Nebenwirkungen

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Raniero

Textablader
Nebenwirkungen

Als Gregor Beisenkötter an einem Samstagmorgen erwachte, quälten ihn mittelstarke körperliche Schmerzen; nun gut, nichts ungewöhnliches, dachte er sich, ein jeder wird mal von Schmerzen heimgesucht, der eine weniger häufig, der andere halt des öfteren.
Das, was ihn jedoch bei diesen Schmerzen störte, war die Tatsache, dass er sie absolut nicht lokalisiere konnte; handelte es sich nun um Kopf- Glieder oder gar Zahnschmerzen, er hatte das Gefühl, dass es ihm am gesamten Körper gleichermaßen wehtat, sodass er sich nicht entschließen konnte, ob er einen oder gleich mehrere ärztliche Spezialisten aufsuchen müsse.
Bei diesen Gedanken fiel ihm ein und hierbei verdüsterte sich sein Gesichtsausdruck noch mehr, dass es Samstag war, ein Tag, an dem alle normalen Arztpraxen geschlossen hatten, und so konnte er an diesem Tag nur auf die Hilfe eines ärztlichen Bereitschaftsdienstes zählen, den es galt, erst einmal ausfindig zu machen und der bestimmt irgendwo am anderen Ende der Stadt seinen zermürbenden Dienst versah.
Gregor fand, dass ein solcher Aufwand für seine undefinierbaren Schmerzen nicht gerechtfertigt seien, und er wandte sich hilfesuchend an seine Ehefrau.
„Hilde, ich habe starke Schmerzen, am ganzen Körper, aber das Schlimmste ist, ich weiß gar nicht, wo diese Schmerzen herkommen; es tut praktisch überall weh“.
Hilde kannte ihren Pappenheimer; so leicht stöhnte dieser zwar nicht, aber wenn er es tat, erwartete er unbedingte Anteilnahme und Fürsorge von seiner Frau.
„Du Ärmster, was machen wir da bloß? Ausgerechnet am Samstag, wo die Arztpraxen geschlossen haben“.
„Du sagst es“, stöhnte Gregor, „so ist es immer, wenn man mal etwas hat!“
„Soll ich dich zum notärztlichen Bereitschaftsarzt fahren, Schatz?“
„Nein, lass mal, daran hatte ich auch schon gedacht, aber so schlimm ist es auch nicht. Wenn nur die verdammten Schmerzen nicht wären“.
„Dann hilft nur eines, mein Lieber, unsere Apotheke“.
Mit ungläubigen Augen blickte Gregor seine bessere Hälfte an; wollte sie sich über ihn lustig machen, bei all seinen Schmerzen?
„Was für eine Apotheke? Soll ich etwa zu diesem Quacksalber gehen und mich vor dem entblößen? Meinst du, der hat überhaupt einen Behandlungsraum?“
„Mein Gott, Gregor“, musste Hilde über die Weltfremdheit ihres Mannes lachen, „du sollst dich doch nicht in der Apotheke entblößen! Du gehst dahin, schilderst dem Mann deine Beschwerden, und er gibt dir ein entsprechendes Schmerzmittel“.
„Ein entsprechendes Schmerzmittel? Hilde, mein ganzer Körper schmerzt, verdammt noch mal, da muss er mir aber ganz viele entsprechende Pülverchen verabreichen“.
„Vielleicht hat er auch so eine Art Universalschmerzmittel, Gregor, was weiß ich. Geh doch erst mal zu ihm, dann siehst du weiter“.
Der Not gehorchend, machte Gregor sich auf den Weg.
Es blieb ihm schließlich nichts anderes übrig, wollte er nicht die zeitraubende Prozedur der Inanspruchnahme einer ärztlichen Notbereitschaft auf sich nehmen, vielleicht gab es ja wirklich so ein Universalpülverchen, welches wenigstens seine Schmerzen ein wenig gelindert und ihn somit übers Wochenende gerettet hätten.
Als er vor seiner Stammapotheke eintraf und im Begriff war, einzutreten, wurde die Tür von innen mit einem derben Schlag aufgerissen; heraus stürmte ein Mann mittleren Alters, mit weit aufgerissenen Augen und hochrotem Kopf, welcher derbe Flüche ausstoßend, das Ladenlokal verließ.
Während der Unbekannte sich auf diese wenig vornehme Art entfernte, glaubte Gregor, so etwas wie ‚Unverschämtheit, kein Aas hat mich darüber informiert’ vernommen zu haben.
