Nachdgiecher

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Nachdgiecher


Eine Fratze. Furchendurchzogen und mit grimmigen Blick, der Körper aus unzähligen Fetzen bestehend, kam die Flecklashexe in ihren bunten Farben und mürrisch ihren Besen schwingend auf Jessi zugerannt.
He, he, he, du kummsdt mid! Vor Schreck fuhr Jessi herum und verschüttete beim Anblick dieser finster-fröhlichen Gestalt die Hälfte ihres mit Wodkaorange gefüllten Pappbechers, dessen Inhalt nun verdächtig-peinlich auf der linken Innenseite ihrer Jeans prangte. Die Hexe packte sich einen kleinen, vor Jessi stehenden, Jungen, der gerade noch furchtbar frech Bonbons nach den Zugteilnehmern werfend nicht rechtzeitig vor der Hexe hatte davonlaufen können und nun, da er begleitet vom Gejohle der übrigen Hexen, einer von ihnen über die Schulter gelegt, so zu sagen als Beute, einige Meter mitgeschleppt wurde. Er weinte. Es hätte Jessis kleiner Bruder sein können, doch Jessi hatte keinen kleinen Bruder und somit hatte sie auch kein Mitleid mit dem Knirps; selbst wenn es er ihr Bruder gewesen wäre, hätte sie vermutlich kein Mitleid, denn mit fünfzehn Jahren war sie in einem Alter, in dem es sich nicht schickte Mitleid zu zeigen, sondern vielmehr einfach cool zu sein. Dämlicher Fregger. Ihre Freunde und Freundinnen lachten. Lachen sie über mich, oder den Fregger? Kummsd heid' Abend mid ins Waldheim? Er, der großgewachsen, vielleicht 20 Jahre alt sein durfte, setzte ein schelmisches Grinsen auf und sah Jessi spitzbübisch an. Kommt des kleine Jessile auch, oder lässt Mami dich Nachts nicht mehr auf die Straße, damit dich der Nachdgiecher nicht schnappt? Du bisd doch echd debberd! Sie überlegte, wie sie ihre Mutter davon überzeugen konnte, sie mit den älteren Jugendlichen auf den großen Faschingsball im Gasthof einige hundert Meter außerhalb ihres Dorfes gehen zu lassen. Sie hatte letztes mal als ich nur auf Stefans Achtzehnten wollte schon ein Mordstheater veranstaltet, sie lasse mich nicht so lange wegbleiben, weil mir ja etwas geschehen könne. Sie verdrängte die letzte Ansprache, die ihr ihre Mutter gehalten hatte und grinste frech. Klar komm ich mit, ich bin doch kein Kind mehr! Mit einem entschiedenen großen Schluck leerte sie ihren Becher. Schau du lieber, dass du Nachschub holst! Ein wenig verdutzt angesichts dieser unerwarteten Schlagfertigkeit, nahm er Jessis Becher und ging zu einem der prächtig farbenfroh geschmückten Wagen. Eine dunkle Gestalt , in einem schwarzen Umhang gehüllt, ein Kap über den Kopf gezogen und des Gesicht mit einer Maske verdeckt, -4-
die einem abstrahierten Vogelkopf glich reichte ihm wortlos seine beiden Becher gefüllt
zurück, während ein untersetzter junger Mann, vielleicht 5 Jahre älter als er selbst, mit fahlem Gesicht und gescheitelten Haaren, roter Clownsnase und ebenso rot unterlaufenen Augen oben auf dem Wagen herantrat und einen Flyer herunterreichte.

Faschingsball der Jugendfeuerwehr'ler im Gasthof Waldheim
Beginn: 20 Uhr Eintritt: 3 € (Abendkasse)
Longdrinks: 3 € Bier: 2 € Kurze: 1 €

Aber hundert Pro! Da simmer dabei! Mit einer Hand nahm er die Pappbecher mit der anderen steckte er die Flyer in seine Jackentasche und ging zurück zu den anderen.
Als die Wagenkolonne vorübergezogen war, die Straßen über und über und über weiß gesprenkelt waren von Konfetti und die Kinder sich daran machten, die übersehenen Bonbons aufzulesen, sich einen geheimen Vorrat aneignend, von dem ihre Eltern nichts wussten, als sie bereits fünf verschiedene Becher in der Hand gestapelt hielt und in ihnen zwei Pflümlifläschchen, beschloss Jessi, sich von ihrer Clique zu verabschieden, da sie nicht, wie die anderen, direkt ins Waldheim gehen wollte, sondern sich zuvor zumindest noch duschen und umziehen wollte - eventuell auch noch ihre Mutter um Erlaubnis fragen - und und machte sich, vom sich bemerkbar machenden Alkohol in ihrer Direktion ein ums andere mal ein wenig gestört, auf den Nachhauseweg, nicht ohne dabei die Becher im nächstbesten Garten zu entsorgen.

Feucht, angelaufen, warm. Als sie mit tropfenden Haaren und perlenbenetzter Haut aus der Dusche stieg und sich gerade ein Handtuch umwickelte, hörte sie die Wohnungstür ins Schloss fallen. Ein Schlüssel, der auf eine Ablage gelegt wird, eine Handtasche, die erschöpft in die Ecke fallen gelassen wird, weil man gerade von einem zusätzlichen Wochenendjob als Bedienung kommt, um, da man alleinerziehend ist, die mit zwei Personen zwar kleine, Familie, zusammen mit den Hauptberuf Sekretärin, durchbringen zu können. Das kann nur Mum sein. Blos nix Falschs sagn, den richdign Zeidbungd abwardn. Sie rieb mit dem Handtuch ihre Haare trocken - und dabei zu einer wahrhaft beachtenswerten Mähne durcheinander. Jessi war entschlossen. Sie stellte sich vor den Spiegel und wischte ihn frei vom Beschlag des Wasserdampfs. Nun gut, deine Augen sind ein wenig gläsrig - macht nichts, wirken sie schon größer - und deine Wangen sind rot -
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auch gut, spar ich mir schon das Rouge. Sie tappte, vom nachmittäglichen Alkoholgenuss behäbig schläfrig über den Flur in ihr Zimmer, lies das Handtuch in die Wäschetrommel fallen und besah sich abermals in ihrem Wandspiegel. A richdige Frau bisd gworn Jessi. Hasd Kurvn und die Spezl sin älder wie du; ned so kindisch, wie die andern Mädl aus deiner Klassn. Sie drehte sich. Hoffmer, dass die Hüfdn nimmer digger wern und der Bauch. Naja, bumbl. Wenn scho mo ich halt a Diäd machen, aber ich wer sowieso ned feed. Unschlüssig stand sie vor ihrem Schrank. Was zieh ich blos o? Wen heit Abend a Fescher dabei is? Sie fischte einen roten Stringtange aus der Schublade vor ihr und schlüpfte hinein. Sie betrachtete prüfend ihre Brüste. A bissl nachhelfn koa ja ned schadn. Nach kurzem Gewühl fand sie den zum String passenden Pushup. Wie ein Model drehte sie sich in Rot verpackt vor ihrem Spiegel in ihrer kleinen Traumwelt ihres Zimmers, als die Tür aufgerissen wurde.
Wie oft hab i dir edz scho gsagd, dassd deine Klamoddn ned im Bad liegn lassn sollsd? Was hasdn eigendlich mid deiner Husn gmachd? I hab ähm - da had mer anner – i bin ghudzd worn und - Und überhaubds, was hasdn du da für a aufdageldes Graffln o? Des hab i mir selba kaufd letzte Wochn beim H&M. Jessi Kind, wennsd an Freind hasd, kannsdes mir fei sagn und Kind, lass di zu nix dränga!
Ihr Kopf nun ebenso rot wie ihre Dessous stand Jessi vor ihrer Mutter und versuchte ihr nicht anmerken zu lassen, wie verschämt sie war. Ne Mudda, i hab nu kan Freind, des had no Zeid. Obs mer die Lüge glaubd? Wobei glogn wars ja ned a mal, ich gugg mer ja nur was Nedds für heid Oab'nd naus. I will ja blos ned in die schlamppigsdn Fedzn zum Faschingsball heit gehen. Faschingsball! Wie sie ihre kleine Tochter nur mit ein paar Zentimetern Stoff signalrot bekleidet dastehen sah und mit glitzernden Aufen vom Faschingsball schwärmen hörte legte sich bei ihr ein Schalter um. Ne! Du blabst daham! Wieso?
Langezeit hatte sie es, unter professioneller Hilfe und ihrer aufopferungsvollen Hingabe für ihre Tochter, verdrängt, dass diese, ihre Tochter, ein Unfall war. Mehr noch als das. Mit feucht zu werden drohenden Augen stand sie da. Weil i des sag! Es war vor knapp 16 Jahren gewesen. Sie war war gerade neunzehn geworden und wie Jessi heute, jung und stürmisch wie sie war, ganz heiß auf die närrische Zeit und ihre Feiern gewesen; ganz besonders natürlich auf den schon damals existenten legendären Ball der Jugendfeuerwehr. Ausgelassen hatte sie mit Freunden gefeiert und als diese zu Fuß aus dem Waldheim heimgingen, wegen eines süßen Typen noch ein wenig länger. Doch dieser hatte sich dann mit einer anderen in sein Auto zurückgezogen und ihr, ja ihr war nur der Schnaps geblieben. -6-
Zwei oder drei andere junge Männer aus dem Dorf hatte sie an diesem Abend verschmäht. Der Alkohol weichte ihre Erinnerung an diese damals jedoch auf, jedoch glaubte sie der betrunkene junge Wirt selbst sei dabei gewesen, sicher war sie sich allerdings nicht und behielt diese Vermutung besser für sich, da dieser schon seit Jahren verheiratet gewesen war. So war sie also alleine aus dem Gasthof gestolpert und hatte sich auf den Weg ins nur wenige hundert Meter entfernte Dorf gemacht. Wann und wie wusste sie nicht mehr - sie war einfach zu betrunken gewesen. Das Nächste, an das sie sich erinnerte, waren fanatisch rot glühende, kleine, stechende Augen und ein spitzer Schnabel in einem dunklen Gesicht über ihr und dieses unvergesslich-hässliche, röhrende Stöhnen.
Du hasd mer nix mer zu sagn; i bin do ka Bobberla mehr! Ihr wurde übel. Ihr Bauch verkrampfte sich und sie hielt sich am Türrahmen fest.
Sie hatte auch damals unsagbare Schmerzen verspürt; im Unterleib, als diese Fratze vor ihrem Gesicht vor und zurück wippte und mit jedem Vor neues Leid brachte, seine spitzen, klauenartigen Hände, ihre nackten Brüste unter dem nach oben geschobenen Top kneteten, wie ein Stück rohes Fleisch, das in der Auslage preisgegeben wurde.
Sie wollte ihre Tochter beschützen, wie sie sie so ungeschützt vor ihr stehen sah. Ne, du bleibst daham. Hier und edz und Ende der Diskussion, sonsd hasd an Monad Hausarresd! Jessi schrie vor Wut!
Sie erinnerte sich, wie auch er geschrieben hatte, laut, jedoch tiefer und gefolgt von ebenso tiefem ruhigem röchelndem Atmen. Sie hatte nur kurze Zeit die Augen geöffnet; er hatte es nicht gesehen. Sie hatte es nicht sehen wollen, sich nicht sehen wollen, nicht mehr sein wollen und hatte doch gehofft, er würde sie verschonen, wenn er denke sie habe alles verschlafen, alles vergessen. Sie hatte sich gewünscht, alles sei nur ein Alptraum gewesen . In ihr war es warm geworden, doch die Schmerzen hatten nicht aufgehört als er wegging, sie hatten nicht aufgehört, als sie verstört nach Hause ging und drei Stunden lang versuchte den Dreck von sich zu waschen und sie hatten auch nicht aufgehört, als sie versucht hatte zu schlafen und aus diesem schrecklichen Traum auf zuwachen. Zwar hatte ihr Körper nach einigen Tagen aufgehört ihre Gebrochenheit zu bekunden, ihre Seele jedoch nicht. Sie hatte sich geschämt. Wieso wusste sie nicht.
I wollerd, du warrast ned mei Mudda! Ihre kamen die Tränen und Jessi stand immer noch mit hochrotem Kopf, in rotem Schlüpfer und rotem Pushup vor ihr und grinste triumphierend.

