mich deshalb gezwungenermaßen an einen Arzt weiterleiten musste. Glück hatte ich deshalb, da diese Schwester Äußerungen machte, wie: „Was kann ich machen? Sie sind in „Stadt“ und Ihre Mutter ist in „Gebs“. Ich kann sie nicht hier her holen! Dies hier ist eine Ambulanz für psychiatrische Notfälle, die Angehörigenberatung gibt’s am Dienstag.“ Und: „Welche Art von Hilfestellung haben sie sich denn erwartet?“.
Ich habe noch nie vorher in meinem Leben diese Art von telefonischer Beratung in Anspruch genommen. Ich war wohl deshalb baff, mir derartige Äußerungen anhören zu müssen. Ich hatte eigentlich schon aufgegeben, mir irgendwelche Hilfe von diesem „Notdienst“ zu erwarten und nur mehr vor mich hingestammelt, als sie zu meinem großen Glück einen Hustenanfall bekam und mich an den Arzt weiterleitete. So eine Sch----, diese Schwester! So viel zum Thema Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter. Auch Hilfe muss man sich manchmal erkämpfen!
Der Arzt antwortete mir auf meine Frage: „Was soll ich jetzt machen?“ Und versuchte mir zu helfen, wo es ihm möglich war. Das Gespräch lief darauf hinaus, dass ich mich entscheiden sollte, ob ich nach Hause fahren sollte, um meiner Mutter beizustehen, ihr also ein bisschen gut zuzureden.
Außerdem fragte ich den Arzt, wie das mit den Kosten sei, im dem Fall, wenn ich meine Mutter ins Krankenhaus einliefern müsste. Ich dachte an Kostenbeteiligung. Der sprach davon, dass die wohl nicht so hoch sein werde.

Ich habe keine Ahnung davon. Eigentlich ist sie wirklich nicht so hoch, glaube ich. Ich war froh darum, dass er sagte, dass sie wohl nicht so hoch sein werde. Ich wollte das einfach von jemandem hören. Es ist nämlich nicht einfach, alleine dazustehen und eine psychisch kranke Mutter zu haben. Ich habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll, erst jetzt, fange ich damit an, das halbwegs klar zu sehen und zu realisieren und „logisch“ anzugehen. All die Jahre davor, besonders ab ca. 16 hatte ich alle Mühe damit, selbst nicht verrückt zu werden. Erst die Distanz zu meiner Familie brachte mich – nach Jahren – auf den Boden zurück, weg vom Wahn, hin zu einer halbwegs vernünftigen Sicht der Dinge. Halbwegs. Hundert Prozent werde ich wohl nicht so schnell erreichen. Und irgendwie sind wir doch alle ein bisschen „Bluna“.

Nun. Das Gespräch mit dem Arzt und meine darauf folgenden Überlegungen brachten mich zu einigen Entschlüssen. Ich fahre in den Osterferien DOCH nach Hause. Was sind meine Ziele dort?
Meiner Mutter gut zureden, dass sie die Diagnose des Arztes nicht so ernst nehmen solle.
Sie irgendwie dazu bringen, sich in schulmedizinische Behandlung zu bringen, weg von diesen verdammten Quacksalbern.

Außerdem versuchte ich meinen Bruder zu kontaktieren, um mit ihr über das Telefonat und die ziemlich akute Situation unserer Mutter zu reden. Ich hasse es immer, meinen Bruder aus dem Alltagsleben zu reißen und mit ihm über unsere psychisch kranke Mutter reden zu müssen, aber es bleibt einem nichts anderes übrig. Weglaufen und ignorieren nützt leider nichts.
In den Stunden nach dem Telefonat war ich verzweifelt und versuchte klar zu denken und mich zusammenzunehmen, mich nicht in die Situation hineinzusteigern. Es gelang mir halbwegs. Zum Glück habe seit drei Monaten nichts mehr gekifft und keinen Alkohol getrunken. Das war mein großes Glück! Sonst hätte ich diese – ziemlich akute, bis jetzt noch nie so direkt bedrohliche – Situation nie so gut, das heißt halbwegs gut, gemeistert. Ich wäre in Trauer und Verzweiflung und Angst versunken. Ich war irgendwie stolz auf mich, trotz der ganzen Misere.

