Nebel (zweite Fassung)
Nebel
Als Karl erwacht, weiß er sofort, wo er sich befindet. Er liegt in seinem Schlafsack am Ostseestrand. Zuerst streckt er nur seine Nase Richtung Himmel, atmet tief die salzige Luft ein. Dann öffnet er die Augen.
Er hatte eigentlich gehofft, die Sonne zu sehen, schließlich spürt er sie deutlich, aber ein dichter Nebel lässt nur ein unwirkliches, diffuses Licht hindurch.
Der Nebel ist so kompakt, dass Karl die winzigen Tröpfchen zu spüren meint und während es im Inneren des Schlafsackes mollig warm ist, erscheint die Außenseite wie ein ausgewrungener Waschlappen. Auch der Sand hat sich eine Kruste zugelegt. Nur in der flachen Grube mit den Resten des nächtlichen Feuers hat die Speicherwärme den Tautropfen keine Chance gelassen. Drei verkohlte Kloben liegen noch herum, die flugfähigen Überreste hat wohl ein leichter Nachtwind über die Küste verteilt. Trotzdem riecht es warm und würzig aus der Erdmulde.
Der zweite Schlafgast am Strand regt sich noch nicht. Unsichtbar vor sich hin schnarchend, sieht er mit seinem Schlafsack aus wie eine große zusammen gekrümmte Raupe. Das ist Karls Wohnungsnachbar Roland aus Berlin.
Mit ihren Frauen und den beiden vierjährigen Töchtern hatten sie sich gestern Mittag spontan zu diesem Ausflug an die Ostsee entschlossen.
Bis weit nach Mitternacht saßen sie zusammen am Strand, haben gegessen, getrunken, geraucht, die Kinder immer wieder im Kreis herumgewirbelt und schließlich den Abend mit einem Gespräch über die Unendlichkeit des Weltalls ausklingen lassen. Die Frauen trugen die schlafenden Mädchen zum Wohnmobil hinter der Düne, doch die beiden Männer beschlossen, am Strand zu schlafen.
Karl steht auf.
Die See liegt völlig ruhig, kein Wind weht mehr und nur das leise Glucksen einer kaum sichtbaren Dünung kommt in regelmäßigen Abständen an der Buhnenreihe entlang auf ihn zu. Die Sicht ist so miserabel, dass Karl gerade mal ein Buhnenfeld zu jeder Seite erkennen kann. Irgendwo bellt ein spielender Hund.
Nichtsdestotrotz ist es warm an diesem Sonntagmorgen Ende August und so zieht sich Karl aus und geht gemächlich ins Wasser. Da ihn niemand beobachtet, reibt er sich fröstelnd ungeniert über die Arme. Wären die Kinder oder die Frauen anwesend, hätte er, um seine männliche Stellung zu untermauern, nach wenigen Schritten kopfüber ins Nass springen müssen.
Ein Jogger läuft vorbei, ruft ein „Moin!“, Karl antwortet „Moin, Moin!“
Dann schwimmt er los.
In einer Linie mit den Buhnenköpfen hat er die erste Sandbank erreicht und kann wieder stehen. Bis zur Hüfte reicht ihm das Wasser hier. Nun rückwärts gehend, betrachtet er das Ufer. Kein Geräusch ist zu hören, keine Möwe kreischt, kein Hund bellt mehr, es ist totenstill. Der Nebel scheint alles Hörbare in sich aufzusaugen. Die über dem Wasser stehenden Schwaden erinnern Karl an das Außenbecken eines Thermalbades im Winter.
‚Wie mögen sich wohl die Seeleute früher gefühlt haben, so ganz ohne Gesichtskreis und GPS, wenn sie bei Flaute und so’ner Milchsuppe vor sich hin dümpelten?’ denkt er.
Auf dem Rücken mehr treibend als schwimmend, versucht er, sich in eine solche Situation hinein zu versetzen.
„Es gibt nichts Schöneres, als im Meer zu schwimmen, stimmt’s?“ ruft plötzlich eine junge Frauenstimme dicht hinter ihm.
Karl erschrickt und dreht sich herum.