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Eine Woche später war sie zur Polizei gegangen und hatte alles gemeldet. Die Ermittlungen waren im Sand verlaufen, nur die Zeitungen waren voll von Meldungen gewesen.

Nachdgiecher schlägt zu! - Frau vergewaltigt
19-jährige vom Nachdgiecher geholt! - Vergewaltigung!

Als Jessi dann zur Welt kam, verzichtete sie auf deinen DNA-Test. Sie wollte nicht, dass ihre wusste, wer ihr Vater ist und vor allem, wie er es wurde und was sie deshalb ist.
Sie begann zu weinen. Offen und laut vor ihrer Tochter, welche sie nicht länger ansehen konnte und ihr Gesicht zwischen ihren Händen verbarg.
Welch Schande war es gewesen. gerade erst als junge Frau ins Dorf gezogen gewesen und nun hatte sie von einem Vergewaltiger, den sie nicht herausfinden wollte ein Kind erwartet. Man hatte ihr zu einer Abtreibung geraten, doch sie hatte abgelehnt. Im Dorf hatte keiner je gefragt; alle wussten woher das Kind stammte und es wurde als dunkles Kapitel in der Geschichte des Dorfes verschwiegen.
Sie ging mit schnellen Schritten ins Badezimmer hinüber und schloss sich ein. Diese Gelegenheit lies Jessi sich nicht entgehen, zog sich so schnell sie konnte ihre engste Jeans an und den weißen, bauchfreien Pulli über. Noch schnell in Socken, Schuhe und Jacke geschlüpft und aus der Tür gehüpft. Ihre Mutter hörte nur noch schluchzend die Wohnungstür knallen, bevor sie sich übergab. Sie war zu schwach gewesen.

Schon von Weitem drangen eingängig die Schläge der Bässe vom Gasthof her über die dunkle kleine Ortverbindungsstraße an Jessis inzwischen kalte Ohren; sie hatte bewusst auf eine Mütze verzichtet, um ihre Frisur nicht zu ruinieren. Sie schlenderte betont cool über den, mit allerlei mehr oder weniger aufgemotzten Klein- und Mittelklassewagen älterer Baujahre, bevorzugt Golfs oder Astras, zugestellten Parkplatz. An Perso werd scho kanner sehn wolln - ned hier bei uns im Dorf. Einige Pfiffe und Gejohle ein paar Meter entfernt. Jessi blickte sich um, erkannte aber nur schemenhaft vier junge Männer auf eine Motorhaube gelehnt, wie sie in ihre Richtung blickend eine Flasche kreisen ließen. Einfach weider gehn. Und was, wenn mi doch anner fragd? Werns mer mein gfälschdn Schülerausweis glaubm, oder es tscheggn und des Ding einkassiern? Am Ende des Parkplatzes, kurz vor dem Gasthof, an dessen Tür sie zwei muskelbepackte Männer in schwarzen Bomberjacken standen, wurden ihre Schritte langsamer. Alles oder nix! Ich
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schau ald gnug aus! Noch fünf Meter. Sie stellte sich in die, das es erst 21 Uhr war, noch sehr kurze Warteschlange. Sehr goad, sehr goad, ihr guggd mi kanner debberd o. Die haldn mi für älder. Einer nach dem anderen schritt an den Türstehern vorbei, durch die offenen Tür, zahlte, wurde abgestempelt, als registriere man Posten, und war aus Jessis Blickfeld verschwunden. einige, aber nicht alle, mussten ihre Personalausweise bei den beiden Türstehern vorzeigen, die Jessi als bedrohlich empfand - sie hatten etwas Bärenhaftes. Die Reihe kam an Jessi. Wie ald bistn? Vom rauen Brummen eingeschüchtert, war ihre vorherige Coolness verschwunden und sie brachte kein Wort heraus, sondern stand mit groß geschminkten Augen, den engen weißen bauchfreien Pulli mit dem roten Pushup darunter ihre Brust unter der offenen Jacke hervor reckend, jedoch unfähig auch nur ein Wort heraus zu bringen, beinahe schon trotzig auf ihren Stilettos und fror. Die beiden Türsteher sahen sich an. Sie hat sicher schon sechszehn.
Der linke von beiden, seinem östlichen Akzent zu Folge aus einem der ehemaligen Ostblockländer stammend, lächelte Jessi an. G'sedz is G'sedz und wir wolln kann Ärger! Also Klane zeig mer mal dein Perso! Bei der kalten und bestimmten Aufforderung des rechten Bärens bekam Jessi eine Gänsehaut, obwohl ihr Kopf wärmegefüllt, wie eine Signalleuchte, rot durch die Nacht strahlen musste. Was edz? Sie begann suchend in ihrer Handtasche zu kramen, als sich eine Hand auf ihre Hüfte legte. Jungs edz machsds a mal ned auf preißisch überg'nau! Und du - er sah den Linken an - von dir mei Kumbl was i doch dassd klane Mädels ned abweissd. Der Linke lachte und sie begrüßen sich mit einem Handschlag. Trotzdem dürmfer hier kan ohne Perso neilassn. Der Rechte sah Jessi finster an. Du werst bald gar kan mehr irgendwo neilassen oder überhaubds was arbeidn, wenn mei Vadder dich naus gworfn had, weil du Haumdaucher mei Begleidung wegschiggst. Jessi sah immer noch mit hochrotem Kopf an dem jungen Mann hinauf, der da, seine Hand um ihre Taille gelegt, neben ihr stand und mit den Türsteherbären bestimmt, wie mit Bediensteten, sprach: weiße Lacost-Halbschuhe, schwarze Streifenjeans, blaues Poloshirt, silberner Choreograph am Handgelenk blitzend, die Haare ordentlich zu einem Scheitel gekämmt und nun mit einem Lächeln, sowie der knallroten Clownsnase im Gesicht zu ihr herunterblickend. Der därferd vielleicht fünfazwanzg sein - zu ald aber neibringa kanner mi.
Is scho goad. Mit einem sanften, aber bestimmten Schubser bugsierte ihre Begleitung Jessi zwischen den zu stummen Bobbies degradierten Türstehern hindurch ins Innere des Gasthofes. Erst jetzt nahm Jessi die dröhnende Musik im, von Lichtkegeln durchzogenen und von einer wabernden, feiernden Menschenmenge bereits zu abendlich früher Stunde -
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so gut wie alles mussten direkt nach dem Zug hergekommen sein - zum Kochen gebrachten, Nebensaal des Gasthofes wieder war. Hol das Lasso raus! Wir spielen Cowboy und Indianer! Was willsdn trinkn? Ach, der is ja a no da. 'n Wodgaenergy! Na dann, gemmer do erstmal an die Bar! Und wie zuvor führte er sie an der Taille am Rand der tanzenden Jugendlichen hinüber zur aus Biergarnituren und Bambusmatten gezimmerten Bar auf der anderen Seite des Saales. Sie kam sich dabei sehr reif und erwachsen vor, man konnte meinen, sie habe einen großen, starken Freund an ihrer Seite, einen, den sie immer vermisst hatte in ihrer Kindheit, der sie beschützte.
Sie setzten sich auf die Hocker an die Bar. Er bestellte einen Wodkaenergy und für sich einen Cola. Sorry, dass i dich hier allans trinkn lass, aber i mo no fahrn. Jessi drehte sich von ihm weg und blickte auf die Tanzfläche. Rotnasiges Grinsen, lärmende Münder, zuckende Leiber. Smack my bitch up! Auch in ihr Gesicht zeichnete sich ein entspanntes Lächeln, als sie mit einem Schluck den süßen und doch brennenden Inhalt ihres Glases leerte. Du ziechst ja o, wie a Greislbumbn! Naja i moa mi doch a bissl aufwärmen. Er ergriff ihre Hand, die zuvor auf ihrem Knie lag. Des kann i do a machen. Ihr stief es auf, aber gerade noch konnte sie den Mund schließen und schluckte die aufkommende Übelkeit herunter. Was willsdn? No mal an? Es war mehr ein hicksendes Fiepen, doch als sie sich langsam unbeabsichtigt auf ihrem Hocker zu wiegen begann, hatte sie bereits ein neuses, volles Glas in der Hand. Prost Mädl! Er reckte ihr sein Glas entgegen. Sie versuchte ihren Oberkörper ruhig zu halten und wurde immer wieder hin und her gerissen, während sich alle um sie herum drehten. Bräunlich, süßstinkend erstreckte es sich auf seinem Poloshirt und tropfte langsam auf Hose und Schuhe. Tschulll-hicks-tschulldig-hicksung, dud mer Leid! I wolld di -hicks- nicht - Schon goad, i bin in a paar Minuddn wieder da, ned wegrenna. Die Umrisse verschammen, als er sie stehen ließ. Die Farben und Formen rauschten nur so durch ihren Kopf. Ihre Beine fühlte sie nicht mehr, als sie aufstand. Sie taumelte ungewollt nach vorne. Ein Stoß. Noch einer. Wie eine Pinballkugel wurde sie in die Mitte der Tanzfläche befördert. Kopf und Magen drehten sich im Einklang gegeneinander mit ihrem Körper, jedoch unkontrolliert. Die Gesichter, die sie kreisend umgaben, waren starr und kalt. Ihr Lächeln wirkte bedrohlich und aggressiv, wie sie von oben herab ihre Fratzen schnitten. Schnitten sie sie überhaupt? Waren das Masken, oder ihre Gesichter? Wir haben Grund zum Feiern. Keiner kann mehr laufen, doch wir können noch saufen. Ist uns auch speiübel, bringt den nächsten Kübel. Sie taumelte erneut und ein Ellbogen in ihren Magen besiegelte es. In einem bogenförmigen Strahl, der sich im Licht der Scheinwerfer, grün, rot,
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blau und gelb färbte, ergoß sich ihr Energy-Wodka in die umgekehrte Richtung zu Whiskey süß und Whiskey sauer, Johnnie Walker, Jägermeister, Amaretto, Kellergeister. Die Körper um sie schienen riesenhaft und böse. I mo hier naus!
Benommen wankte sie durch die tanzenden Massen, mitleidig begutachtet. Sich Schritt um Schritt an der Wand entlang tastend ging sie auf die beiden Bären zu, an denen sie vor nicht einmal einer halben Stunde triumphierend vorbeigezogen war und zog als sie die Treppe zum Parkplatz hinunter stolperte und dort auf ihre Knie nieder sinkend in den Schlamm fiel das Gelächter des rechten Türstehers auf sich. Soll i di heimfahren? N-n-ne! Oder dir a Dagsi rufn? I – i komm scho – i komm scho ham! Sie versuchte sich auf zu richten und gerade als sie sich mit ihrem Arm vom Boden abgedrückt hatte fiel sie rücklings wieder in den Dreck. Wie erbärmlich! Wie dragisch! Des arme Kind! Und doch blieben sie alle in der Reihe stehen und ergötzen sich an ihrem Elend. Die Bässe aus dem Gasthof drangen nach draußen, wie zuvor. Gedämpft, jedoch laut genug, um wie stählerne Hämmer auf Jessis Kopf ein zuschlagen. Wie lange hatte sie dort gelegen? Sie fror. Wie tot lag sie da, leicht bläulich und in einem braunen Mantel aus Schlamm; wie in ein Leichentuch aus Dreck gehüllt. Sie regte sich. Sie musste kurz das Bewusstsein verloren haben. Bemüht nicht gleich wieder zu Boden zu gehen mit schwerem Kopf und ebenso schweren Gliedern - die Müdigkeit hatte sie zusätzlich zum Rausch gefangen genommen - stand sie schwankend auf. Unsicher, einen Schritt nach den anderen setzen, ging sie über den nun menschenleeren Parkplatz. So kann i Mum ned under die Augn kumma. Nach einigen Metern erreichte sie auf der Gasthofsausfahrt gehend - und diese auch komplett ausnutzend - die Straße. Ne, i kann Mum gar nimmer under die Augen kumma. In ihr reifte der Entschluss, von zu Hause weg zu laufen, wie sie dort stand an der Straße: ohne Jacke, schlotternd, leicht gekleidet, schlampig, schlammig-schmutzig, verdreckt, betrunken. Sie begann zu schluchzen. Vielleicht net für imma, aber erst a mal fürd nächstn Dag.