Etwas an dem Telefonat ließ mich im Inneren nicht ganz los. Nun ja, es fiel mir zumindest auf, dass etwas nicht so ganz in das Schema der Wahnzustände meiner Mutter passte. Sie sagte: „Verzeih mir, bitte verzeih mir!“, sie war in ihrem Wahn ja im Angesicht des Todes: Ende Mai sterbe sie (in einem Monat), das fühle sie! „Ich habe in deiner Erziehung so viel falsch gemacht! Das sehe ich jetzt ein, das wird mir jetzt bewusst!“
Dies war auch der Punkt, an dem ich mich nicht mehr zurückhalten konnte und in Tränen ausbrach und mit zitternder, verweinter Stimme, die ich so hasse, sagte: „Natürlich verzeihe ich dir, alles verziehen, natürlich!“.
Eigentlich, ehrlich gesagt, habe ich diesen Part des Dialoges verdrängt. Er passte irgendwie nicht dazu. So was hatte sie noch nie gesagt. Sicher, es fiel mir auf, dass sie ansatzweise einen Trend hatte, einige Sachen einzusehen, oder wie man das nennen will. Sie nahm sich teilweise sehr zusammen, mir meine Freiheit zu lassen, sie kehrte von ihrer fundamentalistisch anmutenden Christlichkeit ein wenig ab, landete eher in der Esoterik und erzählte, in der Bibelrunde habe man ihr gesagt, Jesus habe ein Verhältnis mit Magdalena gehabt. „Jesus mit Magdalena!“, sagte sie mit aufgerissenen Augen.
Hm. Es stimmt, eigentlich habe ich mit dieser Feststellung, dass sie ihre Fehler in meiner Erziehung einsehe und um Verzeihung bittet nichts so recht anzufangen gewusst.

Die große Überraschung des Tages kommt jetzt.

Plötzlich brummte das Handy. Ich dachte es sei mein Bruder, den ich zur „Mutti-Krisensitzung“ gerufen hatte. Aber dem war nicht so. Es war der „Corpus Delicti“: Meine Mutter!

Ich ging ran: „Hallo?“ „Hallo?“ Nichts. „Hallo Mutti?!“
Zehn Sekunden lang nichts. Ich legte auf.

Ich wurde nervös. Ein Bild in meinem Kopf: Meine Mutter liegt am Boden, im sterben. Mit letzter Kraft wählt sie meine Nummer.

Ich wurde sehr nervös:“ Was mache ich? Was mach ich bloß? Was ist denn jetzt schon wieder los? Soll ich das Krankenhaus in „Gebs“ anrufen, dass die mal bei meiner Mutter vorbeischauen? Ich habe die Schnauze voll! So eine Sch---- schon wieder!!!“
Wieder brummte das Handy.

-„Was?!“-

Ich stürzte mich auf das Telefon. „Hallo?!?“ „Hallo?!?“, schrie ich hinein. Nichts. Wieder nichts.
„So!“ Ich hatte die Schnauze endgültig voll. Irgendwie war ich wieder froh, da es eine konkrete Situation war. Da gab es für mich keine Entscheidungsschwierigkeiten. „Sch--- drauf! Sch--- drauf! Ich ruf jetzt das Krankenhaus in „Gebs“ an, die sollen bei meiner Mutter vorbeischaun, wie es ihr geht, das ist ein Notfall, mir sch---egal, kein Zaudern, kein nix!!!“

Ich war außer mir. Doch – und deshalb war ich insgeheim stolz auf mich – nicht völlig aus dem Häuschen, sondern ziemlich „normal“ außer sich. „Gesund“ außer sich. „Klar“ außer sich. Hätte ich gekifft, oder Alkohol getrunken, ich hätte das nie geschafft, ich wäre völlig durchgedreht und mit den Nerven am Ende gewesen!

So stürzte ich mich auf meinen PC und suchte die Notfallsummer des Gebs’er Krankenhauses – da klingelte es schon wieder!