Er war sich eigentlich sicher gewesen, allein zu sein, aber nun hält sich drei Meter von ihm eine junge Frau, fast ein Mädchen noch, mit langsamen Bewegungen über Wasser. Da er nur ihr Gesicht und ihre Schultern sehen kann, lässt sich das Alter schwer schätzen, er tippt auf zwanzig, höchstens zweiundzwanzig Jahre. An den Schultern und dem hübschen Gesicht erkennt er eine gesunde Freiluftbräune. Ihr braunes Haar trägt sie in einer sportlichen Kurzfrisur, zwei Ohrstecker glitzerten ein wenig und sie spricht den Dialekt der Gegend. Die Träger ihres Badeanzuges laufen als breite schwarze Streifen über die Schlüsselbeine, wahrscheinlich so ein Anzug, wie ihn Leistungsschwimmerinnen tragen.
„Ist das hier oft so, mit dem Nebel?“ fragt Karl.
„Nur wenn der Sommer zu Ende geht, aber heute ist es schon ganz schön krass.“
„Ich hatte gar nicht gesehen, dass noch jemand… also, dass du hier badest“ sagt er.
„Ist auch Zufall, dass ich gerade hier zum Ufer gekommen bin“ meint sie. „Ich hab weit draußen meine Bahnen gezogen. Der Nebel reicht nur ungefähr tausend Meter, dann ist klare Sicht.“
„Du schwimmst tausend Meter weit ins Meer?“ wiederholt er ungläubig.
„Locker“ ruft sie „wenn ich noch mal geboren werde, möchte ich ein Fisch sein oder so was.“
Karl blickt beim Schwimmen in die Tiefe unter sich. Das Salzwasser brennt ein wenig in den Augen.
„Wie tief wird es hier sein?“
Sie holt tief Luft und ihr Kopf verschwindet. Die völlige Stille um Karl herum lässt ihn nach einigen Sekunden unruhig werden. Er beginnt mit den Füßen auf der Stelle zu treten und blickt sich suchend um.
‚Sie muss schon eine Minute unter Wasser sein’ denkt er. Dann meint er ein Plätschern zu hören, schaut nach links, nach rechts, reckt den Kopf etwas höher, um vielleicht ein klein wenig weiter sehen zu können. Er taucht das Gesicht ins Wasser, schwenkt dort ebenfalls eine komplette Runde herum; Fehlanzeige.
Karl wird panisch.
„Hallo!!“ ruft er, in der Hoffnung, sie wäre ein Stück außerhalb seines Blickfeldes aufgetaucht.
Nichts.
Schon ist er sich nicht mehr ganz sicher, sie überhaupt gesehen zu haben. Wo sollte er auch suchen, er weiß ja schon nicht mehr, wo das Ufer ist. Als ihm das bewusst wird, ist es gänzlich um seine Beherrschung geschehen.
„Scheiße, verfluchte!!“ brüllt er laut. Er orientiert sich kurz am Stand der Sonne und schwimmt eben los, als das Mädchen in genau dem Abstand neben ihm auftaucht, der ein Erschrecken seinerseits ausschließt und gleichzeitig den Regeln der Höflichkeit zweier sich fremder Menschen Rechnung trägt. Sie prustet nicht einmal. Wortlos hält sie ihm eine Handvoll Sand mit ein paar Splittern von Muschelschalen hin.
„Donnerwetter!“ sagt er. „Ich hab schon Panik gekriegt. Wie tief ist es denn nun?“
„Schwarzgrün, vielleicht ein bisschen heller“ ist ihre kryptische Antwort.
„Ich schwimme zurück, mal sehen, ob meine Familie schon auf ist.“ Karl schwimmt los.
Das Mädchen lacht. „Halbe Drehung nach links und dann geradeaus, sonst kommst du höchstens zur Seebrücke, aber erst in einer Stunde. Wenn du so lange durchhältst, heißt das. Ich komme am besten mit zum Ufer.“
Nach einigen Schwimmstößen schält sich bereits die erste Buhne aus dem von oben erleuchteten Nebel. Das Stück über die Sandbank läuft Karl, sie lässt weiterhin nur Kopf und Schultern aus dem Wasser ragen.
Dann, als sie bereits im schenkeltiefen Wasser am Strand sind, sie schwimmt immer noch, nimmt sie plötzlich Kurs auf die Buhnenreihe und wuchtet sich schließlich mit einem kraftvollen Schwung hinauf.
Sie hat einen athletischen Oberkörper, kein Gramm Fett, wenig Brust und überhaupt keine Beine. Ihr Badeanzug, ein Modell mit angesetzten kurzen Hosenbeinen, ist dort, wo eigentlich die Beine anfangen, einfach zugeknotet, jedes Bein für sich. Das hat Karl nicht erwartet. Schnell schaut er wieder höher. Auf ihrem linken Oberarm prangt ein sauber gestochener Skorpion mit kampfeslustig aufgerecktem Hinterteil.