Jetzt is mir die klane Dolln doch wirgli weggrennd.
Er stieg ins Auto. Gerad alse hacke gnug war und i mi mal wieder mid anner Unb'fleggn häd bürsdn könner. Ein kurzes Ruckeln. Der Motor lief und er fuhr über den schlammbedeckten Asphalt des Parkplatzes vor dem Gasthof, der seinem Vater gehörte und irgendwann einem ihm, dem einzigen Filius, nachdem seine Mutter seinem Vater weggelaufen war, als er noch ein Kind war. So jedenfalls haben es ihm die Alten im Gasthof nach einigen Bieren erzählt. Wieso wollten sie jedoch nicht sagen. Er fuhr am Eingang vorüber und hatte eine Idee, als
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er Marek seine langjährigen Freund, dem er den Job als Türsteher und Aushilfe im Gasthof verschafft hatte, in seiner dunklen Bomberjacke an der Tür stehen sah. Irgendwo mo des Mädl ja no sein.
Er fuhr die Ausfahrt des Gasthofes hinaus. Wer hält denn da den Daumen raus? Ne! Ja, da schau do mal anner o! Ein breites Grinsen legte sich auf sein Gesicht, als er dort das Mädchen von zuvor stehen sah mit durchnässtem Pulli, allein und zitternd.
Seine Augen glühten, als er sie genauer betrachtete, wie sie auf ihn, der vor ihr angehalten hatte, zu kommt , stolpert , sich aber mit den Händen am Boden abfangen kann und neben seinem Auto auf allen Vieren kriecht, wie ein räudiger Hund, das Rot ihrer Wäsche blitzt durch ein unschuldig beflecktes Weiß. A g'fallns Engla. Er lacht. Dreckig. Ja genau, dreckig wollte er es jetzt. Er musste sich zusammenreißen. Er ließ sein Beifahrerfenster mit einem kurzen Druck auf den Fensterheber zu seiner Linken herunter. Sie beugte sich nach vorne zu ihm ins Auto. Zu weit. Sein Großhirn setzt für eine Sekunde aus, bevor er sich unter größter Anstrengung zwang nicht Rot zu sehen.

Ihr war immer noch schwindlig und speiübel, aber sie musste aus der Kälte. Weg einfach weg! Sie hielt sich am Dach des Autos, das vor ihr hielt fest. Könna sie mi midnehma? Wohin denn, schönes Kind? Egal, bloß weg von hier. Er öffnete von innen die Tür und sie ließ sich müde und betrunken-plump auf den Beifahrersitz fallen. Die Wärme des Wageninneren übermannte sie und als ihre feuchte Kleidung und der matte schmerzende Kopf in das Leder des Sitzes drückten fielen ihr die Augen zu, noch ehe sie überhaupt die wenigen Meter bis zur Straßen gefahren waren. Wärme, als es dunkel wurde.

Sie begann leise zu schnarchen. Rhythmisch, nach einigen Sekunden wiederkehrend, blickte er zu ihr hinüber, Er konnte nicht davon ablassen. Wiese dort in ihr'm Sidz liegd: un'gschützd, verletzlich und grad deshalb so verdammd sinnli. Seine Sinne begannen sich, gleichzeitig mit seinen Gedanken zu verselbstständigen. Immer kürzer wurden die Abstände, in denen er zu ihr herüberblickte, immer blitzender die Blicke; das Glühen zwischen der Straße und ihrem regungslos unter allem Schmutz rein und einladend rot, unschuldig im schwachen Licht der Tachobeleuchtung matt glänzenden Körper hin und her. Konnte er? Solld i? Seine Hand wanderte langsam, beinahe schon zeremoniell langsam vom Lenkrad weg. Keiner würde etwas erfahren, keiner etwas merken; nicht einmal sie selbst.

