Nachts Annas Klinge

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Lillia

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Nachts Annas Klinge

Ihre Handschuhe, weiße Spitze, trieften vor Blut, als sie sie in der Küche an die Wäscheleine hängte. Die Küche war eng, die Luft darin fest und grau. An diesem Morgen hatte der Mann der bei ihr wohnte das Fenster geöffnet und zum ersten Mal seit Tagen die Welt hineingelassen. Das Blut tropfte einen schnellen Rhythmus auf den Küchentisch, als Anna zum Fenster ging, ihre Arme weit auseinanderbreitete und die gläsernen Flügel zueinander drückte.
Beruhigt blickte sie auf die blinden Scheiben und drehte den Riegel knarrend herum.
Das Fenster war groß und alt. Der Mann, der bei Anna wohnte, stand manchmal im Dunkeln, sah hinaus in die helle Stadt und fragte sich, in welchem Jahr das erste Mal jemand hier gestanden hatte und welche Stadt sich vor seinem oder ihren Blick ausgebreitet hatte.
Die Scheibe muss einmal ganz klar gewesen sein, einen Moment der Fertigstellung markierend, weil die Küche nun eine Grenze zur Welt hatte. Jemand hatte hier gestanden und war vielleicht sehr stolz oder sehr glücklich, vielleicht gleich nach dem Krieg. Vielleicht war die Fensterscheibe sogar noch älter und die Menschen hatten zusammengedrängt durch sie zugesehen, wie die Häuser um sie herum in den Bomben versanken.
Der Mann wohnte bei Anna und verließ die Wohnung nie. Sie ertrug seine dauerhafte Anwesenheit nur, indem sie die Wohnung noch öfter verließ und durch die Straßen streifte wie eine Katze. Sie hasste es, wenn er das Fenster öffnete. Er hatte es das erste Mal getan, kurz nachdem er eingezogen war. Sie kam morgens von einem nächtlichen Streifzug zurück und erbrach sich, als in ihrer Küche klare Morgensonnenlichtstrahlen tanzten. Sie kam nicht von draußen in ihre Wohnung, um sich darin wieder wie draußen zu fühlen! Sie liebte die umarmende Luft, die beinahe nur aus ihrem eigenen verbrauchten Atem bestand, sie liebte den Zigarettennebel, der sie einhüllte und ihr die Geborgenheit schenkte, die die kalte Stadt ihr nicht bot.
Sie war zum Bett des Mannes gestürmt, hatte ihm die noch trübe Klinge ihres Messers an die Kehle gehalten und ihm zugezischt, er sollte sich entweder an die Regeln halten oder draußen erfrieren.
Er hatte lächelnd genickt und das Fenster eine Woche lang nicht angerührt. In seinem eigenen Zimmer war es kalt und dunkel. Auf dem Boden floss ein Ozean aus schwarzer Seide. Kerzenflammen flackerten irr im Wind, der das Zimmer ertastete und füllte. Anna konnte hören, wie der metallne Vorhang hin- und hergeworfen wurde. Sie sahen sich selten, der Mann bekam keine Luft in der Küche. Nachts war Anna auf den Straßen, tagsüber lag sie im Nebel auf ihrer Matratze unter dem Küchentisch und dachte mit falscher Sehnsucht an die Zeit, in der sie allein gelebt hatte.
Der Mann verurteilte Anna nicht. Er urteilte nie. Sie hatte anfangs Bedenken gehabt und befürchtet, ihn würden ihre Stiefel, ihr Messer und ihre Handschuhe stören. Doch sie sah das Schimmern in den trüben Augen des Mannes und Begriff, dass sie das Einzige war, was ihn erregte.
Der Mann liebte Anna. Er hatte in seinem Leben noch nie etwas wirklich bewundert oder schön gefunden, bis er eines nachts Anna sah, wie sie einem alten Mann den Hals zerschnitt. Mit einer Kälte, mit einer Eleganz und Sanftheit, die er dieser Welt nicht zugetraut hatte.
Er kannte die Straßen gut, sein zu Hause. Er folgte Anna, beobachtete sie unruhig durch die dunkle Stadt ziehen bis die Dämmerung die Farben zurückbrachte und Anna zurück in ihre Wohnung schlich.
Am nächsten Abend wartete er, bis sie das Haus verließ. Ihr zu folgen war nicht einfach, sie war gut. Der Mann fühlte sein Herz flackern, wenn sie sich umdrehte.
Er verfolgte sie tagelang, lernte seine Straßen mit den Augen ihres Schattens zu sehen und passte sich ganz ihrem Rhythmus an. Ihre Welt war dunkel und still. Sie sprach nie. Geschickt wandt sie sich durch die grauen Adern der Stadt und suchte ihre Opfer unauffällig und eindringlich wie Gas. Er malte sich oft aus, dass sie ihn längst bemerkt hatte und sich nun darauf freute, in einem stillen Moment hervorzuspringen und ihn zu töten.
Der Gedanke, sie könnte ihn genau so aufregend finden wie er sie, machte ihn rasend. Er versteckte sich mit umso größerer Sorgfalt, um ihre Begegnung hinauszuzögern und ihre Lust zu steigern. Als es langsam wärmer wurde, schlich er barfuß. Er trug nur noch schwarz, wie sie, und auch sein Gesicht bemalte er mit dunkler Farbe.
Tatsächlich hatte Anna ihn längst bemerkt. Doch sie wollte keine Spielchen. Ihr Töten war schnell und direkt und das würde er merken, wenn er ihr zu nahe kam. Bis dahin kümmerte sie sich nicht weiter um den Mann, der sie den ganzen Sommer lang verfolgte. Sie achtete nur darauf, ihn loszuwerden, bevor sie nach Hause kam, denn sie wusste nicht, dass er ihr Nest kannte.
Der Mann hatte gelernt, sich in Nichts aufzulösen, hatte ihre Unauffälligkeit perfektioniert. Er wollte Anna und überlegte wochenlang fieberhaft, wie er sich ihr nähern konnte, ohne ihre Klinge in der Kehle sitzen zu haben. Er wand seine Gedanken, tastete ihre schier undurchdringliche Schale ab und prüfte ihre Stärke. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen genau und kannte ihren Körper und ihre Bedürfnisse bald sehr gut.
Ihre weichen Momente waren ihre Opfer. Sie waren ihr Inhalt, sie waren ihre Liebe. Dort würde er sie berühren. Einer Nachts brachte der Mann auf seinen Verfolgungspfad eine Armbrust mit sich. Ihr Pfeil war golden und glänzte, ein wunderbares Stück, ihr eben. Wenn er den Bogen spannte, flirrte es neben seinem Ohr und jagte ihm eine Gänsehaut durch die Haut.

