Nachts, wenn du schläfst

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Arezoo

Mitglied
Manchmal, wenn die Nacht sehr schwarz ist und die Minuten nur tageweise durch das Stundenglas tropfen, dann setze ich mich auf die Fensterbank und erwarte die ersten grauen Strahlen des Morgens.
Am liebsten habe ich es, wenn du gerade da bist. Dann setze ich die bloßen Füße auf das Holz, umschließe meinen Körper mit den Armen und sehe beides - die Strasse rechts vor dem Fenster und dich links auf dem Bett.
Deine Atemzüge gehen langsam und sehr regelmäßig. Inspiration - Expiration. Ein ewig gleichbleibender Rhythmus. Meist schläfst du nackt, auf dem Bauch, den Kopf halb in das Kissen vergraben.
Fast nie bist du zugedeckt, und wenn, dann nur über dem musculus gluteus maximus, den beiden Rundungen deines Pos. Ich lasse die Augen die columna vertebralis hinaufgleiten bis zum Atlas, dem letzten Wirbel, der, wenn du dich in aufrechter Haltung befindest, deinen Kopf hält. Stolz.
Vielen erscheinst du arrogant, vielleicht sogar oberflächlich. Ich habe es gehört, hinter vorgehaltener Hand.
Natürlich ist es nicht wahr. Du kannst sehr gütig sein, und ich habe selten ein schlechtes Wort über andere Menschen von dir gehört.
Niemals rollst du mit den Augen, so wie ich es tue, wenn ich ungeduldig bin. Du nimmst dir Zeit für jeden, für mich.
Rechts und links der vertebrae thoracicae werfen die scapulae feine Schatten unter dem dünnen subcutanen Fettgewebe. Gerne würde ich ihren oberen Rand mit einem Finger entlangfahren bis zum acromion, der Schulterhöhe.
Doch das ist mir nicht erlaubt.
Zum einen, weil es dich wecken würde, zum anderen, weil du nicht mir gehörst. Andere Frauen legen ihre Hände auf deinen musculus trapezius.
Keine von ihnen bleibt lange. Du bist ein anspruchsvoller Mann, jung und unabhängig.
Ich bin die einzige, die immer da ist. Über Jahre schon, aber vielleicht auch nur, weil ich nie die kleine Kuhle oberhalb des Pos am Ende der columna vertebralis berührt habe, für die ich keinen Namen weiß.
Manchmal, wenn die Nacht sehr schwarz ist und dem Morgen nicht weichen will, frage ich mich, wo du gerade bist. Ob du allein schläfst oder mit einer Frau. Kennt sie die Namen für all deine Schönheit?
Wenn du nicht da bist, bin ich allein. Es macht mir nichts aus. Ich quäle mich nicht all zu oft mit diesen Gedanken.
Ich warte auf die Tage, an denen du zu mir kommst, und vor allem auf die Nächte in denen keine Kleidung deinen Körper vor mir verbirgt.
Es war dir von Anfang an egal, ob ich dich nackt sehe. Ich sei wie eine Schwester für dich, hast du gesagt.
Einmal hast du auf deinen Bauchnabel gezeigt und gefragt, wie er heißt.
Anulus umbilicalis, habe ich gemurmelt. Du hast gelacht.
Ich hatte meinen Finger ausgestreckt und war die linea alba entlanggefahren vom sternum bis zum anulus umbilicalis.
Danach haben wir beide zu Boden gesehen.
Wir wollen es lassen, wie es ist und es Bauchnabel nennen, hast du schließlich gesagt.
Du hast mich nie wieder nach dem Namen für etwas gefragt.
In Nächten wie diesen aber, wenn du schläfst, benenne ich alles, was ich an dir sehe.
 

herb

Mitglied
schön

Hallo Arezoo,

ein sehr schöner und geheimnisvoller Text. Die Sprache des Körpers in lateinischen Fachbezeichnungen, smile.
Der Geliebte spricht im Schlaf mit der Betrachterin. In der Entsagung schwingt die poetische Liebe.

Dir gelingt es, den Lesenden mit einem Lächeln zu entlassen, danke.