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Das weiße Licht der Vollmondnacht wurde von schwarzen Wolken verschluckt, die heraufgezogen waren und der Nacht, dieser alten Macht, den Dunkel beistanden. Vorsichtig berührt er zuerst ihr Knie und streichelte es. In seinem Gesicht lag ein stumpfes befriedigtes Grinsen. Kein Auto kam ihnen entgegen, als sie durch die Nacht glitten, keine Hasenfamilie und kein Hirsch, einfach nichts störte seinen Weg, als seine Finger über ihre Jeans strichen und er ihre Wärme an seinen kalten Fingerspitzen spürte. Sie verzog keine Miene, kratze nicht, oder schrie, sie schnurrte nur leise, wie ein Kätzchen, ein braun-weißes Kätzchen, wenn man es krault. Seine Handfläche drückte sich an die Innenseite ihres Schenkels. Er begann sie zu streicheln, kreisend ihren Schambereich zu massieren. Merkt sie etwas? Kann sie aufwachen? Nur ihr schnurrendes Schnarchen wurde zu gleichmäßig tiefem Atmen. Sie genießd's! Geschickt öffnete er mit einer Hand den Knopf ihrer Hose - sicherlich war sie nicht die erste Frau, wenn auch die erste seit langem. Mit einem kaum wahrnehmbaren Zippen war der Reisverschluss geöffnet. Sein Großhirn war abgemeldet; von den Trieben zum Lieben getrieben: keinerlei Skrupel, keinerlei Kontrolle, nur noch Lust. Seine Hand spielte Verstecken. Warm, wärmer, feucht-warm, wurde es je näher er kam. Seine Finger hatten ihr Ziel gefunden, als er von der Straße auf den Feldweg abbog. Etz bloß ned zu schnell, sonst wachds no aff.
Nach einigen hundert Metern Feldweg kamen sie an dessen Ende an, welches von einer wendehammerartigen Lichtung gebildet wurde. Goad, die Schlaglächer hams ned gweggd. Kalt und nass war die Nacht. er stieg aus dem Auto. Warum und feucht war seine Hand, mit der er seine Geldbörse aus der Hosentasche zog und in ihr kramte. er zog etwas kleines, rechteckiges Schwarzes heraus und roch daran. Der sterile Geruch des Latex zwischen seinen Fingern vermischte sich mit dem so menschlichen Duft. Er zog ihn in tiefen Zügen ein und hatte ein freudig-kaltes Lächeln unter seinen starren dunklen Augen, als er es über, danach die Beifahrertür auf und sie langsam, darauf bedacht sie nicht zu wecken, wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe, aus dem Wagen zog. Er hielt sie in seinem Armen. Umschlossen. er beugte sich über sie und küsste sie.
Es kam ihr vor, als würde ihr Gesicht gegen ein Stück kaltes Fleisch gedrückt. Wo bin i? Was? Für einen kurzen Moment nur öffnete sie die Augen. Sie lag auf kaltem Grund, aber nicht mehr vor dem Gasthof, aus dem sie doch gerade erst gestolpert war. Das Licht brach sich durch riesige Bäume und warf lange Schatten auf den Mann, der breitbeinig über ihr stand; seltsam grinsend. Wie war sie hier her gekommen? War sie entführt worden? Ihr Kopf schmerzte, man musste sie entführt haben. Sie zitterte. Der Mann über ihr war
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mindestens doppelt so schwer wie sie und erheblich größer. Sie fühlte, dass ihr Unterleib
feucht war. Hatte er bereits? Nein! Sie riss die Augen auf. Sie erinnerte sich an den Selbstverteidigungskurs für Mädchen, zu dem ihr Mutter sie gezwungen hatte. Mit einem mal wusste sie, was zu tun war.
Ein langes, grässliches Heulen schallte durch das Dunkel des nächtlichen Waldes. Sie rannte. Um sie nur Schatten, Dunkel, Nacht. Sie stolperte keuchend. War sie überhaupt noch auf dem Weg und wenn ja, wohin führte der eigentlich? Hatte sie ihn verloren? Hatte sie ihn abgehängt? Jessi sah sich panisch um, ohne ihre Schritte zu stoppen. Sie erkannte nichts. Ihre Augen waren verheult und das Dickicht undurchsichtig. War da nicht etwas? Hinter ihr? Sie war sich sicher ein Rascheln gehört zu haben, versuchte aber verbissen und vor Verzweiflung erneut mit den Tränen kämpfend, sich einzureden, es sei nur ein kleines niedliches Häschen gewesen; ganz klein, ganz harmlos. Knack. Nein, das war kein Hase! Egal war es war, sie wollte weg; sie musste weg. Sie spürte wie sich die Kiesel in ihre Füße bohrten - ihre Stilettos hatte sie schon lange verloren - und das kalte feuchte Moos, dass ihnen dann wieder schmeichelte, als wollte es sagen, sie solle doch bleiben, so als würde sie dieser kalt-grüne hoffnungsvolle Grund auf ihrem steinigen Weg sie anziehen, sie festhalten. In einiger Entfernung strahlten am Horizont helle Flecken durch die Gitterstäbe des Waldes. Jessi schöpfte Hoffnung. Nur aus diesem Wald herauskommen und sie würde es schaffen. Das sie ganz feucht, verschwitzt und von den Striemen, die ihr die Äste und Sträucher zugefügt hatten, gezeichnet war, bemerkte sie gar nicht mehr. sie war entkommen, hatte es geschafft, dachte sie as sie das Gleichgewicht verlor und auf das einladend weiche Nass des Mooses fiel. Bevor sie den Waldrand erreichte hatte sie also eine gewöhnliche Wurze zu Fall gebracht. Auf dem Bauch lag sie dort. Hatte ihr vor wenigen Minuten nach der Unterleib geschmerzt, ihre Glieder rebelliert und der Kopf verrückt gespielt, war nun alles so furchtbar einfach. Neben den braunen und roten Flecken auf ihrem einst jungfräulichen Weiß kamen, als sich ihre Brüste, ihre Hüfte, ihr Gesicht anheimelnd an den zarten, kühlenden und Linderung des heißen stechenden Schmerzes versprechenden Grund schmiegten, wie sie dort lag, nach unzählige grüne hinzu. Grün, wie der Grund isd Hoffnung. Aff was darf i hoffn? Das der ganze Scheiß bald vorbei is? Nur schwer konnte sie ihr Gesicht vom Boden abwenden. Mühevoll drehte sie sich auf den Rücken. Liegenbleiben, einfach liegenbleiben. Alles werad gut, wenns blos endli morgn werad. Kanner werd mi sehn, kanner werd mi hära, kanner werd mi findn, kanner werd mi - ein schwarzer Schatten huschte knapp an ihr vorüber. Jessi starrte entsetzt in den Himmel und
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wagte nicht, auch nur zu atmen. Die verdeckenden Wolken glitten bei Seite und der helle
Schein am nächtlichen Himmel legte, sich durchs Geäst brechend, offen, was dort am Boden lag. Sie gefror nun vollends zu Stein, als sich der schwarze Schatten umwandte, auf sie zuging und von oben herab auf sie hernieder blickte.
Etwas scharrte nervös auf dem weichen Boden und riss ein Stück der Hoffnung heraus. Im fahlen Licht erkannte sie ein großes stämmiges Wesen. Ganz schwarz. Schwärzer als schwarz, schimmerte es, wie als sei der ganze Körper mit einem langen pechschwarzen Federkleid bedeckt. Unter diesem hoben sich, dort wo bei einem Menschen normalerweise die Schultern wären, zwei gigantische Flügelansätze, wie Buckel von der Silhouette. Is des a menschlich's Wesn? Wie kleine Flammen funkelten Jessi zwei Punkte aus dem ebenfalls dunkel glänzenden Schädel dieser Ausgeburt der Finsternis an und brannten sich stechend heiß in ihren Kopf. Jessi krallte sich ins Moos, klammerte sich an die Hoffnung, es müsse doch ein böser Traum sein, und sie wache bestimmt gleich auf. Es ist die letzte Hoffnung. A Draum! Sie schrie so laut sie konnte, schrill und verzweifelt, verheult mit der letzten Kraft eines erschöpften und unartig-trotzigem Kind.
Als lache es, war das Wesen seinen Kopf ein wenig zurück an reckte das Gesicht gen Himmel, so dass sein Schnabel der riesig zwischen den roten Punkten saß, spitz, silbrig glänzend, kalt strahlte, wie das Messer des alten Israeliten. Herr vergib mir!
Er breitete seine Flügel über Jessi aus. Jessi richtete noch einmal ihren Oberkörper auf und warf sich der Ungestalt entgegen, die über sie stürzte, ihre Hände nach vorne gerissen, wie ein wütendes Kind wollte sie sich in ihm verkrallen. Es wurde dunkel, als er sich über ihr vor den Mond schob, ausholte und hinunter stieß. Dumpf klang gedämpft leises Glockengeläut durch den Wald. Zwölf mal schlug es. Er nahm die Maske ab und besah sie im Mondschein. Sie hatte einige Blutspritzer abbekommen.
Weiß lag das Mädchen vor ihm. Nur einige braune, rote, grüne und blaue Farbnuancen hoben sich ab. Friedlich lag sie da, als er sich beschämt abwandte.

Man fand sie drei Tage später. Schon am Abend ihres Ausreißens war ihre Mutter zur Polizei gegangen. Man hatte ihr gesagt, sie brauche sich keine Sorgen machen, vermutlich wäre sie, wie so viele Mädchen in diesem Alter, einfach davon gelaufen, aus Trotz vielleicht, oder weil sie gerade keinen anderen Ausweg als das Weg sah. Vermutlich würde sie bald wieder zurückkommen, aber nichts desto trotz werde man eine Fahndung nach ihr starten. Die Suche verlief ergebnislos. Am dritten Tag entschloss man sich, die Umgebung
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gezielt nach ihr abzusuchen. Hundertschaften mit Stöcken und Hunden durchkämmten die
Wiesen, Felder, Wälder um das Dorf, über dem monoton bedrohlich wummernd ein Hubschrauber, aus dem die Beamten, mit Hilfe einer Wärmebildkamera, versuchten Jessi zu finden, kreiste. Doch an ihr war nichts mehr Warmes. Somit waren es auch nicht die suchenden Hundertschaften, noch das fliegende Auge des Hubschraubers, welche sie entdeckten, sondern ein einfacher Waldbauer fand sie noch bevor die grüne Wand seine Pacht abgeklopft hatte.
Dicklich und bleich schwebte sie über ihm, im Kostüm, welches Gott ihr für diesen letzten Faschingstag gegeben hatte. Zwar an einigen Stellen beschmutzt, zerkratzt, blutbefleckt, jedoch zu gleich von einer morbiden Eleganz, wie sie, die Hände an ihrem Pullover und diesen über einen Ast gebunden, dort hing im aufgehenden Dämmerlicht des neuen Tages, wie ein gefallener Engel, dem man die Flügel kupiert hatte und mit verzweifelt-aggressivem, starrem Blick in den weit aufgerissenen Augen; sie hatte gesehen, was auf sie zukam.

Die wo frech san
hold der Nachdgiecher!

war in großen roten Lettern auf ihren Brüsten und ihrem Bauch zu lesen; geschrieben vermutlich mit dem Lippenstift, der auf dem Häufchen verdreckter Kleidung unter ihr lag. Man hatte sich gar nicht die Mühe gemacht, Spuren zu beseitigen; war man sich so sicher, nicht erwischt zu werden? Der erste Anruf des Bauern galt nicht etwa der Polizei, sondern ging an die Zeitung. Keine fünfzehn Minuten später waren ein, eifrig damit Jessi wie ein totes Modell von allen Seiten abzulichten beschäftigter, Photograph und ein Reporter mit billig wirkendem Sakko und Diktiergerät, das er dem Bauern unter die Nase hielt, vor Ort. Wie vor sechszehn Jahrn, nur aufwend'ger aufg'hängd. Kanndns die Dode? Ja freili, bei uns im Dorf kennd do jeder jedn. Das war die klane vond er Moniga. Ich glaub Jessi had's ghasn. Dange, des reichd, den Rest findmer scho selber naus! Ihre Brämie könners sich mid dem Scheck hier einlösn.
Mittlerweile waren auch die Ermittler der Kripo eingetroffen und begannen das Terrain um den Fundort abzustecken und fein säuberlich alles zu dokumentieren und mit Zettelchen und Nummern zu versehen. Und über allem schwebte Jessi.
Schon am nächsten Morgen konnte man lesen,
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Nachdgiecher schlägt wieder zu - Nach 16 Jahren ein neues Opfer