Als Anna zupackte und dem jungen Mädchen gerade den Mund zuhielt, ließ er den Pfeil los. Er bohrte sich mit einer solchen Wucht durch seine Brust, dass Anna den Körper vor Schreck losließ. Dem Mädchen entfuhr ein Stöhnen bevor es zusammensackte und blutend liegenblieb. Anna starrte auf den golden glänzenden Pfeil im Körper des Kindes.
Sie hätte ihn nicht so kaputtgemacht, dachte sie. Ihr Messer blieb nicht fremd im Körper stecken, es streifte und hinterlass eine glatte saubere Wunde die erst zu quellen begann, wenn sie schon nicht mehr da war. Ein Knirschen zerrte sie aus ihren Gedanken. Mit einem Mal packte sie die Angst. Wer hatte geschossen, warum? Das neue Gefühl der Ohnmacht umnebelte sie kalt. Es regte sie auf.
Sie beschloss, zu handeln. Sich zu ergeben.
Sie bückte sich, schloss die starren grünen Augen des toten Kindes und legte mit grosser Geste ihr Messer daneben. Sie hob ihre Arme, reckte der Nacht ihren bloßen Hals entgegen und zitterte vor Angst und Erregung.

Der Mann rauschte aus dem Gebüsch und legte ihr seine schwarze Lederhand aufs Gesicht wie sie es mit ihren Opfern tat. Sie sank ihm entgegen. Er erreichte ihr Messer und hielt es ihr gegen die Kehle wie sie es sonst eine Sekunde lang tat bevor sie zustach. Sie erkannte die Klinge ihres Messers, hatte sie aber doch noch nie am Hals gefühlt. Sie gab sich ganz hin. Er drängte sich gegen ihren Körper und schob sie vorwärts. Sie fühlte bald, dass er sie nach Hause schob.
Als sie die Wohnung aufschloss, lag die Klinge noch immer an ihrem Hals. Niemand außer ihr war bisher in der Wohnung gewesen und nun war hier jemand, der ihr an Stärke ebenbürtig war und schwarz wie die Nacht, vor der sie sonst in ihre Wohnung flüchtete. Sie hatte Angst. Er liebkoste sie mit ihrer eigenen Klinge, fuhr ihren Körper entlang und nahm sie schließlich hart und ohne mit ihr zu sprechen. Sie schrie als wolle sie für all die schreien, denen sie es verwehrt hatte.
Er machte nicht den Fehler, sein Eigenes bei ihr zu suchen. Er schenkte ihr alles und schlug ihr ins Gesicht, als sie weich und ergossen neben ihm lag.
Sie hatte ihn unterschätzt.
“Und jetzt?” fragte sie, sich sammelnd.
“Bleib ich bei dir.” Sagte er und strich ihr über die Wange, die noch rot von seinem Schlag glühte. Sie biss ihn in die Hand. Er lachte und gab ihr das Messer zurück.
Von nun an verfolgte er sie nicht mehr. Es genügte ihm wenn sie in den Morgenstunden nach Hause kam und er ihr manchmal ihre blutigen Handschuhe ausziehen durfte, um ihre weißen weichen Fingerspitzen zu küssen. Manchmal stritten sie sich, weil er nicht atmen konnte oder weil sie sich nicht mehr sicher war, ob er nicht doch schwächer war, als sie glaubte. Wenn sie zweifelte tat er ihr weh wie an ihrem ersten Morgen.
 