Sie hat natürlich seinen Blick gesehen und scheint amüsiert.
„Hast du ein Problem damit?“ fragt sie lächelnd.
„Nein, nein…es ist nur…es ist nur ungewohnt“ stottert er.
„Och Schietkram“ wiegelt sie mit einer Handbewegung ab. „Das ist wie bei einer Scheidung. Ist die körperliche Trennung erst mal vollzogen, kommt auch bald die gedankliche Trennung. Wenn die Natur gewollt hätte, dass man ohne Beine nicht leben kann, wäre ich ja schließlich tot. Und wer laufen will, der läuft auch.“
Karl ist ungefähr doppelt so alt wie die junge Frau. Normalerweise hätte er sie in Gedanken als „altklug“ abgetan und das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken versucht. Durch ihre Behinderung jedoch hatte sie sich einen Erfahrungsbereich erschlossen, den er einfach anerkennen musste.
„Aber …“setzt er an.
„Nichts aber“ ruft sie. „kannst ja versuchen, mitzuhalten!“
Sie dreht den Oberkörper nach rechts, stemmt sich mit einem „Hepp“ in den Handstand und läuft, nein rennt, mit nach außen gereckten Ellenbogen die Buhnenreihe entlang. Dabei berührt sie nur etwa jeden zweiten Baumstamm, weicht gekonnt den von Möwen hinterlassenen Häufchen unverdauter Muschelschalen aus und behält trotz der sich ständig steigernden Geschwindigkeit in bewunderungswürdiger Weise ihr Gleichgewicht. Mit dem weit in den Nacken geworfenen Kopf und dem zu einem Hohlkreuz durchgebogenen Rücken erinnert sie an den Skorpion auf ihrer Schulter. Die beiden Knoten der zugebundenen Hosenbeine zucken im Takt ihrer schnellen Sprünge abwechselnd vor und zurück. So schnell hätte Karl nie im Leben dort rennen können.
„Machs gut! Ich muss zu meinem Prinzen!“ ruft sie, lässt am Buhnenkopf den Schwung einen Augenblick nachwirken, stößt sich kraftvoll ab und verschwindet mit einem perfekten Kopfsprung im aufspritzenden Wasser.
Nebel
Als Karl erwacht, weiß er sofort, wo er sich befindet. Er liegt in seinem Schlafsack am Ostseestrand. Zuerst streckt er nur seine Nase Richtung Himmel, atmet tief die salzige Luft ein. Dann öffnet er die Augen.
Er hatte eigentlich gehofft, die Sonne zu sehen, schließlich spürt er sie deutlich, aber ein dichter Nebel lässt nur ein unwirkliches, diffuses Licht hindurch.
Der Nebel ist so kompakt, dass Karl die winzigen Tröpfchen zu spüren meint und während es im Inneren des Schlafsackes mollig warm ist, erscheint die Außenseite wie ein ausgewrungener Waschlappen. Auch der Sand hat sich eine Kruste zugelegt. Nur in der flachen Grube mit den Resten des nächtlichen Feuers hat die Speicherwärme den Tautropfen keine Chance gelassen. Drei verkohlte Kloben liegen noch herum, die flugfähigen Überreste hat wohl ein leichter Nachtwind über die Küste verteilt. Trotzdem riecht es warm und würzig aus der Erdmulde.
Der zweite Schlafgast am Strand regt sich noch nicht. Unsichtbar vor sich hin schnarchend, sieht er mit seinem Schlafsack aus wie eine große zusammen gekrümmte Raupe. Das ist Karls Wohnungsnachbar Roland aus Berlin.
Mit ihren Frauen und den beiden vierjährigen Töchtern hatten sie sich gestern Mittag spontan zu diesem Ausflug an die Ostsee entschlossen.
Bis weit nach Mitternacht saßen sie zusammen am Strand, haben gegessen, getrunken, geraucht, die Kinder immer wieder im Kreis herumgewirbelt und schließlich den Abend mit einem Gespräch über die Unendlichkeit des Weltalls ausklingen lassen. Die Frauen trugen die schlafenden Mädchen zum Wohnmobil hinter der Düne, doch die beiden Männer beschlossen, am Strand zu schlafen.
Karl steht auf.
Die See liegt völlig ruhig, kein Wind weht mehr und nur das leise Glucksen einer kaum sichtbaren Dünung kommt in regelmäßigen Abständen an der Buhnenreihe entlang auf ihn zu. Die Sicht ist so miserabel, dass Karl gerade mal ein Buhnenfeld zu jeder Seite erkennen kann. Irgendwo bellt ein spielender Hund.