Nur ein Detail hatten die Herren Reporter übersehen, wie auch die jungen ehrgeizigen Beamten der Kripo. Schnell sollte der Fall abgeschlossen sein. Ein Schuldiger musste gefunden werden, damit im Dorf Ruhe einkehrte und nicht wie damals jeder jeden verdächtigte bei der Enge des Dorfes, ohne auch nur zu wissen, ob es einer aus ihrer Mitte war. Ein psychothrillerartiger Hetzreigen musste verhindert werden. Nur zu gut traf es sich daher, dass unter den Fingernägeln des Opfers Hautzellen gefunden werden konnten, die nicht von ihr, aber vermutlich vom Täter stammen mussten: als sie sich gegen ihr Vergewaltigung, bei welcher sie dem Gerichtsmediziner zu folge entjungfert wurde, gewehrt hatte musste sich sich gewehrt haben. Zweimal hatte man ihr auf den Kopf geschlagen. Einer davon war tödlich. Sperma oder Schweiß, die den Vergewaltiger eindeutig identifiziert hätten fand man jedoch nicht. So kam es, dass die Polizei, nach Hinweisen aus der Bevölkerung den Aushilfsarbeiter Marek vom Gasthof Waldheim, von dem es hieß, er sei auf dem Faschingszug in einem Kostüm gesehen worden, das die Figur des Nachdgiechers dargestellt hatte. Als die Polizei ihn verhörte, erkannten sie Kratzspuren an seinen Unterarmen. Der Vergleich seiner DNA mit der der Hautzellen, die man unter den Nägeln der Toten gefunden hatte, überführte ihn als vermeintlichen Mörder. Und sollte er es doch nicht gewesen sein, war er doch ein willkommener Sündenbock, um die Stimmung zu beruhigen. Die Beweislage war jedoch sowieso erdrückend und so wurde Marek, der jede Aussage, selbst nach mehrmaligem Drängen des Richters, verweigerte, zu lebenslänglich verurteilt.

Das war vor einem halben Jahr, wenn ihr euch noch erinnert? Der Junge sieht fragend in drei Augenpaare. Sie sitzen um ein lodernd zuckendes Lagerfeuer. Zwei Pärchen. Jugendliche, vielleicht erst pubertierende Kinder, die in ihren Ferien gleich neben dem Aussichtspunkt unweit des Dorfes ihre Zelte aufgeschlagen haben und nun bei einigen Bieren am Feuer sitzen. Ein großgewachsener, hagerer Junge mit halblangen gegellten blonden Haaren, vielleicht siebzehn Jahre alt, hält seine Freundin im Arm. Sie ist jung, ein oder zwei Jahre jünger als er vermutlich, vielleicht auch drei. Sie hat schulterlange, glatte aschblonde Haare, die im Schein des Feuers golden glänzen. Sie sieht schön aus, wie die Flammen Schatten auf ihr süßes kleines Gesicht zaubern. Ob sie noch Jungfrau ist? Vom
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zweiten Pärchen, das ebenfalls aneinander geschmiegt, dem ersten gegenüber sitzt, in eine Decke gehüllt, ist nur der Junge zu erkennen. Etwas älter als der erste, kurze braune Haare, kräftig gebaut; etwas zu kräftig. Der blonde Junge erzählte den drei anderen seit knapp einer halben Stunde, vielleicht seit einer Stunde etwas, wahrscheinlich eine Gruselgeschichte. Sehr gut.
Was aber, wenn es gar nicht Marek war. Ich hätte ihm sowas nie zugetraut. Er war doch ein netter aufgeschlossener Mensch. Er war immer nur um seinen Job als Türsteher besorgt und hat dennoch auch mal den ein oder anderen Minderjährigen rein gelassen, wenn er ihn kannte. Was wenn der Mörder immer noch hier draußen rumläuft? Jessi wurde nur einen Kilometer von hier gefunden. Oder was, wenn es wirklich einen Nachdgiecher gibt? Bei den letzten Worten senkt er verschwörerisch die Stimme und blickt mit hochgezogenen Augenbrauen in die Runde. Gelächter war die Antwort. Du bisd do debberd. I hab scho bess're Versuch g'hörd, die Mädls Angsd zu machen. Edz verzähl i a mal a G'schichd. In anner dungln Nachd - Sie lauschen der Geschichte des anderen und vernichten ihre Biervorräte. Sehr gut.
Langsam brennt ihr Feuer nieder. Die Zeit verstreicht. Nachdem auch die Geschichte des Zweiten nur mit Lachen honoriert wird, trennen sich die beiden Pärchen. Der Kräftige und seine, nun zu erkennende barock gebaute Freundin bleiben beim Feuer sitzen, trinken und küssen sich. Wie bizarr die beiden. Das blonde Pärchen hingegen nimmt sich zwei Decken und geht eng umschlungen die wenigen Meter zum Aussichtsfelsen, einer Felskante, die dreißig Meter zum Tal hin senkrecht abfällt, um im Halbdunkel der Sternennacht zu zweit allein sein zu können. Sehr gut. Er breitet eine der Decken ein paar Meter vor der abfallenden Felswand und etwa zwanzig Meter vor den ersten Bäumen des, bis beinahe an die Wand heranreichenden, Waldes aus. Die beiden nehmen darauf Platz und blicken, sich in Armen haltend, in die zweite Decke gehüllt, in den unbedeckten Himmel. Wie niedlich. Langsam fährt seine Hand auf und ab. Der Junge streichelt seiner Freundin den Rücken und sie flüstert ihm sicherlich Schweinereien ins Ohr.
Du, gemmer do lieber wieder zu die andern, ich fühl mi ned wohl. Hab i was Falschs gmachd? Ne, ne, is ned die Schuld. Er zieht seine Hand zurück und lacht bevor er ihr liebevoll über die Wange streicht und sie lachend anblickt: Hab i dir Angsd gmachd? Dud mer Leid, sowas wie an Nachdgiecher gibds do gar ned und außerdem wär solld i mid meim Stuss do Rechd ham - wieder lacht er - immer no i bei dir, um di zu beschützn. Er legt seine Arme um ihren Hals und zieht sie zu sich. Bok! Bok! Bok! Kurz bevor ihre Lippen die
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seinen erreichen zieht er seinen Kopf zurück und pickt lachend mit seiner Nase nach ihr während er mit den Armen Flügelschläge simuliert. Sie weicht erschrocken zurück. So a Debb. Du bisd do echd debberd. Nun hält sie seinen Kopf mit beiden Händen fest und sie küssen sich. Er beginnt ihr mit beiden Händen ihr Top auszuziehen. Sie hebt die Arme. Rot!
Er zieht ihr das Top über den Kopf und hält es, es betrachtend in Händen. Was is? I hab da a Idee, dies für di a weng inderessander machd. Sie sieht ihn fragend an. Er rutscht auf den Knien hinter sie, wickelt ihr Top zu einem Band zusammen und verbindet ihr damit die Augen, während er ihren Hals liebkost. Nach einigem Gehakel öffnet er den Verschluss ihres Büstenhalters und ein rotes Stück Stoff segelt, wie eine kleine Leuchtkugel, hinter ihnen zu Boden. Auch er zieht sich rasch sein T-Shirt über den Kopf und sie lehnt sich in seine Arme zurück. Ein leises Stöhnen dringt an seine Ohren, als er beginnt mit einer Hand ihr Brüste zu massieren und mit der anderen ihren Körper abfährt und erkundet. Dieser junge Körper, wie er vor seinem Auge dargeboten wird, das leise tiefe gleichmäßige Schnaufen und der schwache rote Schimmer unweit von ihr - vor seinem Auge laufen Bilder ab. Bilder von Vergangenem, Bilder von Gegenwärtigem, Bild von Möglichem. Zeid für an Stellungswechsl!

Hinter ihnen raschelte es. Der had nix g'hörd, dazu iser viel zu vertiefd in – aber had sie gerad den Kopf drehd? War da was? Sie stutzt. Er nimmt seine Hände von ihr. Momend, ned umfalln, i zieh mer blos schnell was über! Als er aufsteht und in seiner Hose nach dem Geldbeutel kramt, verschränkt sie zitternd die Arme vor der blanken Brust - sie fröstelt.
Mit einem dumpfen Laut fällt hinter ihr etwas auf die weiche Erde.
Sie nimmt die Binde von den Augen. Ein riesiger schwarzer Schatten kommt auf sie zu, nur zwei Punkte aus ihm heraus funkeln sie an. Ihr Schrei wird erstickt vom weißen Tuch, das sich wie chlorophilreicher Nebel auf ihre Lippen und ihre Nase legt und sie nur noch wahrnimmt, wie der dunkle Schatten von völligem Schwarz abgelöst wird, als sie langsam auf ihn zu kippt.

Behutsam, wie ein zerbrechliches Gut, legt er sie auf den Boden vor ihm. Sie ist zerbrechlich. ja, er konnte sie brechen. Von oben herab betrachtet er sie; ihre vollen Lippen, herrlich fruchtig rot und weich, das Gesicht friedlich entspannt; einladend. Was etz? Etwa eine Stunde würde er Zeit haben und wenn er richtig dosiert hatte konnte keines der Kinder sich an etwas erinnern. Er könnte dem Junge das Chlorophilfläschchen und das Tuch
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unterjubeln. Ja, genau! Und zuvor warten vor ihm die, im seidenen Licht der Nacht schimmernden, weißen Hügel und unentdeckt Höhlen. Und absichern nicht vergessen. Er sucht, seinen Umhang hebend, in seiner Hosentasche. Ausrüsdung olegn! Und jetzt Mund -
ein harter Schlag trifft seine Schläfe. Er taumelt nach hinten auf die Abbruchkante zu, tritt auf seinen Umhang. Ein fester Tritt schleudert ihn nach hinten. Er verliert den Grund unter den Füßen und flattert, wie ein bleierner Vogel, mit panischem Flügelschlag und langgezogenem Schreckens- und Schmerzensschrei dem Grund entgegen. Oben, an der Kante, steht der beleibtere Junge mit hasserfülltem Gesicht. Er had also do Rechd ghabd; des Oarschluch gab'S wirkli.
Noch ein Blick nach unten. Regungslos, zerschmettert lag er knappe dreißig Meter unter ihm. Der is gfreggd. Seine Freundin zieht gerade der, immer noch betäubten, Freundin ihr Top an und sieht ihn mit großen Augen an. A Glügg dassmern bmergd ham. Ja. Der Vugl machd kam mehr was. Häd echd ned dachd, dassmer mei Dek-wan-do a mal was bringd.
Wärsd ned gewesn - sie schluckte - sie wär die Nächsd gwesn. Erst jetzt wird er sich der ganzen Situation wirklich bewusst und steht seine Hände ungläubig betrachtend, fassungslos da. Er hat einen Menschen getötet, um einen anderen zu retten; wenn diese Gestalt wirklich etwas Menschliches hatte.