Gruss herb
 

San Martin

Mitglied
Eine großartige Geschichte, dich mich (leider) berührt hat... ich bin wohl in einer besonders anfälligen Stimmung, anfällig für diese Art von Geschichten. Die Idee mit den lateinischen Namen finde ich fantastisch, und er ist ein sehr plastisch gezeichneter Charakter. Obwohl das lyrische Ich nicht unbedingt viel über ihn sagt, hatte ich doch ein deutliches Bild vor Augen. Auch zu ihrer Gedankenwelt habe ich Zugang gefunden, und sie scheint mir unsagbar traurig zu sein, traurig, dass zwischen ihnen nie mehr als Freundschaft sein kann. Die Aussage "wie eine Schwester" ist nett, aber gleichzeitig bis ins Tiefste verletzend. Dass das lyrische Ich für die "kleine Kuhle oberhalb des Pos" keinen Namen hat, berührt. "Danach haben wir beide zu Boden gesehen. Wir wollen es lassen, wie es ist und es Bauchnabel nennen, hast du schließlich gesagt." *schnüff* Hier hast du die Stimmung, die versteckte Traurigkeit exzellent eingefangen.


Inhaltlich (und vor allem stilistisch/rhythmisch) habe ich keinerlei Verbesserungsvorschläge; nur einige kleine Punkte will ich ansprechen:

"die Minuten nur tageweise durch das Stundenglas tropfen" - du willst doch sagen, dass die Zeit langsam vergeht, oder? Dann würde ich "die Minuten nur zögerlich" oder "die Sandkörner nur vereinzelt" oder "die Zeit nur alle Stunde" sagen (der letzte Vorschlag gefällt mir am besten).
Stundenglas tropfen, [strike][red]dann [/red][/strike]setze ich
Fast nie bist du zugedeckt [red][komma][/red] und wenn
kannst sehr gütig sein [red][komma][/red] und ich habe
unter dem dünnen subcutanen Fettgewebe - hier würde ich "Fett" streichen. Einfach nur Gewebe. Das ist zwar anatomisch weniger korrekt, klingt aber schöner.
Ich warte auf die Tage [red][komma][/red] an denen du zu mir kommst [red][komma][/red] und vor allem auf die Nächte [red][komma][/red]

Ich mag deine Geschichte sehr und werde sie mir aufheben... und einem sehr guten Freund schicken, der Kummer hat. Wenn du magst, sage ich dir, wie er sie fand.

Martin.
 

Arezoo

Mitglied
Lieber Herb,

was kann es schöneres geben, als dich mit einem Lächeln zu entlassen?
Das freut mich sehr, zumal ich in all das Begehren und die Wehmut des Textes meine Liebe zur menschlichen Anatomie gesteckt habe. (Eigentlich ist der Protagonist nur Nebensache... :) )
Herb, man liest sich!


Lieber Martin,

gut, dass ich dich in der richtigen Stimmung für den text erwischt habe! Das scheint mir ausschlaggebend zu sein...
Dein Kommentar hat mich sehr gefreut!
Mit der Kommasetzung stehe ich leider etwas auf Kriegsfuß! Ich danke dir sehr für deine Korrekturen!

Zu den Stunden, die tageweise durch das Minutenglas tropfen - hmmm... daran hänge ich, weil ich eigentlich damit ausdrücken will, dass Zeit ungemein relativ ist (laut Einstein hängt sie ja davon ab, vor welcher Seite von der Klotür man sich befindet). Es war eine Nacht in der mein lyrisches Ich hin- und hergerissen war, zwischen Minuten, die verflogen sind und Minuten, die zäh Sekunde für Sekunde zu tropfen schienen. Deshalb die Erwähnung aller drei Zeiteinteilungen. Ohne die geht es nicht.
Ohne die funktioniert der Widerspruch nicht.
Das 'subcutane Fettgewebe' ist ein feststehender medizinischer Begriff, leider keine Erfindung von mir.
Schon aufgrund meiner Leidenschaft für die menschliche Anatomie und die Medizin per se, ist es mir nicht möglich den Begriff zu verändern, anzupassen. Leider nicht, sonst würde ich deinem Vorschlag sofort nachgeben!

Natürlich darfst du die Geschichte gerne deinem Freund schicken und mich würde brennend interessieren, ob sie ihm gefallen hat!
Ist er medizinisch 'vorbelastet'? Oder passt es einfach stimmungsmäßig?

Nochmal vielen, vielen Dank für deine Anmerkungen.
Deine Antwort hat mich sehr, sehr gefreut!

