Nachsaison II

4,00 Stern(e) 2 Bewertungen

Karinina

Mitglied
Nachsaison II

Der Sommer war kalt und es regnete bis zum Herbst.
Dann kamen ein paar Tage, an denen der Regen nachließ und der Himmel voll weißer Wolken stand. Sie kamen sehr langsam von Süden herauf und bedeckten den Himmel wie leuchtende Tücher, die ausgebreitet zum Bleichen auf grüner Wiese liegen und den Augen weh tun in der Sonne...

Es waren so helle Wolken und die Luft war so seidig, ein bisschen kühl zwar, dass man an Frühling erinnert wurde und an die ersten Tage nach der Schneeschmelze, und die trocknende Erde roch stark.

Ende September wurde der Himmel farblos vor Hitze. Vereinzelt hingen die bunten Sonnenschirme schräg gegen Mittag über den Balkons des Ferienheimes, und manchmal schwang eine Kofferradionmelodie , um die sich niemand kümmerte, in die Stille.

Die wenigen Gäste verloren sich in dem großen Speisetrakt und Anna war viel allein. Wenn sie über die leeren Tische sah, dachte sie, was für eine Erleichterung es wäre, könnten die acht Renter aus ihrem Hause hier versorgt werden oder wenigstens das Mittagessen bekommen: Von den drei Großeinkäufen in der Woche bliebe dann vielleicht ein einziger übrig, der für sie selbst.

Über den Tischen hingen Glasleuchten mit orangenen Flügeln, die aussahen wie orientalische Sommerfalter. Anna erinnerte sich daran, dass damals, als man sie für dieses Ferienobjekt in ihrem Betrieb angefertigt hatte, niemand glaubte, sie könnten jemals irgendwo gebraucht werden. Und nun hingen sie doch und sie gefielen Anna sehr.

An der langen Wand gegenüber der gläsernen Verandafront waren in sechs großen schwarzumrandeten Glaskästen Falter, Raupen und Puppen auf Nadeln aufgespießt.
In den Korridoren hingen Kästen mit Käfern, und in Annas Zimmer Nachtfalter, deren fades Weiß im Dunklen silbrig zu glänzen begann.

An den Vormittagen ging Anna aus dem Ort hinaus. Der Rainfarn stand schon starr und die gelben Blütendolden leuchteten nicht mehr, aber sie beherrschten mit ihrem herben Geruch den Weg bis zum Wald.
Anna gewöhnte sich daran, dass er auch an ihren Händen blieb, wenn sie die gelben Köpfe berührte und darüber strich. Sie waren auch jetzt noch weich und nachgiebig, wie Anna sie in Erinnerung hatte aus der Zeit, da sie als junge Göre durch die Felder außerhalb des Dorf gestreift war.. Aber sie brachen leicht von den Stengeln und es fiel Anna ein, dass man sie doch ebenso in Leinensäckchen zwischen die Wäsche legen könnte, wie den üblichen Lavendel, den sie gar nicht so mochte. Das wäre mal eine andere Note...

Anna brachte den Wermutgeruch mit zum Mittagessen. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und fühlte sich bitter schmeckend. Es gefiel ihr. Sie dachte an ihren Enkelsohn, 18 jetzt, und stellte sich vor, wie er, wenn er ihr die Hand küsste, was er in letzter Zeit gern mit viel ironischer Grandezza getan hatte, zurückschrecken würde. Bitter. Bitter vor Wiese und Herbst...

'Ach', dachte Anna, 'was versteht man in der Jugend schon davon.' Und sie roch an ihrer Hand, besah sie sich von allen Seiten, sie hatte sie eigentlich noch nie gesehen, und sie lächelte ein bisschen mit geschlossenem Mund.


Plötzlich fühlte sie sich beobachtet. Zwei Tische weiter saß ein älteres Ehepaar. Der Mann hatte damals in ihrer Schicht gearbeitet und Anna nickte hinüber. Die Frau dankte ihr nicht. Sie schien ihren Mann unfeine Worte zuzuzischeln, ohne Anna dabei aus dem Blick zu lassen, denn der Mann wurde langsam rot und wandte sich der Veranda zu. Seine von Lauge verfärbten Hände lagen wie derbe Klammern um den Tellerrand.

'Sie hat keinen Grund. ' dachte Anna, 'nein'. Und ihr Lächeln verstärkte sich. 'Darüber bin ich hinaus. In meinem Alter...'

Es war ein bisschen kokett gedacht, und Anna wußte das. Es kam ihr sonderbar vor, dass sie auf einmal kokett sein konnte, 'aber,' dachte sie,'das ist die Ruhe...mein Gott, was für eine Ruhe...'

Wenn es sehr heiß war, saß Anna nachmittags im Park. Sie hielt ihre nackten Füße in den Bach und betrachtete die Schattenspiele der großblättrigen Bäume auf dem Wasser. Sie konnte mit ihren Zehen die bunten Kieselsteine und den feinen Sand im Bett des Baches berühren und den Bach eintrüben, so dass die Sonnenflecken nicht mehr ins Wasser schossen und es nicht mehr durchsichtig machten bis auf den Grund. Es kam ihr vor, als gäbe es Forellen im Bach, aber es war schließlich ein Krebs, der unter der Böschung heraus geschnappt kam und Annas Zehe quetschte.
Sie schrie nicht. Sie besah sich ihren Fuß. Barfuß ging sie ins Heim zurück und lachte: 'Was bin ich doch für eine dumme Alte...'

Nach Annas erster Urlaubswoche waren die Tische zu den Mahlzeiten wieder besetzt, obwohl es schon Anfang Oktober war. Es waren Ehepaare in ihrem Alter und sehr junge Leute.
Park und Wiesen füllten sich mit Spaziergängern und Anna zog sich zu ihren Schmetterlingen zurück.
Sie las jetzt viel. Wenn es sich abends abkühlte, wickelte sie sich in ihre Decke. Es war sehr ruhig abends auf ihrem Balkon und der Himmel klar wie immer. Sie wußte nicht mal, woran sie dachte, sie lag einfach da in ihrem Liegestuhl und betrachtete den Himmel, an dem es nichts zu betrachten gab, und manchmal schlief sie ein und erwachte und schlief wieder ein. Einmal hörte sie, dass neben an jemand sang. Ein Mann sang. Sie wußte nicht, ob es gut war, aber der Mann hatte eine angenenehme Stimme. Ein bisschen jung, ein bisschen rauchig und nicht sehr klar, ein bisschen nach Abend und nicht sehr nüchtern...
Anna schlief wieder ein und erwachte und hörte den Mann, mal lauter, mal leiser , und Anna schlief wieder ein...
Einmal lachte der Mann. Anna ging ins Zimmer zurück. Die Nachtfalter hingen in ihren Kästen, in denen sich der Mond spiegelte, sie leuchteten silbern, und Anna betrachtete sie und lag lange wach.