Nichtsdestotrotz ist es warm an diesem Sonntagmorgen Ende August und so zieht sich Karl aus und geht gemächlich ins Wasser. Da ihn niemand beobachtet, reibt er sich fröstelnd ungeniert über die Arme. Wären die Kinder oder die Frauen anwesend, hätte er, um seine männliche Stellung zu untermauern, nach wenigen Schritten kopfüber ins Nass springen müssen.
Ein Jogger läuft vorbei, ruft ein „Moin!“, Karl antwortet „Moin, Moin!“
Dann schwimmt er los.
In einer Linie mit den Buhnenköpfen hat er die erste Sandbank erreicht und kann wieder stehen. Bis zur Hüfte reicht ihm das Wasser hier. Nun rückwärts gehend, betrachtet er das Ufer. Kein Geräusch ist zu hören, keine Möwe kreischt, kein Hund bellt mehr, es ist totenstill. Der Nebel scheint alles Hörbare in sich aufzusaugen. Die über dem Wasser stehenden Schwaden erinnern Karl an das Außenbecken eines Thermalbades im Winter.
‚Wie mögen sich wohl die Seeleute früher gefühlt haben, so ganz ohne Gesichtskreis und GPS, wenn sie bei Flaute und so’ner Milchsuppe vor sich hin dümpelten?’ denkt er.
Auf dem Rücken mehr treibend als schwimmend, versucht er, sich in eine solche Situation hinein zu versetzen.
„Es gibt nichts Schöneres, als im Meer zu schwimmen, stimmt’s?“ ruft plötzlich eine junge Frauenstimme dicht hinter ihm.
Karl erschrickt und dreht sich herum.
Er war sich eigentlich sicher gewesen, allein zu sein, aber nun hält sich drei Meter von ihm eine junge Frau, fast ein Mädchen noch, mit langsamen Bewegungen über Wasser. Da er nur ihr Gesicht und ihre Schultern sehen kann, lässt sich das Alter schwer schätzen, er tippt auf zwanzig, höchstens zweiundzwanzig Jahre. An den Schultern und dem hübschen Gesicht erkennt er eine gesunde Freiluftbräune. Ihr braunes Haar trägt sie in einer sportlichen Kurzfrisur, zwei Ohrstecker glitzerten ein wenig und sie spricht den Dialekt der Gegend. Die Träger ihres Badeanzuges laufen als breite schwarze Streifen über die Schlüsselbeine, wahrscheinlich so ein Anzug, wie ihn Leistungsschwimmerinnen tragen.
„Ist das hier oft so, mit dem Nebel?“ fragt Karl.
„Nur wenn der Sommer zu Ende geht, aber heute ist es schon ganz schön krass.“
„Ich hatte gar nicht gesehen, dass noch jemand… also, dass du hier badest“ sagt er.
„Ist auch Zufall, dass ich gerade hier zum Ufer gekommen bin“ meint sie. „Ich hab weit draußen meine Bahnen gezogen. Der Nebel reicht nur ungefähr tausend Meter, dann ist klare Sicht.“
„Du schwimmst tausend Meter weit ins Meer?“ wiederholt er ungläubig.
„Locker“ ruft sie „wenn ich noch mal geboren werde, möchte ich ein Fisch sein oder so was.“
Karl blickt beim Schwimmen in die Tiefe unter sich. Das Salzwasser brennt ein wenig in den Augen.
„Wie tief wird es hier sein?“
Sie holt tief Luft und ihr Kopf verschwindet. Die völlige Stille um Karl herum lässt ihn nach einigen Sekunden unruhig werden. Er beginnt mit den Füßen auf der Stelle zu treten und blickt sich suchend um.
‚Sie muss schon eine Minute unter Wasser sein’ denkt er. Dann meint er ein Plätschern zu hören, schaut nach links, nach rechts, reckt den Kopf etwas höher, um vielleicht ein klein wenig weiter sehen zu können. Er taucht das Gesicht ins Wasser, schwenkt dort ebenfalls eine komplette Runde herum; Fehlanzeige.
Karl wird panisch.
„Hallo!!“ ruft er, in der Hoffnung, sie wäre ein Stück außerhalb seines Blickfeldes aufgetaucht.
Nichts.