Liebe Grüße an euch beide,
Arezoo
 

San Martin

Mitglied
Das mit dem "subcutanen Gewebe" hätte ich mir mal vorher überlegen sollen, denn "subcutanes Gewebe" ist ja völlig nichtssagend und könnte jedwedes Gewebe bezeichnen. Vergiss einfach diesen Vorschlag. ;) Ansonsten wüsste ich nichts, was ich noch verbessern würde. Mehr von mir später, versprochen.
 

Arezoo

Mitglied
Nunja, Martin, im Grunde ist subcutanes Fettgewebe genauso undifferenziert, weil man es an fast jeder Stelle des Körpers finden kann... also, mach dir da nix draus! :)
Ich bin jedenfalls schon sehr gespannt!
Halt mich auf dem Laufenden.

Liebe Grüße,
Arezoo
 

San Martin

Mitglied
Ihm hat sie gut gefallen, und er fand sie traurig. Was bei ihm genauso passiert ist wie bei mir: die Verblüffung herauszufinden, dass das lyrische Ich weiblich ist. Ich habe keinen Schimmer, warum sowohl er als auch ich von einem männlichen lyrischen Ich ausgegangen sind; vielleicht lag es... nun ja, keine Ahnnung.
 

Arezoo

Mitglied
Es freut mich, dass sie ihm gut gefallen hat!
Sehr faszinierend, dass die Weiblichkeit des lyrischen Ich's überraschend ist.
Vielleicht liegt es daran, dass 'normalerweise' eher Männer den weiblichen Körper beschreiben, bewundern und als so begehrenswert erscheinen lassen.
Danke dir für deine Rückmeldung!
Liebe Grüße,
Arezoo
 
B

bonanza

Gast
das ist richtig witzig. mir schaudert.
eiskalt deine kleine story.
als würde ein pathologe die liebe sezieren.
der witz ist, daß ich nicht weiß, ob du das
womöglich mit gefühl schriebst.

bon.
 

Arezoo

Mitglied
Hallo Bonanza,

der Witz ist: Ich beschreibe mit Gefühl, aber ob das bei dir ankommt?
Ich hab viel übrig für die Anatomie, die Pathologie. Vielleicht auch die Pathologie der Liebe.
Ich mag, wenn alles einen Namen hat.

Liebe Grüße,
Arezoo
 

Inu

Mitglied
Hallo Arezoo

Ich finde das keine gute Idee mit den lateinischen Ausdrücken. Passt nicht. Witzig wie bonanza finde ich das Ganze auch nicht.

Und die guten Eigenschaften, die Deine Prot. dem schlafenden Mann bescheinigt, sind nicht durch Bilder oder Beispiele belegt, sondern einfach so ziemlich unbegründet in den Raum gestellt.

Der Text ist meines Erachtens eher ein missratenes Experiment und etwa so spannend und erotisch wie eine Blinddarmoperation. Gähn.

Gruß
Inu
 

Arezoo

Mitglied
Liebe Inu,

erlaubt ist, was gefällt.
Und der Text ist sicherlich Geschmacksache.

Ich glaube im übrigen auch nicht, dass Bonanza den Text wirklich witzig findet... und hielt dies für eine eher ironisch gemeinte Bemerkung.

Und nein, die Eigenschaften dichte ich dem beschriebenen Mann nicht an. Die hat er einfach.
Liegt da eine Beweislast bei mir, von der ich nichts weiß? ;)
Meines Erachtens ist es nicht entscheidend, ob du nun als Leser glaubst, dass er all diese Eigenschaften tatsächlich hat. Mein lyrisches Ich tut es - das ist wichtig.

Und zur Erotik einer Blinddarm-OP... Schon mal eine gesehen?
Kommt drauf an, wer auf dem Tisch liegt. ;)

So long,
Arezoo
 

MDSpinoza

Mitglied
Manche sagen, daß Männer Frauen mit den Blicken ausziehen - Du gehst da etwas tiefer! "9"!
Laß die Stunden ruhig durch das Minutenglas tropfen, ich finde dies bild ganz ansprechend.
 

Arezoo

Mitglied
Ja, ich finde uns Frauen steht das Ausziehen mit Blicken mindestens genauso zu...
Und keine Sorge, die tropfenden Stunden bleiben, wie sie sind (genau wie lateinischen Fachausdrücke)- schön, dass du das genauso siehst!
Vielen Dank!