Sie konnte den Mann zu den Mahlzeiten nicht finden. Sie dachte, er müsste schwarze Haare haben. Aber alle Dunkelhaarigen waren älter, als Anna für den Mann vermutete. Einmal gefiel ihr eine Hand, die das Bierglas sehr selbstsicher hielt, aber dieser Mann war ihr zu gedrungen. Ein anderer
hatte diesen sonderbaren starren Blick, nach innen gekehrt, aber er war verheiratet, seine Frau saß klein und lebhaft neben ihm.

Manchmal traf sie ein Blick. Aber wenn es der Blick war, der Anna sagte, das müsse er sein, dann war es ein Blick von einem sehr jungen Mann. Und Anna lächelte resigniert zurück...

Die Tage vergingen gleichmäßig und sehr still.

Anna las, obwohl sie das nicht gewöhnt war, oder schlief, was sie sonst tagsüber auch nicht kannte, oder ging ziellos und unsicher zwischen den Urlaubsgrüppchen hindurch.
Einmal entdeckte sie einen Teich mit Goldfischen, aber den hatten vor ihr schon andere entdeckt: Es war der Treffpunkt für die jungen Leute. Einer sang ein bisschen zur Gitarre. Sie glaubte, die Stimme zu erkennen und sah hinüber zu ihm. Er hatte die gleiche ironische Grandezza wie ihr Enkelsohn und Anna stand auf und ging weg.

Hin und wieder hörte sie abends den Mann. Manchmal lachte er. Ein Frauenlachen hörte sie nie.

Es kam vor, das er pausenlos zwischen Zimmer und Balkon auf und ab ging. Anscheinend sprach er dazu.
Wenn der Mond hinter den Bäumen heraufkam und auf die Glaskästen fiel, war es Anna jetzt manchmal, als ob die Schmetterlinge sich bewegten. Sie wußte, es war eine Täuschung, aber sie drehte ihr Gesicht nicht weg, bis es schmerzte.

Zum Heimabend mit Tanz ging sie hinunter, obwohl sie das gar nicht wollte. Die Jungen warfen sich Blicke zu und lachten. Sie sah sie sich im Saale bewegen, ihre Anmut ironisch vertuschend, und lächelte. Sie mochte ihre langen Haare auf einmal, weil sie ihre Gesichter berührbar machten. Kindergesichter mit Bärten. Die Blicke herausfordernd. Einer so, wie sie ihn sich dachte. Doch er war sehr jung. Seine linke Hand hielt ihre beim Tanzen so, wie sie es richtig fand: gelassen. Aber den rechte Arm legte er um sie herum, so dass seine Finger ihren Hals zwischen Ohr und Schlüsselbein berührten. Seine Hand roch bitter. Sie lächelte nachsichtig über seinen Blick. Sie streichelte beruhigend seine Schulter.
Es kam ihr sehr erstaunlich vor, dass er schon ein bisschen Speck auf den Schulterblätern hatte und sie dachte, sie würde ihn als erstes hungern lassen, oder in die Sauna schicken...

'Zu meiner Zeit,' dachte Anna, 'zu meiner Zeit waren sie nicht so. Nicht so...so...ja, wie? Wie ist mein Enkel? Weich,.. sinnlich...'

Der junge Mann tanzte nicht, wenn Anna ihn, lächelnd auf ihr Alter und den kürzer werdenden Atem verweisend, abwies. Er ging an den Tischen vorbei, seine Hand strich über die Glaskästen und er sah Anna an.

'Traurig. Zu meiner Zeit waren sie nicht so traurig,' dachte Anna, 'oder ich hab die Traurigen nicht bemerkt...'.

Anna schlief sehr schlecht in der Nacht.

Die lila Sommeraster, die am Morgen an ihrer Türklinke hing, legte sie auf den schwarzen Rand des Schmetterlingskastens.

An diesem Tag fuhr Anna mit dem Linienbus in die Stadt. Sie sah sich die Kirchen an und die Baudenkmäler, aß in einem zweitklassigen Hotel zu Mittag, versuchte,irgendwo Sandalen zu kaufen- um diese Jahreszeit- und einen Lippenstift. Beides bekam sie nicht, aber dafür schnitt nan ihr die Haare kurz, drehte sie über dünne Wickel und machte Anna modern. Annas Haar sah danach aus wie bei den sehr jungen Mädchen. Sie lachte sich selbst aus...

Auf der Post schrieb sie drei Ansichtskarten, eine für den Enkel,eine für die Tochter und eine für die acht Rentner in ihrem Haus, die sie sicher ans „schwarze Brett“ hängen würden und lesen könnten: Eure erstmalig und nie wieder in Urlaub fahrende Anna.
Das „nie wieder“ strich sie am Ende doch noch aus. Und die Briefmarken leckte sie mit der Zunge an und hieb sie mit dem Handballen auf den Karten fest, so wie sie es früher getan hatte, bevor ihr Mann das Schreiben „einfüralleMal“ selbst übernahm. Es hatte aber nur 11 Jahre gedauert...

Schließlich war es Zeit für den Bus und Anna ging zum Markt. Der Marktplatz schwamm in Gelb. Kürbisse türmten sich vor dem Gemüsegeschäft und am offenen Türrahmen hingen Zwiebelzöpfe und Peperonis. Mitten in der schrägen Nachmittagssonne standen Kisten mit Birnen. Es war sehr still auf dem Platz und Anna hörte den Strahl ins Wasserbecken fallen, der aus dem geöffneten Rachen eines Riesenfisches sehr vorsichtig in kleinem Bogen aufstieg.

Sie ging am Brunnen vorbei und blieb bei den Birnen stehen. „Tschja,“ sagte die Frau, „denn kaufen Se man. Sechzig det halbe.“
Anna griff in die K iste und zuckte zurück.

Ein großes Schmetterling setzte sich in das überreife Gelb. Er war sehr groß und sehr schön. Auf der warmen Haut der Birne leuchtete sein Schwarz und sein Rot, sein Gelb und sein Blau und Anna sah die langen Fühler, sie zitterten leicht und die schwarzen Köpfchen tasteten zart an der Birne und Anna brauchte lange, ehe sie wegsah und dem Blick der Frau gegenüber begegnete.