Mumpf Lunse

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Hallo lillia,
es fällt mir schwer deinen Text im herkömmlichen Sinn zu kritisieren.
Ich habe ihn mehrmals gelesen. Das ist - für mich - eigentlich kein gutes Zeichen. Mit dem mehrmaligen Lesen lösten sich vermeintliche Ungereimtheiten auf.
Allerdings bleiben Sätze wie: Sie hatte anfangs Bedenken gehabt und befürchtet, ihn würden ihre Stiefel, ihr Messer und ihre Handschuhe stören. mir unverständlich (aus dem Zusammenhang)
Das Ganze ist ein Spielen mit extremen Fantasien aber - die beiden Protagonisten bleiben unsichtbar.
Ich bin mir nicht sicher, wie ich zu dieser Fantasie stehe.
Das kurz verstörende Potenzial, das von deinem Text ausgeht, verliert sich - jedenfalls für mich - wenn du die Extreme ins Groteske treibst. Nachts war Anna auf den Straßen, tagsüber lag sie im Nebel (Zigarettenrauch?) auf ihrer Matratze unter dem Küchentisch ...
Eins noch: Blut gerinnt ziemlich schnell ... Das Blut tropfte einen schnellen Rhythmus auf den Küchentisch...
Nur wenn sie zu Hause schlachtet. ;) Du ordnest alles dem vermeintlichen Effekt unter.
Das scheint mir auch die wesentliche Schwäche des Textes zu sein.
Die Gedanken über das Fenster, als Grenze zur Welt, gefallen mir ..... wirken aber fremd in dieser Welt.
Ich habe deine Geschichte gern und mit Genuss gelesen.
Einen schönen Tag
Mumpf
 

liebermann

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Prima!

Hallo Lillia,

ich mag diese Art von Geschichten sehr gerne. Deine ist sehr gut gelungen, die Atmosphäre ist dicht und spannend.

Etwas schwach finde ich den Schluss. Ich würde einen von Beiden oder vielleicht auch Beide sterben lassen, dann kommt der Schluss besser.

Viele Grüsse
Frank
 

coxew

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die handelnden personen finde ich pervers. aber solche leute gibt's eben auch.

was ich vermisse, ist eine aussicht, irgend eine absehbare wende, zum guten oder schlechten, je nach dem. zum ende der geschichte hatte ich das gefühl in einen sumpf geraten zu sein. das schlimme daran ist, dass man da nicht untergeht, sondern wahrscheinlich endlos leidet. sehr bedrückend. aber wenn das die absicht der geschichte sein soll ...

liebe grüße
 

Lillia

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dankeschoen

Ich danke Euch sehr fuer's Lesen und Kommentieren!

coxew, ich finde die Sumpfassoziation gar nicht so schlecht. Ist es allerdings ein Langeweilesumpf, muss ich natuerlich tatsaechlich irgendwas passieren lassen...

Frank, dein Vorschlag geht ja in eine aehnliche Richtung. Ich moechte die beiden aber eigentlich ganz gerne weiter so wor sich hin leben lassen. Vielleicht muss ich irgendwo zwischendrin den Eindruck abbauen, es fuehre zu etwas hin?

Mumpf, Deine Kritik trifft mich, denn ich verstehe was Du meinst, kann es aber nicht an Worten festmachen und weiss nicht, wie ich's beheben soll. Unsichtbare Figuren finde ich furchtbar. Vielleicht habe ich mehr ihre Schatten gezeichnet als ihre Personen. Hast Du eine konkrete Idee? Sollte ich ihre Gefuehle oder ihre Motivation genauer beschreiben, ihre Gedanken abbilden...?

