Nachts ist es Dunkel (2)

Wendla

Mitglied
Nachts ist es dunkel

Zweites Kapitel

Adrian saß in der letzten Stunde und sah verträumt aus dem Fenster. Er hasste die letzten Stunden, so interessant die Themen auch sein mochten, er hasste es. Das einzige was ihm an diesem Kurs gefiel war, dass seine Freundin Sam vor ihm saß und er sie in Ruhe betrachten konnte. Die langen, dunklen Haare und das schmale Handgelenk, an der immer der silberne Armreif mit den türkisen Steinen baumelte, das er ihr einst geschenkt hatte und welches eigentlich noch immer seiner Mutter gehörte... . Auch seine Freundin hasste diese letzten Stunden, sodass sie sich von Zeit zu Zeit umdrehte und Grimassen schnitt um Adrian aufzumuntern. Er war sehr stolz darauf behaupten zu können, dass er Sam liebte - und doch hatte er wegen ihr immer wieder Probleme.
Nach der ach so verhassten Stunde gingen sie gemeinsam zu Adrian nach Hause. Sie machten einen Umweg nach dem nächsten, da die Aussichten auf einen Nachmittag mit Adrians Mutter nicht berauschend waren. Schließlich kamen sie doch an der Villa an und als sie durch das Tor traten, hatten sie beide ein Lächeln auf dem Gesicht. Erst als sie den Weg schon halb hinter sich gelassen hatten, erblickte Adrian Luisa, die noch immer vor der Tür wartete. Sofort ließ Adrian Sam los und eilte zu ihr, was Sam erstens verwirrte und zweitens verärgerte. Sie kannte Luisa nicht und war verblüfft, als Adrian sie umarmte. Sie flüsterten kurz miteinander, dann ging Luisa und lächelte Sam an. „Wer war die denn?“ „Luisa? Die Freundin von einem Kumpel. Seine Großmutter ist gerade gestorben, das hat sie mir erzählt, mehr nicht. Lass uns reingehen…“ Er gab ihr einen Kuss und sie gingen gemeinsam hinein.
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Es war wieder dunkel geworden über der Stadt. Die Straßen wie ausgestorben, nur von Zeit zu Zeit eine dunkle Gestalt, die in einer Ecke kauerte. Auf einem Feld außerhalb der Stadt traf sich eine etwas größere Gruppe Jugendlicher. Ärmel war als letzter dazu gekommen und Kronos war einer der ersten, der ihn begrüßte. „Ist okay, lass’ mich bitte.“ sagte Ärmel knapp und ließ ihn los. Schließlich kam auch Myrre hinzu und sprach ihm Mut zu um dann Kronos zur Seite zu nehmen. „War es nötig? War das wirklich nötig? Eine alte Dame…“ „Wir können kein Risiko eingehen. Weißt du noch, wie wir angefangen haben, wir vier? Bei mir zu Hause im Zimmer mit dieser blöden Kerze? Und siehst du was wir geschaffen haben? Sie dich um Myrre, die alle hier sind wegen uns da. Ohne uns gäbe es dieses Leben nicht, ohne uns wäre das hier eine Stadt wie jede andere, aber wir haben sie zu etwas besonderem gemacht.“ „Aber…“ warf Myrre ein, obwohl auch sie stolz darauf war, was sie geschaffen hatte, „es gibt einen Unterschied zwischen dem, was wir bis jetzt gemacht haben und dem, was letzte Nacht abgegangen ist!“ Nun kam auch Ärmel hinzu. Auch er gehörte zu den Gründern und hatte erst jetzt gesehen, dass sich Kronos und Myrre unterhielten. Er hatte bis eben Mitleidsbekundungen entgegengenommen. Nun griff Kronos mit beiden Händen Ärmels Kopf und lehnte seine Stirn an die eigene. „Es war nicht unsere Schuld, es ist passiert, wir hatten nichts damit zu tun. Vertraue uns, Ärmel, wir haben es nicht gewollt.“ „Ich weiß.“ antwortete Ärmel mit erstaunlich fester Stimme. Kronos ließ ihn los und trat auf einen kleinen Hügel in der Mitte des Feldes. „Sind wir vollständig?“ schrie er mit seiner tiefen Stimme über den Acker und alles verstummte. Die dunklen Gestalten traten näher zu ihm und blickten zu ihm hinauf. „Es wird einen Neuzugang geben in unseren Reihen. Kein Fremder, jemand, der im Herzen schon lange dazu gehört wird es sein. Bitte trete hervor.