„Det iss der Admiral. Der geht mang det Süße. Een Halbes, wat?Se sinn grade richtig zum Reineißen. Een Tag noch und es ist zu ville...“

Anna sah in die Kiste zurück. Der Falter bewegte sich jetzt langsamer, seine Flügel hatten einen feuchten Schimmer. Es kam Anna so vor, als hätte sich der süße Birnengeruch verstärkt. Es war etwas darin, dass das Süße zu überwuchern drohte...

„Nein danke;“ sagte Anna entschlossen zu der Frau. Sie hatte Mühe, nicht zu schnell fortzugehen, es schien ihr, als berühre ein spöttischer Blick sie im Rücken körperlich.

Anna ging nicht zum Abendessen. Sie wickelte sich in ihre Decke und setzte sich auf den Balkon.

Am späten Abend hörte sie den Mann. Einmal fiel eine Flasche zu Boden und zerbrach.

„Mein Gott,“ sagte Anna plötzlich laut, „Sie sind doch noch jung, nicht wahr?“

Es blieb still nebenan. Nach einer Weile legte Anna die Decke weg, ging zum Geländer und lehnte sich weit darüber, aber sie konnte den Mann nicht erkennen. Sie konnte überhaupt nichts sehen vom Balkon nebenan, nur den immer noch aufgespannten Sonnenschirm und den Glaskasten mit den Schmetterlingen an der anderen Wand.

Im Mondlicht sahen sie sehr rosa aus oder auch blau, aber sie waren so groß und so geformt, dass Anna es sofort wußte.

Sie hörte den Mann atmen.

„Anna,“ sagte er plötzlich leise, „es wartet doch niemand auf Sie, nicht wahr Anna?“

'O Gott nein, ' dachte sie, ' es wartet niemand...“ aber sie sagte es nicht...

Erst spät in der Nacht hörte Anna, wie der Mann den Liegestuhl zusammenklappte und ins Zimmer ging.


Der Zug fuhr lange durch das ebene Land, über dem noch immer die Sonne stand,ein bisschen verhangen vom Herbst, und die Felder waren braun und frisch gebrochen und die Wiesen gelb vor Hitze und die Wälder leuchteten farbig und satt im Mittag, und Anna weinte und wußte nicht warum, und je weniger sie es wußte, um so mehr weinte sie.

'Mein Gott,' dachte sie erbittert,'in meinem Alter!' und sie knüllte ihr Taschentuch, und der Zug fuhr und fuhr, und das ebene Land zog vorbei...
 
Hallo Karinina,
ich habe Deine Erzählung mehrfach gelesen und glaube, sie hat eine Rückmeldung verdient. Mich spricht die subtile Melancholie an, die im Hintergrund mitschwingt. Da ist eine einsame, nicht mehr so junge Frau, die ihr arbeitsames Leben zum ersten Mal durch einen Urlaub unterbricht und sich selbst und anderen in einer neuen Weise begegnet. Ihre Tränen am Schluss kann man nachvollziehen. In ihr ist sicher noch etwas, das sie sich wegen ihres Alters nicht eingestehen kann. Doch hat sie deshalb kein Recht auf etwas Nähe...?
Andererseits zeigt die flüchtige Begegnung mit dem jungen Mann, dass die Realität ihr kaum eine Chance gibt. (Hoffentlich habe ich nicht zu viel hinein interpretiert.)
Mir gefallen auch die sehr genauen Beschreibungen von Landschaft, Vorgängen und Dingen; alles in einer ruhig fließenden, unspektakulären Sprache. Nur manchmal stören mich etwas die zahlreichen Wortwiederholungen; Beispiel:
Wenn es sehr heiß war, saß Anna nachmittags im Park. Sie hielt ihre nackten Füße in den [red]Bach[/red] und betrachtete die Schattenspiele der großblättrigen Bäume auf dem Wasser. Sie konnte mit ihren Zehen die bunten Kieselsteine und den feinen Sand im Bett des [red]Baches[/red] berühren und den [red]Bach[/red] eintrüben, so dass die Sonnenflecken nicht mehr ins Wasser schossen und es nicht mehr durchsichtig machten bis auf den Grund. Es kam ihr vor, als gäbe es Forellen im [red]Bach[/red], aber es war schließlich ein Krebs, der unter der Böschung heraus geschnappt kam und Annas Zehe quetschte.
Falls die Wiederholungen aber bewusst als Gestaltungselement gesetzt sind, vergiss bitte meinen Einwand.

Ich möchte Dich auf einige Kleinigkeiten aufmerksam machen, die man verbessern könnte (wenn Du magst):
Dann kamen ein paar Tage, an denen der Regen nachließ und der Himmel voll weißer Wolken stand. Sie [red]kamen[/red] [blue]schwebten[/blue] sehr langsam von Süden herauf
Ende September wurde der Himmel farblos vor Hitze. Vereinzelt hingen die bunten Sonnenschirme schräg gegen Mittag über den Balkons des Ferienheimes, und manchmal schwang eine Kofferradio[red]n[/red]melodie , um die sich niemand kümmerte, in die Stille.
Anna gewöhnte sich daran, dass er auch an ihren Händen blieb, wenn sie die gelben Köpfe berührte und darüber strich. Sie waren auch jetzt noch weich und nachgiebig, wie Anna sie in Erinnerung hatte aus der Zeit, da sie als junge Göre durch die Felder außerhalb des Dorf[blue]es[/blue] gestreift war..
Die Frau dankte ihr nicht. Sie schien ihre[red]n[/red] [blue]m[/blue] Mann unfeine Worte zuzuzischeln, ohne Anna dabei aus dem Blick zu lassen,
Ein Mann sang. Sie wußte nicht, ob es gut war, aber der Mann hatte eine ange[red]ne[/red]nehme Stimme.
Lippenstift. Beides bekam sie nicht, aber dafür schnitt [red]nan[/red] [blue]man[/blue] ihr die Haare kurz,
LG Bertl
 

Karinina

Mitglied
Nachsaison II

Der Sommer war kalt und es regnete bis zum Herbst.
Dann kamen ein paar Tage, an denen der Regen nachließ und der Himmel voll weißer Wolken stand. Sie schwebten sehr langsam von Süden herauf und bedeckten den Himmel wie leuchtende Tücher, die ausgebreitet zum Bleichen auf grüner Wiese liegen und den Augen weh tun in der Sonne...