Noch wacklig auf ihren Beinen schleppen sich die gerade aus ihrer Narkose erwachten Jugendlichen, das junge blonde Mädchen, das mit dem Schrecken davon gekommen ist und mit selbigem kämpft, mit verheulten Augen und ihr Freund, ob seiner Hilflosigkeit und seines soeben offen zu Tage getretenen Unvermögen sie beschützen zu können, da auch er immer noch ein Kind ist, auf ihrer beiden Freundin zum Vierten an die Kante. An ihren zitternden Körpern zieht die Erkenntnis, Glück gehabt zu haben, mit dem morgendlichen Nebel, der alles in ein unwirklich weiches Grau taucht empor. Regungslos stehen sie dort und sehen sich betroffen an.
I will die Sau sehn! I will sehn was fürn Oarsch da undn verregd is! Der vierte, füllige Jugendliche wendet sich von der Gruppe ab und geht an der Kante entlang bis zu der Stelle, an der sich ein kleiner Pfad durch den unterhalb beginnenden Wald bis hinunter zu dem Ort schlingt an dem die Leiche liegt, oberhalb jener die anderen drei, aus ihrer Trance erwachend, ihrem dicklichen Freund zügig nachlaufen – vielleicht um nicht mit sich und ihren Gedanken allein sein zu müssen.

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Kühl und steril brechen die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne blutrot durch die weiße Decke, welche das Szenario umgibt. Sein Gesicht regungslos, schreckensbleich, die Augen weit aufgerissen, als ihm die Maske vom Gesicht zieht. Auch die Minen der drei anderen, die den Leichnam umringen, der auf dem Rücken, den Hals seltsam verdreht, wie ein unförmiger schwarzer Klumpen liegt, sind fassungslos starr, als sie ihn erkennen: es war der Sohn des Waldheimwirtes, den alle Jugendlichen am Ort von unzähligen Feiern kannten und wegen seiner Großzügigkeit mochten.
Warm färbt sich das Weiß seiner Haut langsam gelb, gelb wie das band, das die Männer in den weißen Anzügen in einigen Metern Abstand genau wie einen weißen Kreis um ihn ziehen, als sich der Nebel hebt. Genickbruch - neben einigen anderen. Der Mann, der eben noch neben der Leiche, die in ihrem Kostüm, wie in ein Totenkleid gehüllt, das Hauptziel der Objektive der anrückenden Kamerateams ist, welche von den Polizeibeamten nur mühevoll zurück gedrängt werden können, kniete, erhebt sich und geht auf den leitenden Kommisar zu.

Das Flimmern des Fernsehers auf dem Schränkchen vor dem Küchentisch beachtet er gar nicht weiter, während er sich eine Semmel aus der Tüte nimmt, das Messer in sie rammt und sie teilt. Er greift nach dem Marmeladenglas, öffnet es, steckt sein Messer hinein in das süße Rot des Gelees und beginnt einen Hälfte seiner Semmel, die er in der Hand hält, zu bestreichen. Vergewaltigung gerade noch entkommen - er schaut auf. Ein aufgelöstes Mädchen und ein junger Mann, bemüht sich zu fassen, werden von einem Reporter interviewt. Auf dem Balken am unteren Bildschirmrand ist der Name der Gemeinde zu lesen. Die Kamera schwenkt und lässt die Kinder abseits alleine. Zu sehen ist jetzt ein schwarzer Haufen Stoff, der dort zerknittert am Boden liegt und über den Männer in schwarzen Anzügen gerade beginnen ein weißes Tuch zu ziehen, um alles zu verdrecken. Die Kamera zoomt heran und er erkennt das starre Gesicht seines Sohnes; die Augen geschlossen im Mundwinkel ein roter Streifen. Seine Finger verkrampfen und zerquetschen die Semmel zwischen ihnen. Marmelade rinnt zäh über seine Hand und tropft von ihnen. Gebückt sitzt er in seinem Stuhl, der Blick alt und leer. Had sichs also wiederhold!
Von Müdigkeit geschlagen richtet er sich mühevoll in seinem Stuhl auf und steht, sich auf den Tisch stützend auf. Einen schweren Schritt nach dem nächsten schreitet er bedächtig aus der Küche hinaus ind en Hausflur zum Fuße der Treppe. Er taumelt, von einem Schwindelanfall heimgesucht und stützt sich mit den roten Händen an der kalten Mauer ab.
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Begleitet von ächzenden Lauten schleppt er sich die Stufen hinauf und schlurft zum Zimmer seines Sohnes hinüber. Erst jetzt fällt ihm das Poster an der Tür bewusst auf. Kopfsteinpflaster und ein roter Stöckelschuh, überzogen mit Regen. Er tritt ins Zimmer. Das Bett gewohnt gemacht, nichts liegt herum, alles hat seine Ordnung, einige T-Shirts und eine Jeans baumeln legere über dem stummen Diener im anderen Eck des Zimmers, nur das leise Summen des Computers durchdringt die Stille des Raumes, der durch die roten Vorhänge, durch die die Morgensonne fällt, in ein positives Licht gerückt wird. Er schaltet den Bildschirm an. In den Sekunden bis dieser hochgefahren ist mustert sein trüber Blick den Schreibtisch. Wie auch das gesamte Zimmer ordentlichst aufgeräumt: unter einem Stein einige Dokumente, Briefe, Rechnungen, daneben in einem Becher: Bleistifte, Kugelschreiber, Textmarker. Alles schnörkellos; lieblos steril. Nur eines sticht ihm ins Auge. Der Bildschirm vor ihm wird hell. Eine Internetseite erscheint. Es handelt sich um ein Angebot an Liedtexten und aufgerufen offen schienen ihm dort die Zeilen von Nirvana - Polly,wie die dicke Schrift oben über dem Text verrät, entgegen. Kenn i ned. Mehr als den Titel liest er nicht. Er schaltet den Bildschirm wieder aus, denn etwas anders hatte ja bereits zuvor seine Aufmerksamkeit erregt. Strahlend weiß lag auf dem Schreibtisch ein einzelnes Blatt Papier und war mit der krakeligen Schrift seines Sohnes beschmiert.

Let's blame the illegal bird

She wants a drink
I think I should get off her
I think she wants some vodka
To turn off the brain

Isn't me
Nobody can see
Let me rest my torrid tongue
Let me take a ride
Don't cut yourself
Want some help
To please myself

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She wants to flee
Maybe she like the bird I've sent
He knocked her - bound her - for me
The chase was nice - not for her
Now I send him away - wanna be alone

With you
Let me take a ride
Don't cut yourself
Want some help
To please myself

She caught me off my guard
amazes me, the will of instinct
Now she has to die.

I've some rope
To hang you higher
In the morning light

Bleich und schwach stützte er sich auf den Tisch. So rächds sichs also do. Ausgrechnd sie!
Es klingelt. Noch langsamer als zuvor geht er die Stufen wieder hinab, den Brief in Händen. Es dauert. Aufmachn! Bolizei! Zwi junge Beamte in den klassisch-senfgrünen Uniformen stehen vor ihm, als er die Tür öffnet. Wir müssn mid Ihna redn. Es gehd um Ihrn Sohn. I waß. Er bittet die beiden Polizisten in die Küche, schaltet den Fernseher, in dessen Programm gerade die Vorfälle der letzten Nacht kommentiert werden, aus und setzt sich zu den beiden an den Küchentisch. Sie wissens also scho? Ja. Nun goad, dann müssmer Ihnen scho nimmer sagn, dass Ihr Sohn dod is. Wir häddn an Sie aber no a baar fragen, grad weger dera Vergewaltigung und Dödung vor am Jahr, weger dene ja ihr ehemaliger Ang'stelder verhafd worn is und no a bissl sei Straf absitzn darf. Die könners sich sparn. Ausdruckslos sieht er in die Gesichter zweier verwunderter Beamter und übergibt dem einen den Brief, den er im Zimmer seines Sohnes gefunden hatte.
Wies ausschaud mä mer den Fall neu afrulln; er scheind wohl do nur Beihilf g`leisded zu
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ham und dann hadder sei Goschn gehalnd. Oder hams den bedrohd ghabd, den Kupf für Ihrn Sohn hinzuhaldn. I? Er klingt schwach und müde. Ne, I hab bis vor a baar Minuddn genauso wenig gewussd wie Sie. na goad, für heit hammers g'nug in Anspruch gnummer. Haldens sich aber bidde für weidere Vernehmungn zur Verfügung! Unser Beileid.
Die beiden stehen auf, verlassen die Küche und der alte Mann hört alleine am Tisch sitzend nur die Haustür ins Schloss fallen. Er schlägt die Hände vor sein Gesicht und stützt die Ellbogen auf der Tischplatte ab und verweilt einige Sekunden, bevor er, die Hand über dem Kinn faltend, den Blick nach oben richtet und fehlend an die Decke starrt, bevor er den Kopf auf die Brust fallen lässt.
Had der Herrgod die Dad doch noch gsünd, mid Schicksal, des wo ma blos von die Griechn kenna dod! Sei Mudder had scho g'wussd wiesos wegg'rennd is.
Wieder klingelt es an der Tür. Wern wohl die Bullen sein. Die mähn irgendwas vergessn ham zu fragen. Wieder quält er sich von seinem Stuhl. Die Nachricht dieses morgens hatte ihn knapp fünfzehn Jahre zurückgeworfen und mindestens genauso viele mit einem mal altern lassen. Er öffnet die Tür. Hams was vergessn? Er stutz. Er blickt in das Gesicht einer energischen Frau Mitte dreißig. Irgendwoher kannte er sie. Er erinnert sich nicht woher. Er blickt in die Mündung des Laufes einer Pistole in ihren Händen, die auf ihn zeigt. Ja, dir zu sagen, was für ein widerliches Oarschluch du bisd! Dumpf schlug er auf dem harten Grund des Hausflures auf; die Tapete und der Boden um ihn herum rot gesprenkelt.