Liebe Grüße,
Arezoo
 

Inu

Mitglied
Hallo Arezoo

Ein Beispiel:
[blue]Vielen erscheinst du arrogant, vielleicht sogar oberflächlich. Ich habe es gehört, hinter vorgehaltener Hand.
Natürlich ist es nicht wahr. Du kannst sehr gütig sein...[/blue]
Ist ziemlich nichtssagend und flach, denke ich.

Das 'Besondere' an Deinem Text sind die aufgereihten lateinischen Bezeichnungen. Die beeindrucken natürlich den ehrfürchtsvollen Leser. Kein Verdienst... jeder könnte das, der sich die Mühe macht, dieses 'Wissen' aus einem Lehrbuch oder dem Internet herauszusuchen. Der Zeitaufwand wär mir einfach zuviel. Oder bist Du etwa
Medizinstudent(in) ??

Nein, mich lässt dieser Text und der von Dir beschriebene MENSCH?? eiskalt. :)
 

Arezoo

Mitglied
Liebe Inu,

dass dich das Thema und auch der MENSCH (warum eigentlich groß?) kalt läßt, habe ich schon verstanden...
Ich schrieb ja bereits, dass es nicht darum geht, das DU als Leser diesen Menschen attraktiv oder begehrenswert finden sollst, mein lyrisches Ich tut es - eine Tatsache, die vielleicht einfach hinzunehmen ist.
Wenn sich ein Leser von den lateinischen Fachbegriffen beeindruckt fühlt, kann ich das nicht ändern. Es war jedoch nicht meine Absicht.
Es ging mir darum Schönheit zu berschreiben. Schönheit, wie sie es ist in meinen Augen, mit all ihren wunderbaren, sorgfältig gewählten lateinischen Namen.
Wirbelsäule - wie langweilig. Columna vertebralis - das hat Klang, fast eine Melodie.
Anatomie ist eine Leidenschaft, kein pures Nachschlagen in einem Atlas oder googeln.
In der von dir zitierten Stelle steckt ein winziger Hauch von Doppeldeutigkeit. In der Tat ist sie eine der Schlüsselstellen der ganzen Geschichte.
Aber man muss schon ein Auge auf die feinen Töne haben, das gebe ich gerne zu, um an dieser Stelle die Bedeutung zu erahnen.
Soweit zum Text.

Nein, Inu, Medizinstudentin bin ich nicht. ;)

Lieber San Martin,
meine Kraft liegt in der Ruhe und vor allem in der Ironie...
Provozieren lasse ich mich selten. :)
Trotzdem Danke!

So long,
Arezoo
 

caspAr

Mitglied
benenne ich alles, was ich an dir sehe

shalom!

sehr schön, hin und wieder findet man eben doch noch etwas lesbares in der lupe.
dein text gefällt mir, er hat flow und birgt emotionen, welche ich dir abnehme, auch die sprachliche umsetzung ist dir größtenteils gelungen.
ein wenig stören mich die lateinischen bezeichnungen, sie sind so kalt und sezierend.
ich denke, ohne diesen medizinischen touch wäre der text eindringlicher, privater - und näher an der wärme des körpers, des menschens, welcher eine fast schon abhängig machende wirkung auf dich hat.
doch vielleicht wolltest du gerade dies verhindern.

es lebe das verlangen!
 

Arezoo

Mitglied
Shabbat Shalom, CaspAr!

Freut mich, dass der Text authentisch bei dir ankommt, denn das ist er zumindest teilweise.
Das Begehren oder Verlangen ist eine Form der Liebe. Intensiv und schmerzlich. Du hast recht, die lateinischen Fachausdrücke schaffen Distanz, die mein lyr. Ich bitter nötig hat...
Merkwürdig, welche Wirkung die Lat. Begriffe haben. Kalt und sezierend, manche scgüchtern sie gar ein, andere werden ehrfurchtsvoll.
Der beschriebene Mann mag einmal Leidenschaft gewesen sein, die Anatomie ist es heute noch...

Danke dir für's Lesen!

Liebe Grüße,
Arezoo
 

Aragorn

Mitglied
Und zur Erotik einer Blinddarm-OP... Schon mal eine gesehen?
Kommt drauf an, wer auf dem Tisch liegt

Für diesen Satz gibt es glatt noch ne Gedankenzehn! ggggggg*

Ich mochte diese Story schon immer! Mir gefällt es die kleinen " Überraschungen" im Lateinischen zu finden. Sehr nah beschrieben und doch ein Gefühl von bitterer Kälte.

Ara
 



 
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