Es waren so helle Wolken und die Luft war so seidig, ein bisschen kühl zwar, dass man an Frühling erinnert wurde und an die ersten Tage nach der Schneeschmelze, und die trocknende Erde roch stark.

Ende September wurde der Himmel farblos vor Hitze. Vereinzelt hingen die bunten Sonnenschirme schräg gegen Mittag über den Balkons des Ferienheimes, und manchmal schwang eine Kofferradiomelodie , um die sich niemand kümmerte, in die Stille.

Die wenigen Gäste verloren sich in dem großen Speisetrakt und Anna war viel allein. Wenn sie über die leeren Tische sah, dachte sie, was für eine Erleichterung es wäre, könnten die acht Rentner aus ihrem Hause hier versorgt werden oder wenigstens das Mittagessen bekommen: Von den drei Großeinkäufen in der Woche bliebe dann vielleicht ein einziger übrig, der für sie selbst.

Über den Tischen hingen Glasleuchten mit orangenen Flügeln, die aussahen wie orientalische Sommerfalter. Anna erinnerte sich daran, dass damals, als man sie für dieses Ferienobjekt in ihrem Betrieb angefertigt hatte, niemand glaubte, sie könnten jemals irgendwo gebraucht werden. Und nun hingen sie doch und sie gefielen Anna sehr.

An der langen Wand gegenüber der gläsernen Verandafront waren in sechs großen schwarzumrandeten Glaskästen Falter, Raupen und Puppen auf Nadeln aufgespießt.
In den Korridoren hingen Kästen mit Käfern, und in Annas Zimmer Nachtfalter, deren fades Weiß im Dunklen silbrig zu glänzen begann.

An den Vormittagen ging Anna aus dem Ort hinaus. Der Rainfarn stand schon starr und die gelben Blütendolden leuchteten nicht mehr, aber sie beherrschten mit ihrem herben Geruch den Weg bis zum Wald.
Anna gewöhnte sich daran, dass er auch an ihren Händen blieb, wenn sie die gelben Köpfe berührte und darüber strich. Sie waren auch jetzt noch weich und nachgiebig, wie Anna sie in Erinnerung hatte aus der Zeit, da sie als junge Göre durch die Felder außerhalb des Dorf gestreift war.. Aber sie brachen leicht von den Stengeln und es fiel Anna ein, dass man sie doch ebenso in Leinensäckchen zwischen die Wäsche legen könnte, wie den üblichen Lavendel, den sie gar nicht so mochte. Das wäre mal eine andere Note...

Anna brachte den Wermutgeruch mit zum Mittagessen. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und fühlte sich bitter schmeckend. Es gefiel ihr. Sie dachte an ihren Enkelsohn, 18 jetzt, und stellte sich vor, wie er, wenn er ihr die Hand küsste, was er in letzter Zeit gern mit viel ironischer Grandezza getan hatte, zurückschrecken würde. Bitter. Bitter vor Wiese und Herbst...

'Ach', dachte Anna, 'was versteht man in der Jugend schon davon.' Und sie roch an ihrer Hand, besah sie sich von allen Seiten, sie hatte sie eigentlich noch nie gesehen, und sie lächelte ein bisschen mit geschlossenem Mund.


Plötzlich fühlte sie sich beobachtet. Zwei Tische weiter saß ein älteres Ehepaar. Der Mann hatte damals in ihrer Schicht gearbeitet und Anna nickte hinüber. Die Frau dankte ihr nicht. Sie schien ihrem Mann unfeine Worte zuzuzischeln, ohne Anna dabei aus dem Blick zu lassen, denn der Mann wurde langsam rot und wandte sich der Veranda zu. Seine von Lauge verfärbten Hände lagen wie derbe Klammern um den Tellerrand.

'Sie hat keinen Grund. ' dachte Anna, 'nein'. Und ihr Lächeln verstärkte sich. 'Darüber bin ich hinaus. In meinem Alter...'

Es war ein bisschen kokett gedacht, und Anna wusste das. Es kam ihr sonderbar vor, dass sie auf einmal kokett sein konnte, 'aber,' dachte sie,'das ist die Ruhe...mein Gott, was für eine Ruhe...'

Wenn es sehr heiß war, saß Anna nachmittags im Park. Sie hielt ihre nackten Füße in den Bach und betrachtete die Schattenspiele der großblättrigen Bäume auf dem Wasser. Sie konnte mit ihren Zehen die bunten Kieselsteine und den feinen Sand berühren und den Bach eintrüben, so dass die Sonnenflecken nicht mehr ins Wasser schossen und es nicht mehr durchsichtig machten bis auf den Grund. Es kam ihr vor, als gäbe es hier Forellen, aber es war schließlich ein Krebs, der unter der Böschung heraus geschnappt kam und Annas Zehe quetschte.
Sie schrie nicht. Sie besah sich ihren Fuß. Barfuß ging sie ins Heim zurück und lachte: 'Was bin ich doch für eine dumme Alte...'

Nach Annas erster Urlaubswoche waren die Tische zu den Mahlzeiten wieder besetzt, obwohl es schon Anfang Oktober war. Es waren Ehepaare in ihrem Alter und sehr junge Leute.
Park und Wiesen füllten sich mit Spaziergängern und Anna zog sich zu ihren Schmetterlingen zurück.
Sie las jetzt viel. Wenn es sich abends abkühlte, wickelte sie sich in ihre Decke. Es war sehr ruhig abends auf ihrem Balkon und der Himmel klar wie immer. Sie wusste nicht mal, woran sie dachte, sie lag einfach da in ihrem Liegestuhl und betrachtete den Himmel, an dem es nichts zu betrachten gab, und manchmal schlief sie ein und erwachte und schlief wieder ein. Einmal hörte sie, dass neben an jemand sang. Ein Mann sang. Sie wusste nicht, ob es gut war, aber der Mann hatte eine angenehme Stimme. Ein bisschen jung, ein bisschen rauchig und nicht sehr klar, ein bisschen nach Abend und nicht sehr nüchtern...
Anna schlief wieder ein und erwachte und hörte den Mann, mal lauter, mal leiser , und Anna schlief wieder ein...
Einmal lachte der Mann. Anna ging ins Zimmer zurück. Die Nachtfalter hingen in ihren Kästen, in denen sich der Mond spiegelte, sie leuchteten silbern, und Anna betrachtete sie und lag lange wach.