Ein kurzes Lächeln umspielt ihr Gesicht, als sie die Pistole neben ihm fallen lässt und mit ihren ledernen Handschuhen in ihrer Handtasche suchte. Sie hatte es schon lange vermutet und sich nur wegen Jessi zurück gehalten aber nun -. Sie tritt in die Küche und geht zum Telephon auf dem Schränkchen neben dem Fernseher. 110. Hallo hier Poli- Mit verstellt tiefer Stimme: Noch a Giecherla is ferdig! Sie legt auf, tritt an den Tisch und zieht aus ihrer Handtasche einen vergilbten Zeitungsbericht.

Ermittlungen im Vergewaltigungsfall ergebnislos eingestellt -
Identität des Nachdgiechers bleibt ungeklärt

Als sie bei strahlendem Sonnenschein ins Dorf hinein läuft, kommen ihr zwei Streifen- und ein Krankenwagen entgegen. das blaue Blinken und die Sirenen der Martinshörner heben ihre Stimmung zusätzlich. A echder Faschingszug im Augusd!
 

Enola Aileen

Mitglied
Hallöchen

Habe mich heute mal durch deine Geschichte gequält.
Das soll jetzt aber nicht durchweg negativ klingen, aber ich fand sie schon reichlich lang.
Zu deinem Schreibstil muss ich sagen, dass er mir soweit recht gut gefällt, bis auf ein-zwei Kleinigkeiten.
Zum einen fehlt mir bei deinem Werk die klare Abgrenzung der wörtlichen Rede. Nicht immer war mir klar, wer hier was sagt und wann. Sicher, dein eingebauter Akzent sollte wohl ein wenig von dem normalen Text abgrenzen, doch denke ich, dies ist der falsche Weg. Es war doch schon sehr mühsam, sich durch das Urbayrische zu kämpfen.
Schreib ganz normal und markiere deine wörtliche Rede unbedingt mit den sogenannten "Gänsefüsschen". Das macht es dem Leser leichter die Gedanken deines Charakters nachzuvollziehen.
Dann sind mir noch einige merkwürdige Ausdrücke aufgefallen.
-Choreograph? - Hier meinst du sicher ein Chronometer (Eine Uhr)
- Im Einklang gegeneinander????? Das geht nicht!!!! Das ist ein klarer Widerspruch. Schreib lieber: Ihr Magen fühlte sich an, als drehte er sich in mehrere Richtungen gleichzeitig.

Ansonsten gefällt mir deine Geschichte schon ganz gut, obwohl ich dir zu einer kleinen Überarbeitung raten würde, wobei du darauf achten solltest, dass deine Gedankensprünge nicht gar so heftig ausfallen und versuche das wirklich unwichtige an deinem Werk zu streichen. (Auch wenns schwerfällt). Das würde deine Story noch spannender machen, und ganz nebenbei auch leichter zu lesen sein.

So, ich hoffe ich konnte dir damit ein wenig weiterhelfen.
Sei nich böse über meine Kritik, denn ich glaube, wenn du diese kleinen Mankos in den Griff bekommst, bist du auf einen guten Weg.

Gruß Enola!!!
 
D

Dominik Klama

Gast
Das Horrorgenre streifende Kriminalgeschichte mit zwei Vergewaltigungen bzw. erzwungenen Geschlechtsverkehren, die sich im Abstand einer Generation jeweils in der Faschingszeit in einer fränkischen Landgemeinde ereignen. Der oder die Täter tragen Masken, vielleicht steckt sogar der in dieser Gegend oft beschworene Nachtgeist dahinter, der ungezogenen Jugendlichen aufzulauern pflegt. Starker, durchaus fesselnder Tobak mit nicht peinlich wirkender Dialektgrundierung. Allerdings exerziert der Autor so ziemlich sämtliche altbekannten Muster und Winkelzüge eines Subgenres, überrascht an keiner Stelle wirklich. Während so lange wie möglich die Spannung gedehnt wird, was den prononciert zu mehr oder weniger wehrlosen Opfern Zurechtgemachten bald zustoßen könnte, wechselt die Erzählperspektive zur subjektiven Sicht eines Täters, den wir Leser als solchen noch nicht richtig identifiziert haben. Man kennt das (zum Beispiel) aus „Das Schweigen der Lämmer“.

Gerade aus ihren Parallelismen, zweimal Fasching, zweimal ein betrunkenes Mädchen, zweimal das Personal einer einsamen Waldschänke – Opfer 1 und Opfer 2 sind Mutter und Tochter – in der Schänke wartet ein Vater mit seinem Sohn, will die Story einen perfektionistischen Reiz der Geschlossenheit ziehen. Dies führt aber nun dazu, dass eigentlich jeder, der halbwegs klar denken kann und mal einen Serienmörderfilm gesehen hat, nach der Hälfte des Geschichte weiß, wie das ausgehen wird. Der Rest wird dann lang.

Es möge gestattet sein, ein wenig zu sinnieren, ob solche Böser-Mann-Täter-vs.-abenteuerlustige-Jungfrau-wehrlos-gemacht- Geschichten, zumal sie meist von Männern ersonnen scheinen, die Bösartigkeit ihrer Monster nicht gerade darum so herausstreichen, die kranke Fantasie der Täter veranschaulichen, indem sie deren sexuelle Verklemmungen zu inneren Monologen gerinnen lassen, weil so eine Möglichkeit sich eröffnet, wie man männliche Sexualfantasien in gesellschaftlich tolerierte Sprache kanalisieren kann. Mann kann sie aufs Papier bringen, indem man sie einem Monster zuschreibt, das mit dem Autor auf keinen Fall verwechselt werden kann – und am Ende auch grausam zur Hölle fährt, während der Schreibende munter weiter fantasiert. Von Anfang an und gleich zweifach stellt sich ein männlicher Erzähler unmissverständlich auf die Seite der weiblichen Opfer. Jemand wie de Sade war wesentlich radikaler. Der übertrieb das Gesunde seiner kranken Fantasien mit allem zur Verfügung stehenden Mutwillen. Aber jener Mann saß einen großen Teil seines Lebens auch hinter Gittern. Obwohl jedermann eigentlich klar ist, dass ein fundamentaler Unterschied zwischen Sexualfantasie und krimineller Handlung besteht. Nun, wie auch immer. Ich will nur sagen: All die so gruselig sich gebenden Horrorstorys, mit denen wir heutzutage abgespeist werden, sind nicht halb so radikal und riskiert, wie sie vorgeben zu sein. (Gewiss nicht, wenn sie aus den USA stammen.)

Wäre die Vergewaltigung einer geistesschwachen, schielenden, zahnlosen, übergewichtigen Fünfzigjährigen mit Hornbrille, Sackkleid und Oberlippenbart weniger brutal, verheerend, sträflich und krank als die einer jungfräulichen Fünfzehnjährigen mit knapp sitzendem roten Tanktop? Nein, keineswegs. Sie entbehrte jedoch eines gewissen erotischen Thrills für den ganz normal empfindenden heterosexuellen Mann, nehme ich an. Das zu erkennen und damit klarzukommen setzt eine souveräne Distanz zum eigenen Triebleben voraus, über die unser Autor nicht gebietet.

Nun, das war kontrovers genug. Ich will mehr aufs Handwerkliche schauen. Grundsätzlich, wobei ich über zahlreiche Rechtschreib- und Kommafehler hinwegsehe, auch über den mangelnden Fleiß, das einmal Erreichte einer selbstkritischen Feinarbeit zu unterziehen, was sich in vielen Flüchtigkeitsfehlern äußert, bin ich der Ansicht, dass wir es mit jemand zu tun haben, der recht annehmbar schreiben kann. Nicht nur die Handlung fesselt, gerade auch die sprachliche Umsetzung ist nicht übel. Gänsefüßchen vor der wörtlichen Rede im Dialekt würden das Lesen zwar etwas erleichtern, müssen aber nicht sein. Der Vorrednerin sei gesagt, dass man aus dem Profil des Autors erfahren kann, dass er aus Mittelfranken (Nürnberg, Ansbach, Gunzenhausen) stammt. Somit handelt es sich keineswegs um „urbayerischen Zungenschlag“, sondern um Fränkisch, was zwar im Freistaat Bayern gesprochen wird, aber nicht viel zu tun hat mit Bairisch. Und man versteht es ja auch. Würde es noch besser verstehen, wenn nicht auch dieses Fränkisch immer wieder Verschreiber aus Flüchtigkeit enthielte.

Der Autor erzählt gern. Er lässt sich viele Details einfallen, die den Text lang machen. Das muss nicht schlecht sein. Stephen King verkauft seit Jahrzehnten viel zu dicke Schwarten einem Millionenpublikum. Ihnen kann dieses Garn gar nicht lang genug sein. Aber wer lange Texte schreibt, der setzt viele Worte. Und wer viele Worte setzt, der macht sich das Leben schwer. Denn jedes Wort kann falsch sein, zu viel oder zumindest an der falschen Stelle. Wer viel schreibt, muss viel verbessern. Und damit hat es unser Autor nicht so. „Wenn du doch nur das viele Fett am Ende wieder weggetan hättest!“, möchte ich ihm zurufen. Zum Beispiel hier:

„Er öffnete von innen die Tür und sie ließ sich müde und betrunken-plump auf den Beifahrersitz fallen. Die Wärme des Wageninneren übermannte sie und als ihre feuchte Kleidung und der matte schmerzende Kopf in das Leder des Sitzes drückten, fielen ihr die Augen zu, noch ehe sie überhaupt die wenigen Meter bis zur Straßen gefahren waren.“
Dass ein im Auto sitzender Fahrer die Tür „von innen“ öffnet, ist wohl selbstverständlich. In Verbindung mit der Vorliebe des Verfassers für lange Sätze ergibt sich hier für eine Sekunde die Irritation, dass wir uns fragen, ob „sie“ die Tür ist. Die Tür ließ sich müde fallen? Nein. Ebenso: Der Kopf schmerzt. Der Kopf ist matt. Die Wärme übermannt. Die Augen fallen zu. Wir haben es wirklich begriffen. Aber nein, unser Autor hält für nötig, noch mitzuteilen, dass es vom Hof bis zur Straße wenige Meter sind. Und dass die Augen genau auf diesen Metern zufallen.