Dieser Auftritt respektive Austritt trug nicht gerade dazu bei, Gregors Zuversicht in Bezug auf schnelle und brauchbare Hilfe an diesem Ort zu stärken, gleichwohl betrat er nach einigem Zögern mit nicht geringem Erstaunen die Apotheke.
Der Inhaber stand persönlich hinter der Theke, in dem ansonsten leeren Ladenlokal.
„Herr Beisenkötter, sind Sie es wirklich oder ist es Ihr Alter Ego“, begrüßte ihn der Herr der Pillen, wie stets zu einem Späßchen bereit, „wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Na, wie steht denn das werte Befinden?“
„Na, ja, eine Ewigkeit ist wohl übertrieben“, entgegnete Gregor, dem die Art dieser Begrüßung ein jedes Mal auf den Wecker ging, „vielleicht ist es meine Rossnatur, die mich selten in die Arme der Medizin treibt, aber sagen Sie doch einmal, was war das denn für ein Auftritt da eben, der Kunde, der da Hals über Kopf aus Ihrem Lokal herausgestürmt kam, was haben Sie denn mit dem gemacht? Konnten Sie dem nicht ein wenig Baldrian verabreichen, um ihn zu beruhigen?“
Der Apotheker stutzte ein wenig.
„Ach, so, der Herr M... Ja, wissen Sie, Herr Beisenköttter, da lag offenkundig ein Missverständnis vor. Er hatte sich vor ein paar Tagen über die Nebenwirkungen eines bestimmten Medikamentes erkundigt, und ich habe ihn ausführlich beraten, das heißt, ich habe ihn in der Tat auf alle erdenklichen Wirkungen hingewiesen, die bei dem Medikament auch nur im Entferntesten auftreten könnte. Das alles hätte er natürlich auch der Packungsbeilage entnehmen können, aber er bestand darauf, dass ich ihm alles noch einmal haarklein erklärte, und nun stellen Sie sich vor, heute kommt er doch wie ein Wahnsinniger zu mir, beschimpft mich in unflätiger Weise und hält mir vor, dass ich ihn nicht ausreichend aufgeklärt hätte“.
„Aber wie kann er das denn behaupten“, wandte Gregor ein, „wenn Sie ihn doch, wie Sie sagen, ausführlich beraten haben?“
„Tja, Herr Beisenkötter, das habe ich wirklich, glauben Sie mir“.
Er zwinkerte Gregor ein Auge zu.
„Eigentlich dürfte ich es Ihnen ja nicht sagen, aber dieser Kunde ist sowieso nicht mehr mein Kunde, seit heute; ich habe ihn, als seine Anschuldigen mir zu bunt wurde, hinausgeworfen. Allerdings, ein wenig Verständnis habe ich trotzdem für seine Wut, bei dem, was ihm widerfahren ist, auch wenn er die Schuld dafür bei sich selbst und nicht bei anderen suchen sollte“.
„Was ist ihm denn so Furchtbares widerfahren“, fragte Gregor verwundert, „hat er sich etwa selbst vergiftet, durch eine Überdosis?“
„Schlimmer“, lachte der Apotheker, „schlimmer, oder besser gesagt, peinlicher, für ihn“.
„Was ist denn passiert?“ Gregor konnte vor Neugierde kaum noch an sich halten.
„Sie müssen wissen, Herr Beisenkötter, es gibt Wundsalben, die man speziell im Genitalbereich verwendet. Diese Wundsalben können allerdings eine Art besonderer Nebenwirkungen nach sich ziehen; sie können die Reißfestigkeit von Kondomen beeinträchtigen. Darauf habe ich aber, ich versichere es beim Leben meiner Frau, den Kunden hingewiesen“.
Nun konnte er nicht mehr an sich halten, der beflissene Apotheker, vor Lachen, und auch Gregor stimmte mit ein, bei der bildlichen Vorstellung dieser wirklich außergewöhnlichen Nebenwirkung. Wahrscheinlich, so sagte sich Gregor, hätte er selbst auch so unbeherrscht reagiert, im ersten Moment, aber bestimmt nicht in der Öffentlichkeit, sondern eher im stillen Kämmerlein.
Der Apotheker aber lachte und schien gar nicht mehr aufhören zu wollen, während Gregor allmählich das Spaßes überdrüssig wurde; von neuem durch einen stechenden Gliederschmerz auf den Boden der Realität zurückgeworfen beziehungsweise an den eigentlichen Grund seines Kommens erinnert, begann er mit leidender Miene dem langsam zur Seriosität zurückfindenden Freund der Pillen seine Beschwerden darzulegen.