Sie konnte den Mann zu den Mahlzeiten nicht finden. Sie dachte, er müsste schwarze Haare haben. Aber alle Dunkelhaarigen waren älter, als Anna für den Mann vermutete. Einmal gefiel ihr eine Hand, die das Bierglas sehr selbstsicher hielt, aber dieser Mann war ihr zu gedrungen. Ein anderer
hatte diesen sonderbaren starren Blick, nach innen gekehrt, aber er war verheiratet, seine Frau saß klein und lebhaft neben ihm.

Manchmal traf sie ein Blick. Aber wenn es der Blick war, der Anna sagte, das müsse er sein, dann war es ein Blick von einem sehr jungen Mann. Und Anna lächelte resigniert zurück...

Die Tage vergingen gleichmäßig und sehr still.

Anna las, obwohl sie das nicht gewöhnt war, oder schlief, was sie sonst tagsüber auch nicht kannte, oder ging ziellos und unsicher zwischen den Urlaubsgrüppchen hindurch.
Einmal entdeckte sie einen Teich mit Goldfischen, aber den hatten vor ihr schon andere entdeckt: Es war der Treffpunkt für die jungen Leute. Einer sang ein bisschen zur Gitarre. Sie glaubte, die Stimme zu erkennen und sah hinüber zu ihm. Er hatte die gleiche ironische Grandezza wie ihr Enkelsohn und Anna stand auf und ging weg.

Hin und wieder hörte sie abends den Mann. Manchmal lachte er. Ein Frauenlachen hörte sie nie.

Es kam vor, das er pausenlos zwischen Zimmer und Balkon auf und ab ging. Anscheinend sprach er dazu.
Wenn der Mond hinter den Bäumen heraufkam und auf die Glaskästen fiel, war es Anna jetzt manchmal, als ob die Schmetterlinge sich bewegten. Sie wusste, es war eine Täuschung, aber sie drehte ihr Gesicht nicht weg, bis es schmerzte.

Zum Heimabend mit Tanz ging sie hinunter, obwohl sie das gar nicht wollte. Die Jungen warfen sich Blicke zu und lachten. Sie sah sie sich im Saale bewegen, ihre Anmut ironisch vertuschend, und lächelte. Sie mochte ihre langen Haare auf einmal, weil sie ihre Gesichter berührbar machten. Kindergesichter mit Bärten. Die Blicke herausfordernd. Einer so, wie sie ihn sich dachte. Doch er war sehr jung. Seine linke Hand hielt ihre beim Tanzen so, wie sie es richtig fand: gelassen. Aber den rechte Arm legte er um sie herum, so dass seine Finger ihren Hals zwischen Ohr und Schlüsselbein berührten. Seine Hand roch bitter. Sie lächelte nachsichtig über seinen Blick. Sie streichelte beruhigend seine Schulter.
Es kam ihr sehr erstaunlich vor, dass er schon ein bisschen Speck auf den Schulterblättern hatte und sie dachte, sie würde ihn als erstes hungern lassen, oder in die Sauna schicken...

'Zu meiner Zeit,' dachte Anna, 'zu meiner Zeit waren sie nicht so. Nicht so...so...ja, wie? Wie ist mein Enkel? Weich,.. sinnlich...'

Der junge Mann tanzte nicht, wenn Anna ihn, lächelnd auf ihr Alter und den kürzer werdenden Atem verweisend, abwies. Er ging an den Tischen vorbei, seine Hand strich über die Glaskästen und er sah Anna an.

'Traurig. Zu meiner Zeit waren sie nicht so traurig,' dachte Anna, 'oder ich hab die Traurigen nicht bemerkt...'.

Anna schlief sehr schlecht in der Nacht.

Die lila Sommeraster, die am Morgen an ihrer Türklinke hing, legte sie auf den schwarzen Rand des Schmetterlingskastens.

An diesem Tag fuhr Anna mit dem Linienbus in die Stadt. Sie sah sich die Kirchen an und die Baudenkmäler, aß in einem zweitklassigen Hotel zu Mittag, versuchte,irgendwo Sandalen zu kaufen- um diese Jahreszeit- und einen Lippenstift. Beides bekam sie nicht, aber dafür schnitt man ihr die Haare kurz, drehte sie über dünne Wickel und machte Anna modern. Annas Haar sah danach aus wie bei den sehr jungen Mädchen. Sie lachte sich selbst aus...

Auf der Post schrieb sie drei Ansichtskarten, eine für den Enkel,eine für die Tochter und eine für die acht Rentner in ihrem Haus, die sie sicher ans „schwarze Brett“ hängen würden und lesen könnten: Eure erstmalig und nie wieder in Urlaub fahrende Anna.
Das „nie wieder“ strich sie am Ende doch noch aus. Und die Briefmarken leckte sie mit der Zunge an und hieb sie mit dem Handballen auf den Karten fest, so wie sie es früher getan hatte, bevor ihr Mann das Schreiben „einfüralleMal“ selbst übernahm. Es hatte aber nur 11 Jahre gedauert...

Schließlich war es Zeit für den Bus und Anna ging zum Markt. Der Marktplatz schwamm in Gelb. Kürbisse türmten sich vor dem Gemüsegeschäft und am offenen Türrahmen hingen Zwiebelzöpfe und Peperoni. Mitten in der schrägen Nachmittagssonne standen Kisten mit Birnen. Es war sehr still auf dem Platz und Anna hörte den Strahl ins Wasserbecken fallen, der aus dem geöffneten Rachen eines Riesenfisches sehr vorsichtig in kleinem Bogen aufstieg.

Sie ging am Brunnen vorbei und blieb bei den Birnen stehen. „Tschja,“ sagte die Frau, „denn kaufen Se man. Sechzig det halbe.“
Anna griff in die K iste und zuckte zurück.

Ein großes Schmetterling setzte sich in das überreife Gelb. Er war sehr groß und sehr schön. Auf der warmen Haut der Birne leuchtete sein Schwarz und sein Rot, sein Gelb und sein Blau und Anna sah die langen Fühler, sie zitterten leicht und die schwarzen Köpfchen tasteten zart an der Birne und Anna brauchte lange, ehe sie weg sah und dem Blick der Frau gegenüber begegnete.

„Det iss der Admiral. Der geht mang det Süße. Een Halbes, wat?Se sinn grade richtig zum Reineißen. Een Tag noch und es ist zu ville...“

Anna sah in die Kiste zurück. Der Falter bewegte sich jetzt langsamer, seine Flügel hatten einen feuchten Schimmer. Es kam Anna so vor, als hätte sich der süße Birnengeruch verstärkt. Es war etwas darin, dass das Süße zu überwuchern drohte...

