Nachtsturm - ich wache auf

Lorenz

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Heftiges stetiges Geläut. Ich wache auf. Es ist noch Dunkel. Draußen weht ein Sturm und peitscht die Bäume. Den Wind, ich höre ihn. Ich stehe auf, gehe hinaus auf den Balkon. Er umspült mich mit seiner Kraft. Treibt mir seine Blätter entgegen. Ich stehe da im Schlafanzug der Nacht und breite meine Arme aus. Will fliegen. Aus der Mitte des Windspiels nehme ich das Pendel heraus und binde es an einem Haken fest. Das Geläut verstummt. Zurück unter der noch schlafwarmen Decke kuschele ich mich in den Schlaf. Draußen tobt der Wind.

Es ist hell. Ich wache auf. Bleibe liegen. Draußen ist er noch, treibt nun Regen über die Balkonbrüstung. Kauere mich als Embryo. Finde Geborgenheit im Geschütztsein des Raumes und dem Rhythmus der Geräusche. Es ist warm. Sie ist nicht da. Ich will es so. Wird es nie wieder sein. Ich bin allein. Unter blei- bis taubengrauen Wolken finden die Strahlen der Sonne hervor. Der Regen verstummt. Ich stehe auf, gehe hinaus auf den Balkon. Er hat die Erika von ihr heruntergerissen. Erst diese Woche hat sie sie mir geschenkt. Hebe sie auf vom Boden und stelle sie hinter der Brüstung wieder auf. Erika kann nichts dafür. Ich koche mir in der Küche einen Tee mit wärmendem Zimt. Wasche mir im Bad das Gesicht, ziehe mich an, hole die Laufschuhe vom Balkon.

Gehe hinunter und hinaus auf die Straße. Dehne mich. Beginne zu laufen. Überall - um mich, seine Blätter. Herausgeholt aus den Bäumen, aufgewirbelt von der Erde. Sie tanzen wild um mich herum. Ich lache. Schüttle den Kopf hinauf in den Nacken. Wie ein wiehernder Hengst, bäume mich auf. Ho, es kann beginnen. Bruder, ich bin hier. Gleichmäßiger Schritt wiegt mich entlang der Bahn auf dem Weg zum Teich, in den Park. Blätter rasen, dicht über dem Weg an mir vorbei. Tollen auf der Hatz. Ich laufe mitten unter ihnen. Er treibt sie wie eine Meute Hunde vor mir her. Ho, auf zur wilden Jagd.

Entlang der Allee von Pappeln. Ihr Rauschen umhüllt mich. Nun glaube ich nicht länger, dass sie es sind. Er ist es, er ist der, der bewegt. Ins Dunkel, hindurch durch den Tunnel unter der Brücke, ins Helle. Hinein unter das Gewölbe der hohen Bäume. Staune über die Schönheit ihres Farbenspiels. Über Teppiche aus Blättern laufe ich. Raschelnde Farbenpracht. Rotbraun und Gelb. Am Teich von den Büschen her ist der Teppich mehr grüngelb und hat eine feinere Struktur. Ich bin schuld. Enten laufen vor mir her. Bin ich schuld? Sie fliegen auf. Ja, ich bin schuld. Oder watscheln geschwind ins rettende Wasser. Habe meinen Teil zu tragen. Quaken aufgeregt. Damit werd ich leben müssen. Sind sie erbost darüber, dass ich sie aufgescheucht habe, oder froh entkommen zu sein? Ich habe ihre Ehe auf dem Gewissen, weil ich nicht Nein gesagt habe. Mehr als das.

Es klart auf. Er treibt die dunklen Wolken zur Seite, zerstreut sie, löst sie langsam auf. Die Strahlen glitzern auf dem bewegten Wasser. Es blendet geradezu. Mein Leib ist warm, ich höre den Atem, den Wind, wie er hindurchströmt. Er bewegt mich. Ho, ho. Setze an zum Sprung über die Pfütze. Drdrip, kommen die fliegenden Schuhe mit den neongelb- und grünen Streifen zur Erde zurück. Habe meinen Teil zu tragen und spränge ich noch so hoch. Weiter geht der schnelle Trab. Mit einem plötzlichen, heftigen Stoß springt der Busch mich an. Alle Zweige, Blätter strecken sich nach mir. Im Galopp mach ich einen Satz zur Seite. Mit ihr liefe ich langsamer. Auf dem weichen Pfad mit Holzspänen liegt ein Teppich aus gelborange gestreut. Die Füße federn. Komme auf die offene Wiese. Er ergreift mich mit aller Macht. Muss leicht schräg dagegen laufen, um nicht vom schmalen Pfad gerissen zu werden. Lege mich hinein, zeige ihm die gebeugte Schulter.

Entlang der Allee am Sportplatz vorbei zurück zur Bahn, Blätter jagen horizontal über den Weg, die ganze Luft ist erfüllt von ihnen. Zweige, Äste krachen auf den Weg. Bin auf der Hut. Ho, ho, ho erschlag mich nicht Bruder. Zurück nach Haus geschwind. Rechts, Ein Zug rauscht an mir vorbei. Links, die säulenhohe Pappelwand rauscht auch. Dazwischen berauscht es mich. Der Leib unter dem Sweatshirt ist heiß, heiß und feucht. Die letzten Schritte gehe ich. Es ist wie Schweben. Dehne meine Glieder. Beuge mich hinab. Die Hände auf das Pflaster. Er legt mir zart ein Lindenblatt in die Hand. Am Stiel heb ich es auf und trag es heim. Dusche mit warmem Strahl, spül den Schweiß herunter. Das Lindenblatt bedeckt die Wunde. Trockne mich ab und streiche mir selbst über die Haut. Ich zieh mich an, geh zum Bäcker und frühstücke -allein. Kaue langsam.

Auf dem Balkon unterm Windspiel standen zwei puppengroße Stühle, Panton chairs aus Formplastik. Den weißen hat er runtergefegt. Unbewußt heb ich ihn auf, stell ihn wieder hin. Setz mich an den Rechner und beginne zu schreiben. Es klötert draußen und es klötert nochmal. Jetzt hat er auch den zweiten orangenen Stuhl weggefegt. Ich höre, wie sie beide auf dem dunkelroten Fliesenboden schaben, wenn er sie bewegt. Sie standen dort für unsere Partnerschaft.

Der Himmel, azurblau, wolkenlos. Die Mittagssonne strahlt. Alles ins sanfte Herbstlicht getaucht. Der Wind ist abgereist. Die Jagd ist nicht zuende, hat erst begonnen. Ich bin allein. Bin ich frei? Bruder hebt die Lungen, strömt ein. Habe meinen Teil zu tragen. Es heißt: Schreiben vertreibt die Einsamkeit...
 



 
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