“ sprach Kronos und hob eine Hand. Aus der Menge löste sich eine Gestalt, die langsam und sichtlich nervös auf Kronos sowie Ärmel und Myrre, die sich neben Kronos eingefunden hatten, zuschritt. Die Person trug einen bodenlangen Mantel, hatte die Kapuze über den Kopf gezogen und schien sich erstaunt umzugucken. Kronos schlug die Kapuze zurück und strich der Person über den Kopf als diese vor ihm zu stehen gekommen war. Die Menge blickte auf ein blasses Mädchen mit langen, schwarzen Haaren herunter. Sie war stark geschminkt und schien sichtlich nervös zu sein. Bald jedoch wurde auch dem Letzten bewusst, um wen es sich handelte, denn Kronos küsste sie. „Beginnen wir mit dem Aufnahmeritual. Führen wir es so durch, wie die Gründer am Abend der Schöpfung unserer Gemeinde.“ Er ließ sich von Ärmel ein Messer und von Myrre einen winzig kleinen Glaskolben geben. Sam reichte Kronos die Hand und er setzte das Messer an ihrer Fingerkuppe an. Vorsichtig stach er durch die zarte Haut bis das Blut aus Sams Finger tropfte. Die Tropfen fing er mit dem Glaskolben auf, den er, halb gefüllt mit wenigen Tropfen mit dem Wachs einer weißen Kerze, die Myrre entzündet hatte versiegelte. In das Wachs hatte er einen Draht gesteckt. Als das Wachs trocken war gab er es Sam und verkündete offiziell die Aufnahme von „Lilie“, so wie Sam von nun an im Gruppenverband hieß.
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Wenige wussten, wer sich noch in der Gruppe befand. Die meisten sahen sich nur bei Nacht, gingen auf verschiedene Schulen oder erkannten sich einfach nur nicht. „Lilie wird eine besondere Stellung in dieser Gruppe einnehmen,“ verkündete Kronos vor versammelter Mannschaft, „denn sie ist mein. Niemand krümmt ihr ein Haar oder bringt einen dieser Anfänger-Späßchen, ist das klar?“ Er sah sich scharf in der Rund an. Einige potentielle Kandidaten schien er dabei besonders zu berücksichtigen. Die Menge verlor sich nach und nach, nur wenige blieben bei den Gründern, die Lilie ihr Zeug überreichten: das kleine, mit ihrem Blut gefüllte Röhrchen, die Kerze, die zum Versiegeln benutzt wurde, sowie das Messer, mit dem sie gestochen wurde sowie ein altes Buch. All das wickelte sie vorsichtig in ein Stück Leder und ließ es in ihrem Beutel verschwinden. Kronos legte einen Arm um sie und die beiden verschwanden Richtung Stadtwald.
Myrre und Ärmel blieben mit wenigen anderen zurück und überlegten, was sie tun könnten. Sie entschieden sich, zum Marktplatz zu gehen, dort wo in der Nacht zuvor die alte Frau verunglückte. Ärmel war erstaunlich gefasst, als er den Sterbeort seiner Großmutter betrat. Myrre wunderte sich. Er schien so sehr verletzt zu sein, heute Nachmittag, und nun war er gefasst als sei es nicht seine Großmutter, die verstorben war. Sie trat neben Ärmel und blickte ihn an. Er sah kalt und gefühllos drein ohne mitzubekommen, was um ihn herum geschah. Sie setzten sich auf das Kriegsdenkmal, dass den Rand des Marktplatzes schmückte. Lange saßen sie da und überlegten, was nun geschehen war. Bei einem Herzinfarkt auf offener, ruhiger Straße würde man es nicht bewenden lassen. Sicher würden Nachforschungen angestellt werden, über das, was an diesem Abend auf dem Marktplatz vor sich gegangen sein musste. Genug Leute wussten, dass sich dort nachts Jugendliche trafen, die ansonsten nicht in Erscheinung traten. Sicherlich würden Anstalten gemacht werden herauszufinden, wer sich an diesem Abend auf dem Markplatz aufgehalten hatte… Myrre überlegte angestrengt, wie man vermeiden könnte, dass man sie entdecken würde. Es würde das Ende der Gruppe bedeuten, also, was tun. Den Marktplatz nicht mehr betreten? Zu auffällig, sie gehörten quasi zum Inventar - würden sie plötzlich wegbleiben, würde es früher oder später auffallen. Andererseits - was wenn man sie beobachtete? Würde man davon ausgehen, das eine Gruppe kleiner „Spinner“ wie sie mal ein Passant genannt hatte, der auch damit gedroht hatte, sie anzuzeigen, falls sie nicht verschwinden würden, in der Lage dazu wäre, ein derartiges Verbrechen zu begehen, auch wenn es gar keins war? Und wie würde sich diese eventuelle Beobachtung auf die Geschäfte auswirken?
 



 
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