„Hallo?!?!“ „Hallo?!?!“
„Hallo!“, kam die Antwort.
Es war meine Mutter.
Ich war erleichtert. Fu--, war ich erleichtert!
„Ja Hallo Mutti! Hallo! Wie geht’s dir denn?“ fragte ich erleichtert, sie zu hören und natürlich sehr besorgt um sie. –Wieso ruft sie denn 2 mal an, ohne was zu sagen?- , schwirrte es mir im Kopf herum.
Sie entschuldigte sich, sagte, sie habe sich beraten, dass ihre Diagnose, dass sie sterben müsse nicht zwingend stimmen müsse.
Ich ließ sie nicht richtig zu Wort kommen, mir war das irgendwie auch egal, sie faselte ja eh seit zehn Jahren immer dasselbe Zeug und ich sagte das, was ich mir in den – schlimmen – Stunden nach dem ersten Telefonat zurechtgelegt hatte:

Ich weiß schon was mit dir los ist,bitte, bitte glaub deinem Sohn - du weißt ohnehin selber, was dir fehlt. Du weißt es doch! Ich will das von dir hören. Sie erwiderte natürlich nichts, und meinte, ich solle es ihr doch sagen, was ihr nun fehle. Ich sagte in etwa und bemühte mich dabei vorsichtig zu sein, weil ich wusste, wie panisch sie auf Nerven- und Psychozeugs reagiert:

Es sind die Nerven, ich habe darüber gelesen. Mir ist das selbe passiert, du hast Angst, Todesangst, fühlst dich schlecht, oder? Sie stimmte mir zu. Hm. Sie stimmte mir zu. Sie war ganz offen, wie sie es formulierte.
Ein bisschen zu offen.

Auch wieder eine Brise Wahn im spiel! Verdammt! Aber ich wusste, dass es nicht so schnell aufwärts geht. Natürlich weiß ich das! Ich bin ein Idiot, der irgendwie – sinnlos – hofft, die Mutter zurückzukriegen, die ich aus meiner Kindheit aus manchen guten Erinnerungen kenne. Verdammt! Ich hoffe sinnlos und gebe mir auch mit meiner Mutter zu viel Mühe! Wie viele Rückschläge habe ich schon erlebt. Jetzt stimmt sie mir zu, dass sie wirr im Kopf ist, dass es die Nerven sein könnten, dass sie Todesangst hat. Sie stimmt mir bei allem zu.
Sie sagt auch, sie sei jetzt bei einer Frau, die sie berate, bei der sie zu Abend essen könne. Sie sagt sie sei ganz offen. Ich war superfröhlich in dem Gespräch, weil sie mir endlich einmal zustimmte. Ich war zu fröhlich, schöpfte wieder zu viel Hoffnung, im nachhinein betrachtet. Ich weiß, wie Schizophrenie sein kann. Sie kann wieder völlig in einen Wahnzustand verfallen.
Um meiner selbst Willen muss ich mich darum bemühen, Abstand zu halten. Diese, wenn auch positive, Wendung in der endlosen Geschichte „Mutti, paranoid und schizophren“, darf ich mir nicht zu viel zu Herzen nehmen. Ich muss versuchen, Mutti irgendwie dazu zu bringen in schuldmedizinische Behandlung zu gehen, dass sie kompetent betreut wird und weg von diesen sch--- Quacksalbern kommt. Auf das soll ich mich konzentrieren. Aber ich darf mich nicht wieder meiner Gutmütigkeit hingeben, das schadet mir nur selbst. Ich bemühe mich um meine Mutter, in dem Maße, in dem es mir meine Kräfte erlauben. Ich darf mich nicht verausgaben, auch wenn die Situation noch so dringlich scheint. Ich weiß, wie Schizophrenie und Paranoia sind. Ich weiß, welche höllischen Geißeln sie sind und muss, wie der banale, aber weise Rat meines Psychologen lautete „auf mich aufpassen“.
Sch--- Schizophrenie! Sch--- Paranoia!
So eine Sch----!

(c) Anton Nemo Dues
 



 
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