„Nein danke;“ sagte Anna entschlossen zu der Frau. Sie hatte Mühe, nicht zu schnell fortzugehen, es schien ihr, als berühre ein spöttischer Blick sie im Rücken körperlich.

Anna ging nicht zum Abendessen. Sie wickelte sich in ihre Decke und setzte sich auf den Balkon.

Am späten Abend hörte sie den Mann. Einmal fiel eine Flasche zu Boden und zerbrach.

„Mein Gott,“ sagte Anna plötzlich laut, „Sie sind doch noch jung, nicht wahr?“

Es blieb still nebenan. Nach einer Weile legte Anna die Decke weg, ging zum Geländer und lehnte sich weit darüber, aber sie konnte den Mann nicht erkennen. Sie konnte überhaupt nichts sehen vom Balkon nebenan, nur den immer noch aufgespannten Sonnenschirm und den Glaskasten mit den Schmetterlingen an der anderen Wand.

Im Mondlicht sahen sie sehr rosa aus oder auch blau, aber sie waren so groß und so geformt, dass Anna es sofort wusste.

Sie hörte den Mann atmen.

„Anna,“ sagte er plötzlich leise, „es wartet doch niemand auf Sie, nicht wahr Anna?“

'O Gott nein, ' dachte sie, ' es wartet niemand...“ aber sie sagte es nicht...

Erst spät in der Nacht hörte Anna, wie der Mann den Liegestuhl zusammenklappte und ins Zimmer ging.


Der Zug fuhr lange durch das ebene Land, über dem noch immer die Sonne stand,ein bisschen verhangen vom Herbst, und die Felder waren braun und frisch gebrochen und die Wiesen gelb vor Hitze und die Wälder leuchteten farbig und satt im Mittag, und Anna weinte und wusste nicht warum, und je weniger sie es wusste, um so mehr weinte sie.

'Mein Gott,' dachte sie erbittert,'in meinem Alter!' und sie knüllte ihr Taschentuch, und der Zug fuhr und fuhr, und das ebene Land zog vorbei...
 

Karinina

Mitglied
Für Bertl

Lieber Bertl, ich danke Dir sehr für Deine Worte, das macht mir Mut. Ich habe einiges verbessert und Du hast recht, manchmal sind solche Häufungen wie Bach bei mir leider keine Seltenheit, ich nehme es als Stilmittel, aber den Bach in diesem Text habe ich nun doch reduziert, dort war es zu viel...
Liebe Grüße von Karin
 
U

USch

Gast
Hallo Karinina,
ich kann mich dem Kommentar von Bertl weitgehend anschließen. Im Folgenden ein paar kleine Fehler und Anmerkungen:

Der Sommer war kalt und es regnete bis zum Herbst.[blue]Kein Absatz![/blue]
Dann kamen ein paar Tage, an denen der Regen nachließ und der Himmel voll weißer Wolken stand. Sie schwebten sehr langsam von Süden herauf und bedeckten den Himmel wie leuchtende Tücher, die ausgebreitet zum Bleichen auf grüner Wiese liegen und den Augen weh tun in der Sonne...

Es waren so helle Wolken und die Luft war so seidig, ein bisschen kühl zwar, dass man an Frühling erinnert wurde und an die ersten Tage nach der Schneeschmelze, und die trocknende Erde roch stark.

Ende September wurde der Himmel farblos vor Hitze. Vereinzelt hingen die bunten Sonnenschirme schräg gegen Mittag über den Balkons des Ferienheimes, und manchmal schwang eine Kofferradiomelodie i[blue]n die Stille. Doch niemand kümmerte sich darum. [/blue]

Die wenigen Gäste verloren sich in dem großen Speisetrakt und Anna war viel allein. Wenn sie über die leeren Tische sah, dachte sie, was für eine Erleichterung es wäre, könnten die acht Rentner aus ihrem Hause hier versorgt werden oder wenigstens das Mittagessen bekommen[blue]. [/blue]Von den drei Großeinkäufen in der Woche bliebe dann vielleicht ein einziger übrig, der für sie selbst.[blue] Meinst du einen Großeinkauf oder ein Essen? Großeinkauf wäre wohl übertrieben?![/blue]

Über den Tischen hingen Glasleuchten mit orangenen Flügeln, die aussahen wie orientalische Sommerfalter. Anna erinnerte sich daran, dass damals, als man sie für dieses Ferienobjekt in ihrem Betrieb angefertigt hatte, niemand glaubte, sie könnten jemals irgendwo gebraucht werden. Und nun hingen sie doch und sie gefielen [strike]Anna [/strike] [blue]ihr [/blue]sehr.

An der langen Wand gegenüber der gläsernen Verandafront waren in sechs großen schwarzumrandeten Glaskästen Falter, Raupen und Puppen auf Nadeln aufgespießt.
In den Korridoren hingen Kästen mit Käfern, und in Annas Zimmer Nachtfalter, deren fades Weiß im Dunklen silbrig zu glänzen begann.

An den Vormittagen ging Anna aus dem Ort hinaus. Der Rainfarn stand schon starr und die gelben Blütendolden leuchteten nicht mehr, aber sie beherrschten mit ihrem herben Geruch den Weg bis zum Wald. [blue]Kein Absatz![/blue]
Anna gewöhnte sich daran, dass er auch an ihren Händen blieb, wenn sie die gelben Köpfe berührte und darüber strich. Sie waren auch jetzt noch weich und nachgiebig, wie Anna sie in Erinnerung hatte aus der Zeit, da sie als junge Göre durch die Felder außerhalb des Dorf[blue]es[/blue] gestreift war.. Aber sie brachen leicht von den Stengeln und es fiel [strike]Anna [/strike] [blue]ihr [/blue]ein, dass man sie doch ebenso in Leinensäckchen zwischen die Wäsche legen könnte, wie den üblichen Lavendel, den sie gar nicht so mochte. Das wäre mal eine andere Note...

Anna brachte den Wermutgeruch mit zum Mittagessen. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und fühlte sich bitter schmeckend. Es gefiel ihr. Sie dachte an ihren Enkelsohn, 18 jetzt, und stellte sich vor, wie er, wenn er ihr die Hand küsste, was er in letzter Zeit gern mit viel ironischer Grandezza getan hatte, zurückschrecken würde. Bitter. Bitter vor Wiese und Herbst...
[blue]Mal grundsätzlich: Warum machst du bei Absätzen, wo es eine inhaltliche Klammer gibt, so oft einen doppelten Zeilenwechsel? Das ist doch nur sinnvoll, wenn ein anderer Handlungsstrang beginnt.[/blue]

'Ach', dachte Anna, 'was versteht man in der Jugend schon davon.' Und sie roch an ihrer Hand, besah sie sich von allen Seiten, sie hatte sie eigentlich noch nie gesehen, und sie lächelte ein bisschen mit geschlossenem Mund.