Die Liebe zu komplizierten Nebensatzkonstruktionen (oft einhergehend mit einer gewissen Unentschiedenheit, wie diese mit Kommas zu gliedern seien) führt ein ums andere Mal zu grammatischem Wirrwarr und zu unfreiwillig komischen Stilbrüchen. Beispiel:
„Neben den braunen und roten Flecken auf ihrem einst jungfräulichen Weiß kamen, als sich ihre Brüste, ihre Hüfte, ihr Gesicht anheimelnd an den zarten, kühlenden und Linderung des heißen stechenden Schmerzes versprechenden Grund schmiegten, wie sie dort lag, nach unzählige grüne hinzu.“
Zwischen die Brüste und dem, was sie tun, nämlich: sich schmiegen, ist hier so viel Stoff gelegt worden, dass der Autor am Ende selber nicht mehr weiß, wie der Satz angefangen hat. Beziehungsweise: Vom Ende her gesehen hätte er den Anfang zu „Neben die (!) braunen...“ ändern müssen. Oder statt „neben“ „zu“ schreiben müssen. Doch, damit nicht genug, er strengt uns außerdem an mit einer entbehrlichen Ergänzung: „wie sie dort lag“.

Grotesk wird dies Auseinanderziehen von Anfang und Ende im Satz, wenn trennbare Verben ins Spiel kommen. Die sind eine unbequeme Spezialität des Deutschen. Grammatisch durchaus korrekt gesetzt, machen sie den Stil mehr oder weniger „unmöglich“, so man dafür sensibel ist:
„Er bittet die beiden Polizisten in die Küche, schaltet den Fernseher, in dessen Programm gerade die Vorfälle der letzten Nacht kommentiert werden, aus und setzt sich zu den beiden an den Küchentisch.“
So etwas schreibt jeder mal, aber man sollte sich nachher genug Zeit lassen, es zu merken und zu verbessern! Schlecht ist auch „in dessen Programm“. Weil wir vorher sowieso gelesen haben, dass er im Fernsehen die Entdeckung der Leiche gesehen hat, braucht es den Relativsatz nicht. Auch würde reichen: „Er setzt sich zu den beiden.“ Oder auch: „Er setzt sich an den Küchentisch.“ Zu viel Fett.

„An ihren zitternden Körpern zieht die Erkenntnis, Glück gehabt zu haben, mit dem morgendlichen Nebel, der alles in ein unwirklich weiches Grau taucht empor. Regungslos stehen sie dort und sehen sich betroffen an.“
Mei, oh mei, wie weit weg dieses „empor“ von „zieht“ ist! Mal abgesehen davon, dass „die Erkenntnis zieht am Körper empor“ keine Glanzstunde deutscher Literatur darstellt. Was aber wäre so schlimm daran, alles ein wenig knapper zu sagen? „Im Morgennebel sieht alles grau und unwirklich aus. Zitternd stehen sie und schauen sich betroffen an und ahnen, sie haben Glück gehabt.“

Wie es üblich ist, wird diese Geschichte weithin im Imperfekt erzählt. Und, wie gesagt, zwar mit wechselnden Perspektiven, nahezu immer aber aus Sicht einer handelnden Person. Sind solche Erzählgesetze erst einmal etabliert, bricht man sie nicht ungestraft, indem man Zeit oder Perspektive grundlos wechselt:
„Das weiße Licht der Vollmondnacht wurde von schwarzen Wolken verschluckt, die heraufgezogen waren und der Nacht, dieser alten Macht, dem Dunkel beistanden. Vorsichtig berührt er zuerst ihr Knie und streichelte es. In seinem Gesicht lag ein stumpfes befriedigtes Grinsen. Kein Auto kam ihnen entgegen, als sie durch die Nacht glitten.“
Hier erleben wir die Handlung mit „seinen“ Augen. „Er“ sieht den Mond vom Wolken verschluckt werden. Die Nacht ist „seine“ Macht. „Er“ berührt. Ja, aber das darf er nun nicht im Präsens tun, nachdem er bis eben grade alles im Imperfekt getan hat. Dann wieder: „streichelte“! „In seinem Gesicht lag ein Grinsen.“ Okay, wieder Imperfekt. Aber nicht mehr „seine“ Perspektive. Selbst wenn er sein Grinsen im Rückspiegel sehen würde, er würde es innerlich nicht als „Grinsen“ bezeichnen.

„Er blickt in die Mündung des Laufes einer Pistole in ihren Händen, die auf ihn zeigt. „Ja, dir zu sagen, was für ein widerliches Oarschluch du bisd!“ Dumpf schlug er auf dem harten Grund des Hausflures auf.“
Hier zuerst Präsens, dann doch wieder Imperfekt.

„Mehr als den Titel liest er nicht. Er schaltet den Bildschirm wieder aus. Denn etwas anderes hatte ja bereits zuvor seine Aufmerksamkeit erregt. Strahlend weiß lag auf dem Schreibtisch ein einzelnes Blatt Papier und war mit der krakeligen Schrift seines Sohnes beschmiert.“
Auch hier zu Beginn Präsens. Das „denn“ und das „ja“ sind unangemessen kommentierend. Geht aber noch. Doch ist nicht zulässig als Vorvergangenheit zum Präsens das Plusquamperfekt zu verwenden. Heißen sollte es: „Er macht den Fernseher aus. Etwas Weißes auf dem Schreibtisch hat seine Aufmerksamkeit erregt.“

Harscher Bruch der Kontinuitätsillusion des Erzählten auch da, wo, zum Glück singulär, ein überlegener Autor-Erzähler anfängt, die Bilder zu kommentieren, die seine Personen während der Handlung abgeben:
„Die beiden nehmen auf der Decke Platz und blicken, sich in Armen haltend, in die zweite Decke gehüllt, in den unbedeckten Himmel. Wie niedlich.“
Da mokiert sich einer über das junge Liebespaar und wir verstehen nicht, warum.

Jetzt noch ein wenig Inhaltliches. Wie schon erwähnt, für mich enthält der Text nichts wirklich Neues. Will er wohl auch gar nicht. Sondern er legt es darauf an, einer Schablone des Genres zu entsprechen. Dieses Genre kennen wir alle. Auch wenn wir keinen Stephen King lesen, wir kennen es aus dem Fernsehen, aus dem Kino. Tausendmal gesehen (obwohl selber noch nie dabei gewesen), wie das zugeht, wenn ein Serienmord aufgeklärt wird:
„Ihre Brämie könners sich mid dem Scheck hier einlösn.“
Das, weil ein hinzudrängender Schaulustiger gesagt hat: „Das ist doch die Tochter von der Monika!“ Dafür wird der Mann von der Staatsanwaltschaft bezahlt. Mittelfranken, seltsame Welt. Ich habe mal dazu beigetragen, dass eine Bande von Rauberpressern identifiziert und gefasst werden konnte, indem ich, obwohl ich selber keineswegs Opfer war, von mir aus zur Polizei ging und eine Aussage machte. Später wurde ich von der Staatsanwaltschaft geladen, das Wenige, was ich gesehen, gesagt und längst unterschrieben hatte, im Strafprozess noch einmal persönlich vorzutragen. Gab’s Prämie? Ja, woher denn! Staatsbürgerliche Pflicht.

„Warm färbt sich das Weiß seiner Haut langsam gelb. Gelb wie das Band, das die Männer in den weißen Anzügen in einigen Metern Abstand genau wie einen weißen Kreis um ihn ziehen, als sich der Nebel hebt.“
Jetzt müsste zu lesen sein: „Crime scene. Do not cross!“ An solchen Stellen wird deutlich, wie sehr diese Serienmördergeschichten auf anhaltendem Medienkonsum beruhen. Im Leben habe ich noch keine gelbe Polizeiabsperrung vor Tatorten erblickt. Vielmehr wäre sie, so es eine gäbe, wohl eher rot-weiß schräg gestreift, denke ich.

„Ihr Schrei wird erstickt vom weißen Tuch, das sich wie chlorophyllreicher Nebel auf ihre Lippen und ihre Nase legt und sie nur noch wahrnimmt, wie der dunkle Schatten von völligem Schwarz abgelöst wird, als sie langsam auf ihn zu kippt.“
Verflixte Fremdwörter, die mit Ch- anfangen! Den Chronometer nannte die Vorrednerin schon. Und das hier sollte wohl Chloroform sein. Übrigens wieder zu viele Teile im Satz, um über sie die Dressurpeitsche noch schwingen zu können.

„Doch an ihr war nichts mehr Warmes. Somit waren es auch nicht die suchenden Hundertschaften, noch das fliegende Auge des Hubschraubers, welche sie entdeckten, sondern ein einfacher Waldbauer fand sie, noch bevor die grüne Wand ihre Pacht abgeklopft hatte.“
Das glaub ich jetzt einfach mal nicht, dass man im Wald womöglich tote Menschen sucht, indem man über die Bäume fliegt mit Infrarotkameras. Auch finde ich den poetischen Vergleich eines eher belanglosen Waldes mit einer „grünen Wand“ an dieser Stelle nicht passend. Und wenn er ginge, dann ginge immer noch nicht, dass die Wand ihre Pracht (?) „abklopft“.
Also: Getötet wurde im Fasching, gefunden wird vor dem Herbst, nämlich im August, wie wir später mitgeteilt bekommen. Der Fasching ist sieben Wochen vor Ostern und das ist nie später als Mitte April. Diese Leiche liegt über ein halbes Jahr im mittelfränkischen Wald, bevor „ein einfacher Waldbauer“ sie findet. Glaub ich so nicht. Der normale deutsche Wald ist von Mountainbikern, Joggern, Nordic Walkern, Förstern, Holzmachern, Pilzsammlern und Jägern, sieht man mal auf längere Distanz, derart überlaufen, dass eine Leiche eher auffallen müsste. Es sei denn, sie sei in unzugängliches Gelände gefallen oder irgendwie zugeweht oder von Geiern und Schakalen abgenagt. (Dann aber hätte der Alte am Fernseher sie wohl kaum erkannt mit einem Blick.) Mit anderen Worten: Hier hätte einer dieser mit allerlei ungefragter Information beispringenden Einschubsätze helfen und auch mal was erklären können.
 



 
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