Nachruf für einen Weisheitszahn

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Inge Anna

Mitglied
Nachruf für einen Weisheitszahn

Wer bringt schon einen Nachruf aus
für ein Gewächs im Kieferhaus?
Ich maße mir die Kühnheit an;
denn dieser wack're Backenzahn
begleitete mich sieben Jahr',
wenngleich er krumm und wacklig war.

Seine Geburt zog lang' sich hin,
Beklemmung stieg vom Hals zum Kinn,
die mich wie tausend Nadeln stach;
ich atmete schon ziemlich flach,
da trat der Lümmel auf den Plan:
Sein Nachbar war ein Eiterzahn.

Dem schien der Neuling nicht geheuer,
aufrührerisch legte er Feuer,
ein Mißerfolg und dann der Schluß,
fürs Grobe gab's Basilius;
der zerrte kurz nach Mitternacht,
geschickt den Wüstling aus dem Schacht.

Mein Onkel sang ein Lied dabei;
für Oscho war die Bühne frei.
Sein Name klang gewiß nicht schlecht,
umweltfreundlich, mundgerecht;
Erster von links - im Unterkiefer:
Oscho gefiel's, nur selten schlief er.

Er war ein echtes Arbeitspferd,
sein Tatendrang bemerkenswert.
Mein Oscho kriegte alles klein:
Ein Schiefling muß kein Schlappschwanz sein.
So zwang er voller Energie
härteste Nüsse in die Knie.

Selbst Tante Friedas Granitplätzchen,
bewältigte er ohne Mätzchen;
sein Mühlstein beutelte die Scharen,
bis daß sie magentauglich waren.
Der Weisheitszahn blieb Herr der Lage,
Müßiggang kam nicht in Frage.

Oscho zermalmte vielerlei,
zuverlässig - einwandfrei.
Basil plombierte ihn sechsmal,
der Zahn hielt durch, trotz Höllenqual;
doch witterte ich die Gefahr,
daß Oscho angeschlagen war.

Schließlich geriet das Schiff in Not;
Oscho sank auf mein Schinkenbrot.
Basil gab ob dieser Panne
sich drei Tage lang die Kanne.
Er schenkte mir 'ne Schmuckkassette,
und die ward Oschos Ruhestätte.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Liebe Inge,

es ist zahlreiche Monde her, dass ich dieses Gedicht las. Ich fand es wieder auf der Suche nach einem Gedicht zum Thema "Backenzahn" - und es ist ein Höhepunkt des heutigen Tages.

An einigen wenigen Stellen muss man mit der Betonung leicht schummeln, aber insgesamt kein Problem.


"Seine Geburt zog lang' sich hin," hat einen Betonungswechsel, aber das hat in den jeweiligen zweiten Versen eine gewisse Regularität.

Es ist ein schönes Gedicht über ein schmerzhaftes Thema.
 
Liebe Inge Anna,

was für ein lustiges Gedicht! Als ich den Schluss las, fiel mir ein, dass früher die Kleinen ihren ersten ausgefallenen Zahn in ein Kästchen packten. Heute holt ihn - glaube ich - die Zahnfee? :)

Lieben Gruß,
Karin
 



 
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