Plötzlich fühlte sie sich beobachtet. Zwei Tische weiter saß ein älteres Ehepaar. Der Mann hatte damals in ihrer Schicht gearbeitet und [strike]Anna [/strike][blue] sie (Bitte nicht zu oft Anna, wenn es sich vermeiden läßt!)[/blue] nickte hinüber. Die Frau dankte ihr nicht. Sie schien ihrem Mann unfeine Worte zuzuzischeln, ohne Anna dabei aus dem Blick zu lassen, denn der Mann wurde langsam rot und wandte sich der Veranda zu. Seine von Lauge verfärbten Hände lagen wie derbe Klammern um den Tellerrand.

'Sie hat keinen Grund[blue], Komma! [/blue]' dachte Anna, 'nein'. Und ihr Lächeln verstärkte sich. 'Darüber bin ich hinaus. In meinem Alter...'

Es war ein bisschen kokett gedacht, und Anna wusste das. Es kam ihr sonderbar vor, dass sie auf einmal kokett sein konnte, 'aber,' dachte sie,'das ist die Ruhe...mein Gott, was für eine Ruhe...'

Wenn es sehr heiß war, saß Anna nachmittags im Park. Sie hielt ihre nackten Füße in den Bach und betrachtete die Schattenspiele der großblättrigen Bäume auf dem Wasser. Sie konnte mit ihren Zehen die bunten Kieselsteine und den feinen Sand berühren und den Bach eintrüben, so dass die Sonnenflecken nicht mehr ins Wasser schossen und es nicht mehr durchsichtig machten bis auf den Grund. Es kam ihr vor, als gäbe es hier Forellen, aber es war schließlich ein Krebs, der unter der Böschung heraus geschnappt kam und Annas Zehe quetschte.
Sie schrie nicht. Sie besah sich ihren Fuß. Barfuß ging sie ins Heim zurück und lachte: 'Was bin ich doch für eine dumme Alte...'

Nach Annas erster Urlaubswoche waren die Tische zu den Mahlzeiten wieder besetzt, obwohl es schon Anfang Oktober war. Es waren Ehepaare in ihrem Alter und sehr junge Leute.
Park und Wiesen füllten sich mit Spaziergängern und Anna zog sich zu ihren Schmetterlingen zurück.
Sie las jetzt viel. Wenn es sich abends abkühlte, wickelte sie sich in ihre Decke. Es war sehr ruhig abends auf ihrem Balkon und der Himmel klar wie immer. Sie wusste nicht mal, woran sie dachte, sie lag einfach da in ihrem Liegestuhl und betrachtete den Himmel, [strike]an dem es nichts zu betrachten gab,[/strike] und manchmal schlief sie ein und erwachte und schlief wieder ein. Einmal hörte sie, dass [blue]nebenan [/blue]jemand sang. Ein Mann[strike]sang[/strike]. Sie wusste nicht, ob es gut war, aber [strike]der Mann[/strike] [blue]er [/blue]hatte eine angenehme Stimme. Ein bisschen jung, ein bisschen rauchig und nicht sehr klar, ein bisschen nach Abend und nicht sehr nüchtern...
Anna schlief wieder ein und erwachte und hörte den Mann, mal lauter, mal leiser , und Anna schlief wieder ein...
Einmal lachte der Mann. Anna ging ins Zimmer zurück. Die Nachtfalter hingen in ihren Kästen, in denen sich der Mond spiegelte, sie leuchteten silbern, und Anna betrachtete sie und lag lange wach.

Sie konnte den Mann zu den Mahlzeiten nicht finden. Sie dachte, er müsste schwarze Haare haben. Aber alle Dunkelhaarigen waren älter, als Anna für den Mann vermutete. Einmal gefiel ihr eine Hand, die das Bierglas sehr selbstsicher hielt, aber dieser Mann war ihr zu gedrungen. Ein ander[blue]er ha[/blue]tte diesen sonderbaren starren Blick, nach innen gekehrt, aber er war verheiratet, seine Frau saß klein und lebhaft neben ihm.

Manchmal traf sie ein Blick. Aber wenn es der [strike]Blick [/strike]war, der Anna sagte, das müsse er sein, dann war es ein Blick von einem sehr jungen Mann. Und Anna lächelte resigniert zurück...

Die Tage vergingen gleichmäßig und sehr still.

Anna las, obwohl sie das nicht gewöhnt war, oder schlief, was sie sonst tagsüber auch nicht kannte, oder ging ziellos und unsicher zwischen den Urlaubsgrüppchen hindurch.
Einmal entdeckte sie einen Teich mit Goldfischen, aber den hatten vor ihr schon andere entdeckt: Es war der Treffpunkt für die jungen Leute. Einer sang ein bisschen zur Gitarre. Sie glaubte, die Stimme zu erkennen und sah hinüber zu ihm. Er hatte die gleiche ironische Grandezza wie ihr Enkelsohn und Anna stand auf und ging weg.

Hin und wieder hörte sie abends den Mann. Manchmal lachte er. Ein Frauenlachen hörte sie nie.

Es kam vor, [blue]dass [/blue]er pausenlos zwischen Zimmer und Balkon auf und ab ging. Anscheinend sprach er dazu.
Wenn der Mond hinter den Bäumen heraufkam und auf die Glaskästen fiel, war es Anna jetzt manchmal, als ob die Schmetterlinge sich bewegten. Sie wusste, es war eine Täuschung, aber sie drehte ihr Gesicht nicht weg, bis es schmerzte.

Zum Heimabend mit Tanz ging sie hinunter, obwohl sie das gar nicht wollte. Die Jungen warfen sich Blicke zu und lachten. Sie sah sie sich im Saale bewegen, ihre Anmut ironisch vertuschend, und lächelte. Sie mochte ihre langen Haare auf einmal, weil sie ihre Gesichter berührbar machten. Kindergesichter mit Bärten. Die Blicke herausfordernd. Einer so, wie sie ihn sich dachte. Doch er war sehr jung. Seine linke Hand hielt ihre beim Tanzen so, wie sie es richtig fand: gelassen. Aber den rechte Arm legte er um sie herum, so dass seine Finger ihren Hals zwischen Ohr und Schlüsselbein berührten. Seine Hand roch bitter. Sie lächelte nachsichtig über seinen Blick. Sie streichelte beruhigend seine Schulter.
Es kam ihr sehr erstaunlich vor, dass er schon ein bisschen Speck auf den Schulterblättern hatte und sie dachte, sie würde ihn als erstes hungern lassen, oder in die Sauna schicken...

