Nach Jahren

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Duisburger

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Heimkehr der Gedanken

Man hatte mich gewarnt und es Feindesland genannt.
„Ich bin niemandes Feind“, hatte ich entgegnet und nur mitleidige Blicke geerntet
Jetzt stand ich am Fuße des Ölbergs und Jerusalem erwachte mit den Rufen der Muezzin. Der Friedhof lag direkt vor mir. Der Weg vom eisernen Tor zu ihrem Grab war in meinem Reiseführer detailliert beschrieben und so fand ich die steinerne Tafel recht schnell.
Es war ein Gemeinschaftsgrab, in dem 34 Tote ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Eine von ihnen war Else-Lasker Schüler. Das Grab wurde drei Jahre nach ihrem Tod im Januar 1945 bei den Kämpfen um Jerusalem zerstört. Danach wurden sie hier zusammen mit anderen bestattet. Das war nun über zwanzig Jahre her.

Ich kniete auf dem Boden und legte einen Ölzweig auf den Sockel der Namenstafel.
Sand knirschte. Jemand stand hinter mir. Ich wagte nicht, mich zu bewegen.
Eine Stimme rezitierte:

Die Sterne fliehen schreckensbleich
Vom Himmel meiner Einsamkeit, -


Ohne das ich mir dessen bewusst war, ergänzte ich den nächsten Vers:

Und das schwarze Auge der Mitternacht
Starrt näher und näher.