Um das tropfende Blut ist es mir verdammt schade, denn mit diesem Bild hat das Ganze angefangen. Nun gut, ich verzichte drauf :(, danke fuer den wichtigen Hinweis! Ist ja eigentlich auch Bloedsinn, dann muesste sie ja auch den ganzen Weg bis in ihre Kueche vollgesudelt haben.

Dankeschoen,
-lilli-
 

Mumpf Lunse

Mitglied
Re: dankeschoen

Liebe Lilli,

Also: Wörtliche Rede wäre eine Möglichkeit. Lass sie miteinander reden.
Eine andere wäre, sie stärker als Personen zu beschreiben. In der Art: Anna war schlank, fast schon mager und wirkte mit den hervorstehenden Backenknochen und den schmalen Augen trotz ihrer blonden Haare fast asiatisch ... du verstehst?
Ihn ebenso ... gib ihm ein Aussehen ... das muss nicht von dem schön schaurigen Spiel ablenken. Wenn du es geschickt machst, kann es die Handlung unterstützen. Sinnlich konkret ... das kannst du doch hervorragend. (wenn ich mir deine anderen Texte ansehe.) (Sinnlich meint in dem Fall die Sinne ... sichtbar, hörbar, riechbar, schmeckbar, tastbar) "sie spürte seine Hände, hart, rau, gierig ... na ja, was immer du denkst das sie spüren sollte - oder er. Wie riecht er?
Wie schmeckt sie? Sie beißt ihn - wie schmeckt sein Blut?
Erregt sie der Geschmack? Wenn ja, wie spürt sie das?

Liebe Grüsse
Gunter
 
Hallo,

ja, während des Lesens sind mir einige Dinge aufgefallen, die sprachlich überstilisiert sind. Auch einige Sachfehler sind drin ... find das entstellte Verb allerdings gerade nicht.

Perspektivenwechsel wirken zu scharfkantig, so dass der Leser erstmal stolpert und dann frag ich mich am Ende, "Was nu?" Also eine Erzählung ist eine längere Kurzgeschichte, versehen mit nem Höhepunkt, nem Wendepunkt und sowas alles. Was ist denn dein Grund, uns die Geschichte zu erzählen, was ist das bemerkenswerte daran, was willst du uns sagen? Wenn du uns von dem Unsinn des Tötens und von dem Stumpfsinn der Langeweile erzählen willst, dann versteh ich das Bild nicht mit dem Fenster! Wenn du von der Zeit und von der Veränderung je nach Perspektivierung sprechen willst, dann versteh ich das Töten und das Schlagen nicht!

Also deutlich gesagt, scheint mir deine Geschichte in zwi Stücke geschnitten, allerdings konntest du dich nicht für eine entscheiden ... ;) Und entweder bringst du die beiden Seiten deutlicher zusammen und machst daraus ne echte Erzählung, oder du trennst die beiden Stücke und verwendest sie unterschiedlich ... DA mir ganz persönlich beide Seiten gefallen im Sinne von guter Einstieg, guter Ansatz, starke Bilder würde ich daran weiter arbeiten und die Erzählung als solche beenden! :)

Hoffe, dass war nicht zu viel. Ich denke, dass du sprachlich schöne Bilder hast u toll eine Atmosphäre lebendig werden lassen kannst, --- das genügt nur leider nicht.

Grüsse
Scarlett
 

herb

Mitglied
Hallo,

ich denke auch, dass die Atmosphäre gut herüberkommt. Es stören mich aber die Perspektivwechsel von Anna zum dem Mann ohne Namen und wieder zurück.
Auch stören mich die nicht konsequent eingehaltenen Zeiten.
Es sieht so aus, als ob dir die Idee fehlte zu einem Schluss. Er bietet sich doch an:
Der Mann hatte sich nicht an die Abmachung gehalten und wieder das Fenster geöffnet, sie tötet ihn.
Zum Schluss wartet sie einfach auf einen neuen Mann zum gemeinsamen lustvollen Töten.
Grins, und das ist ja das makabre Schöne an der Geschichte; es gibt zuviel einsame Menschen, auch unter den Mördern.
Ich finde, die Story hat ungeheuer viel Potenzial.

Gruß

herb
 

Lillia

Mitglied
Dankeschoen!

Ihr beiden, vielen Dank Euch. Mit Einigem kann ich viel anfangen (zu starker Perspektivwechsel, ueberstilisierte Sprache), mit Einigem weniger. Wenn ich das Ganze in einem Monat nochmal ueberarbeite werde ich dankbar auf das zurueckgreifen, was Ihr mir hier mitgebt.

Einen dramatischen Schluss moechte ich ungerne produzieren, aber vielleicht kann ich ja auch dieser Idee irgendwann freundlicher gegenueberstehen.

Danke Euch beiden sehr!!

-lilli-
 



 
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