Schon ist er sich nicht mehr ganz sicher, sie überhaupt gesehen zu haben. Wo sollte er auch suchen, er weiß ja schon nicht mehr, wo das Ufer ist. Als ihm das bewusst wird, ist es gänzlich um seine Beherrschung geschehen.
„Scheiße, verfluchte!!“ brüllt er laut. Er orientiert sich kurz am Stand der Sonne und schwimmt eben los, als das Mädchen in genau dem Abstand neben ihm auftaucht, der ein Erschrecken seinerseits ausschließt und gleichzeitig den Regeln der Höflichkeit zweier sich fremder Menschen Rechnung trägt. Sie prustet nicht einmal. Wortlos hält sie ihm eine Handvoll Sand mit ein paar Splittern von Muschelschalen hin.
„Donnerwetter!“ sagt er. „Ich hab schon Panik gekriegt. Wie tief ist es denn nun?“
„Schwarzgrün, vielleicht ein bisschen heller“ ist ihre kryptische Antwort.
„Ich schwimme zurück, mal sehen, ob meine Familie schon auf ist.“ Karl schwimmt los.
Das Mädchen lacht. „Halbe Drehung nach links und dann geradeaus, sonst kommst du höchstens zur Seebrücke, aber erst in einer Stunde. Wenn du so lange durchhältst, heißt das. Ich komme am besten mit zum Ufer.“
Nach einigen Schwimmstößen schält sich bereits die erste Buhne aus dem von oben erleuchteten Nebel. Das Stück über die Sandbank läuft Karl, sie lässt weiterhin nur Kopf und Schultern aus dem Wasser ragen.
Dann, als sie bereits im schenkeltiefen Wasser am Strand sind, sie schwimmt immer noch, nimmt sie plötzlich Kurs auf die Buhnenreihe und wuchtet sich schließlich mit einem kraftvollen Schwung hinauf.
Sie hat einen athletischen Oberkörper, kein Gramm Fett, wenig Brust und überhaupt keine Beine. Ihr Badeanzug, ein Modell mit angesetzten kurzen Hosenbeinen, ist dort, wo eigentlich die Beine anfangen, einfach zugeknotet, jedes Bein für sich. Das hat Karl nicht erwartet. Schnell schaut er wieder höher. Auf ihrem linken Oberarm prangt ein sauber gestochener Skorpion mit kampfeslustig aufgerecktem Hinterteil.
Sie hat natürlich seinen Blick gesehen und scheint amüsiert.
„Hast du ein Problem damit?“ fragt sie lächelnd.
„Nein, nein…es ist nur…es ist nur ungewohnt“ stottert er.
„Och Schietkram“ wiegelt sie mit einer Handbewegung ab. „Das ist wie bei einer Scheidung. Ist die körperliche Trennung erst mal vollzogen, kommt auch bald die gedankliche Trennung. Wenn die Natur gewollt hätte, dass man ohne Beine nicht leben kann, wäre ich ja schließlich tot. Und wer laufen will, der läuft auch.“
Karl ist ungefähr doppelt so alt wie die junge Frau. Normalerweise hätte er sie in Gedanken als „altklug“ abgetan und das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken versucht. Durch ihre Behinderung jedoch hatte sie sich einen Erfahrungsbereich erschlossen, den er einfach anerkennen musste.
„Aber …“setzt er an.
„Nichts aber“ ruft sie. „kannst ja versuchen, mitzuhalten!“
Sie dreht den Oberkörper nach rechts, stemmt sich mit einem „Hepp“ in den Handstand und läuft, nein rennt, mit nach außen gereckten Ellenbogen die Buhnenreihe entlang. Dabei berührt sie nur etwa jeden zweiten Baumstamm, weicht gekonnt den von Möwen hinterlassenen Häufchen unverdauter Muschelschalen aus und behält trotz der sich ständig steigernden Geschwindigkeit in bewunderungswürdiger Weise ihr Gleichgewicht. Mit dem weit in den Nacken geworfenen Kopf und dem zu einem Hohlkreuz durchgebogenen Rücken erinnert sie an den Skorpion auf ihrer Schulter. Die beiden Knoten der zugebundenen Hosenbeine zucken im Takt ihrer schnellen Sprünge abwechselnd vor und zurück. So schnell hätte Karl nie im Leben dort rennen können.
„Machs gut! Ich muss zu meinem Prinzen!“ ruft sie, lässt am Buhnenkopf den Schwung einen Augenblick nachwirken, stößt sich kraftvoll ab und verschwindet mit einem perfekten Kopfsprung im aufspritzenden Wasser.