Ich erhob mich langsam und drehte mich um. Vor mir stand ein alter Mann mit Hornbrille und Krückstock. Er hatte eine Kippa auf dem Kopf und war demnach Jude. Er lächelte mich freundlich an.
„Guten Morgen“, begrüßte er mich. „Sie war eine wortreiche Kämpferin gegen das Unrecht und manchmal auch gegen sich selbst.“
„Shalom. Und eine der bedeutendsten europäischen Dichterinnen unseres Jahrhunderts.“
Der alte Mann nickte.
„Sind sie nur wegen ihr gekommen?“ fragte er.
„Ich mache eine Studienreise und wollte mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.“
Der alte Mann trat dicht vor die Schrifttafel und strich mit den Fingern über die Gravur ihres Namens.
„Sie hat den Schmerz des Volkes Israel und ihre eigene Trauer niedergeschrieben. Menschen wie sie sorgen dafür, dass das Vergessen nicht die Oberhand gewinnt.“
Der alte Mann hielt inne und wirkte auf einmal müde.
„Wissen Sie, ich habe sie gekannt. Persönlich, meine ich. Das war im Jahr 1939, als sie aus der Schweiz nach Jerusalem kam. Sie war vor der Gewalt geflohen und hatte hier eine andere Art von Gewalt gefunden. In Deutschland hatten sich die Juden ihrem Schicksal ergeben, dessen letzte Konsequenz die meisten von ihnen noch nicht ahnten. Hier kämpften die Juden mit der Waffe in der Hand gegen die Araber und die Protektoratsverwaltung der Engländer.“
Ich lauschte fasziniert seinen Worten und konnte kaum fassen, dass hier jemand vor mir stand, der Else-Lasker Schüler persönlich gekannt hatte. Ich war sicher, dass der alte Mann Dinge wusste, die kaum jemanden außerhalb Jerusalems bekannt waren.
„Wie haben Sie sie kennen gelernt?“
Der alte Mann begann umständlich, seine Brille zu putzen.
„Ich gehörte 1939 der Haganah, einer jüdischen Untergrundbewegung, an und hatte den Auftrag, neu eingetroffene Juden nach Möglichkeit für die Bewegung zu rekrutieren. Vor der britischen Protektoratsverwaltung in Jerusalem hatte ich einen Schuhputzsstand, von dem aus ich den Eingang beobachten konnte. Eines Tages kam eine Frau in schäbiger Kleidung die Treppe hinunter und schaute sich suchend um. Ich übergab meinen Posten einem Mitkämpfer, der sich für solch einen Fall immer in der Nähe bereithielt und ging auf sie zu.
Ich begrüßte sie mit einem „Shalom“ und war erfreut, als sie genauso erwiderte. Sie erzählte mir bereitwillig, dass sie Jüdin sei und eine Unterkunft suchte. Diese Offenheit erschien mir leichtsinnig in dieser Stadt, doch dieses Verhalten war in ihrem Wesen begründet, wie ich mit der Zeit feststellte.
Sie schien jedem, unabhängig von Glauben, Hautfarbe oder Nationalität, freundlich gesonnen zu sein und machte keinem Hehl daraus, dass ihr gut gemeinte Ratschläge jenseits ihrer Überzeugung vollkommen egal waren.
So ging auch mein Versuch, sie für die Haganah zu rekrutieren, vollkommen schief. Sie dachte nicht daran, sich für eine Sache einspannen zu lassen, von der sie der Meinung war, dass diese auch friedlich zu regeln sei.“
Ich hatte das Glitzern in seinen Augen bemerkt und konnte mir die Frage nicht verkneifen.
„Waren Sie in sie verliebt?“
Sein Gesicht bekam einen nachdenklichen Zug und er setzte seine Brille wieder auf.
„Anfangs habe ich sie für eine weltfremde Tagträumerin gehalten, doch mit der Zeit merkte ich, dass hinter dieser vorgeblichen Naivität ein wacher und scharfer Verstand lauert. Richtig bewusst wurde mir diese Tatsache erst, als sie mir ihre Gedichte zeigte. Da war die andere Else Lasker-Schüler, die kritisch hinterfragte und mit ihrem wachen Verstand Finger auf Wunden legte, die sonst unbemerkt geblieben wären. Wir fingen an, allabendlich über ihre Werke zu diskutieren und entdeckten zum beiderseitigen Erstaunen, dass sich unsere grundsätzlichen Ansichten zu den Dingen weitgehend glichen.
So kamen wir uns langsam näher. Ich weiß bis heute nicht, ob ihre Zuneigung mir gegenüber wirklich Liebe war oder ob sie in mir nur jemanden gefunden hatte, der sie wirklich verstand.
Es hat nur sechs Jahre gedauert, Jahre, die mich bis heute geprägt haben. Als sie 1945 starb, war ich weit außerhalb Jerusalems in einem Einsatz. Ich erfuhr erst zwei Monate später von ihrem Tod.“
Er griff in seine Tasche und hielt ein abgegriffene Kladde in der Hand. Sie war mit einer Paketschnur zusammengebunden.
„Das ist alles, was mir von ihr blieb. Es ist nun an der Zeit, denke ich.“ Er hielt mir die Kladde hin.
„Aber was ...“ entgegnete ich.
„Öffnen sie die Schur und schauen Sie hinein“
Verwirrt begann ich, die Schnur aufzuknoten. Der alte Mann war mittlerweile wieder aufgestanden und hinter mich getreten. Ich schaffte es schließlich und öffnete die Kladde.
Es waren lose Blätter, Notizen zu ihren Gedichten und einige kleine Zeichnungen. Ihr Namenskürzel auf jeder Seite. Was für einen Schatz hielt ich da in der Hand? Auch die Innenseite des Deckels war beschrieben, kaum noch sichtbar das Wort Chaos. Ich konnte kaum noch klar denken.
Ich drehte mich um, doch der alte Mann war fort. Auf dem Friedhof war niemand zu sehen. Ihre Gedanken sollten wieder in die Heimat zurückkehren, das wollte der alte Mann mir sagen. Umständlich schnürte ich die Kladde wieder zu und schob sie in die Innentasche meiner Jacke.
Unten aus der Stadt erklang erneut der Ruf der Muezzin.
 

Duisburger

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Hallo Flammarion,

danke für deinen freundlichen Kommentar.
Habe tatsächlich noch zwei Fehler gefunden. Ich hoffe, dass war es dann.

lg
Uwe
 

Duisburger

Mitglied
Hallo,

danke für die Aufmerksamkeit.
Das kommt davon, wenn man Sätze umstellt und Fragmente der alten Formulierung übersieht.

lg
Uwe
 



 
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