'Zu meiner Zeit,' dachte Anna, 'zu meiner Zeit waren sie nicht so. Nicht so...so...ja, wie? Wie ist mein Enkel? Weich,.. sinnlich...'

Der junge Mann tanzte nicht, wenn Anna ihn, lächelnd auf ihr Alter und den kürzer werdenden Atem verweisend, abwies. Er ging an den Tischen vorbei, seine Hand strich über die Glaskästen und er sah Anna an.

'Traurig. Zu meiner Zeit waren sie nicht so traurig,' dachte Anna, 'oder ich hab die Traurigen nicht bemerkt...'.

Anna schlief sehr schlecht in der Nacht.

Die lila Sommeraster, die am Morgen an ihrer Türklinke hing, legte sie auf den schwarzen Rand des Schmetterlingskastens.

An diesem Tag fuhr Anna mit dem Linienbus in die Stadt. Sie sah sich die Kirchen an und die Baudenkmäler, aß in einem zweitklassigen Hotel zu Mittag, versuchte,irgendwo Sandalen zu kau[blue]fen - um[/blue] diese Jahreszeit- und einen Lippenstift. Beides bekam sie nicht, aber dafür schnitt man ihr die Haare kurz, drehte sie über dünne Wickel und machte Anna modern. [strike]Annas [/strike] [blue]Ihr [/blue]Haar sah danach aus wie bei den sehr jungen Mädchen. Sie lachte sich selbst aus...

Auf der Post schrieb sie drei Ansichtskarten, eine für den Enke[blue]l, e[/blue]ine für die Tochter und eine für die acht Rentner in ihrem Haus, die sie sicher ans „schwarze Brett“ hängen würden und lesen könnten: Eure erstmalig und nie wieder in Urlaub fahrende Anna.
Das „nie wieder“ strich sie am Ende doch noch aus. Und die Briefmarken leckte sie mit der Zunge an und hieb sie mit dem Handballen auf den Karten fest, so wie sie es früher getan hatte, bevor ihr Mann das Schreiben „einfüralleMal“ selbst übernahm. Es hatte aber nur 11 Jahre gedauert...

Schließlich war es Zeit für den Bus und Anna ging zum Markt. Der Marktplatz schwamm in Gelb. Kürbisse türmten sich vor dem Gemüsegeschäft und am offenen Türrahmen hingen Zwiebelzöpfe und Peperoni. Mitten in der schrägen Nachmittagssonne standen Kisten mit Birnen. Es war sehr still auf dem Platz und Anna hörte den Strahl ins Wasserbecken fallen, der aus dem geöffneten Rachen eines Riesenfisches sehr vorsichtig in kleinem Bogen aufstieg.

Sie ging am Brunnen vorbei und blieb bei den Birnen stehen. „Tschja,“ sagte die Frau, „denn kaufen Se man. Sechzig det halbe.“
Anna griff in die [blue]Kis[/blue]te und zuckte zurück.

Ein gro[blue]ßer[/blue] Schmetterling setzte sich in das überreife Gelb. Er war sehr groß und sehr schön. Auf der warmen Haut der Birne leuchtete sein Schwarz und sein Rot, sein Gelb und sein Blau und Anna sah die langen Fühler, sie zitterten leicht und die schwarzen Köpfchen tasteten zart an der Birne und Anna brauchte lange, ehe sie weg sah und dem Blick der Frau gegenüber begegnete.

„Det iss der Admiral. Der geht mang det Süße. Een Halbes, wat? S[blue]e si[/blue]nn grade richtig zum Rei[blue]nbei[/blue]ßen. Een Tag noch und es ist zu ville...“

Anna sah in die Kiste zurück. Der Falter bewegte sich jetzt langsamer, seine Flügel hatten einen feuchten Schimmer. Es kam [strike]Anna [/strike]ihr so vor, als hätte sich der süße Birnengeruch verstärkt. Es war etwas darin, dass das Süße zu überwuchern drohte...

„Nein dank[blue]e,“ sa[/blue]gte Anna entschlossen zu der Frau. Sie hatte Mühe, nicht zu schnell fortzugehen, es schien ihr, als berühre ein spöttischer Blick sie im Rücken [strike]körperlich[/strike].

Anna ging nicht zum Abendessen. Sie wickelte sich in ihre Decke und setzte sich auf den Balkon.

Am späten Abend hörte sie den Mann. Einmal fiel eine Flasche zu Boden und zerbrach.

„Mein Gott,“ sagte Anna plötzlich laut, „Sie sind doch noch jung, nicht wahr?“

Es blieb still nebenan. Nach einer Weile legte Anna die Decke weg, ging zum Geländer und lehnte sich weit darüber, aber sie konnte den Mann nicht erkennen. Sie konnte überhaupt nichts sehen vom Balkon nebenan, nur den immer noch aufgespannten Sonnenschirm und den Glaskasten mit den Schmetterlingen an der anderen Wand.

Im Mondlicht sahen sie sehr rosa aus oder auch blau, aber sie waren so groß und so geformt, dass Anna es sofort wusste.

Sie hörte den Mann atmen.

„Anna,“ sagte er plötzlich leise, „es wartet doch niemand auf Sie, nicht wahr Anna?“

'O Gott nein, ' dachte sie, ' es wartet niemand...“ aber sie sagte es nicht...

Erst spät in der Nacht hörte Anna, wie der Mann den Liegestuhl zusammenklappte und ins Zimmer ging.


Der Zug fuhr lange durch das ebene Land, über dem noch immer die Sonne stan[blue]d, ei[/blue]n bisschen verhangen vom Herbst, und die Felder waren braun und frisch gebrochen und die Wiesen gelb vor Hitze und die Wälder leuchteten farbig und satt im Mittag, und Anna weinte und wusste nicht warum, und je weniger sie es wusste, um so mehr weinte sie.

'Mein Gott,' dachte sie erbittert,'in meinem Alter[blue]!'und[/blue] sie knüllte ihr Taschentuch, und der Zug fuhr und fuhr, und das ebene Land zog vorbei...
 



 
Oben Unten