Nun bemühte sich auch der Apotheker ernsthaft, seiner Schilderung Gehör zu verleihen.
Als Gregor geendet hatte, nahm dessen Miene wieder den normalen Apothekerausdruck an; professionell gekonnt legte er sein Gesicht in berufsmäßig einstudierte Sorgenfalten.
„Ja, das hört sich aber in der Tat nicht positiv an, lieber Herr Beisenkötter, „und alle diese Schmerzen haben Sie seit heute Morgen, seit dem Aufstehen?“
Gregor bejahte.
„Sie haben auch noch keinen Arzt aufgesucht resp. aufsuchen können, stimmt’s?“ erinnerte sich der Apotheker, dass Samstag war.
Gregor bestätigte durch lautloses Kopfnicken.
„Hören Sie. Herr Beisenkötter, ich bin kein Arzt, und ich möchte diesem auch nicht vorgreifen und Ihnen zu einem falschen Medikament raten, aber so, wie Sie mir Ihre Beschwerden geschildert haben, scheint es sich um eine allgemeine Schwächung Ihres körperlichen Gesamtzustandes zu handeln. Alles, was ich für Sie tun kann, ist folgendes: ich kann Ihnen ein allgemeines Schmerzmittel empfehlen, in Tabletten- oder Tropfenform, damit Sie für’s Erste von den Schmerzen befreit werden. Sollten diese aber trotzdem nicht weggehen oder gar schlimmer werden, sollten Sie unverzüglich den notärztlichen Bereitschaftsdienst in Anspruch nehmen“.
Gregor Beisenkötter entschied sich für das Schmerzmittel in Tablettenform.
„Und die Nebenwirkungen“, fragte er nach.
„Na, ja, die Nebenwirkungen. Sie wissen ja, Nebenwirkungen gibt es bei jedem Medikament, wenn man so will, doch dieses ist, wie gesagt, nur ein allgemeines leicht verträgliches Schmerzmittel, rezeptfrei, und hierbei halten sich die Nebenwirkungen tatsächlich in Grenzen. Wenn Sie nicht gerade allergisch sind gegen die frische Luft draußen, dann können Sie die Tabletten unbesorgt nehmen. Schwanger sind Sie doch hoffentlich nicht, Herr Beisenkötter?“ fügte er mit einem explodierenden Lachen hinzu.
„Ansonsten steht alles auch noch einmal ausführlich auf dem Beipackzettel“.
Gregor nahm die Tabletten, zahlte und bedankte sich noch einmal. Gedankenverloren verließ er die Apotheke.
Auf dem Heimweg legte er eine kleine Pause ein, nahm den Beipackzettel aus der Tablettenschachtel und begann zu lesen.
Nebenwirkungen:
„Dürfen nicht eingenommen werden bei.. es folgte eine längere Aufzählung von Krankheiten und Beschwerden, die der Einnahme des Medikaments im Wege standen.
Er las weiter, wobei ihm nach und nach die wenigen Haare einzeln zu Berge stehen begannen: Muss unbedingt beachtet werden.. wiederum gab es eine unendlich lange Aufreihung von Hinweisen, die befolgt werden mussten, bevor man das Medikament überhaupt in die Hand nahm.
Mit klopfendem Herzen drehte Gregor den Zettel um; mit Grausen nahm er die fettgedruckten Warnung zur Kenntnis: In seltenen Fällen mögen Reaktionen auftreten, die zum Tode führen können....
‚Das geht zu weit’, dachte Gregor mit tiefster Empörung, ‚was denkt sich dieser Quacksalber denn?’
Auf dem Absatz machte er kehrt und wollte schon den Weg zur Apotheke einschlagen, um dem Pillendreher in ähnlicher Weise seinen Unmut auszusprechen, wie es der Kunde vor ihm getan hatte, doch dann besann er sich anders.
Ihm fiel ein, dass es ganz in der Nähe eine Gaststätte gab, die um diese Uhrzeit schon ihre Pforten geöffnet hatte.
In hohem Bogen warf er die Tabletten samt Beipackzettel in den nächsten Abfallbehälter und machte sich auf den Weg zu der Kneipe.

Als Gregor am späten Nachmittag zu Hause eintraf, waren alle Schmerzen wie vom Winde verweht.
Hocherfreut und mit leichten Sprechbeschwerden teilte er seiner Frau diese positive Entwicklung mit, allerdings hatte er hierbei das unbestimmte Gefühl, dass die Gemahlin seine unbändige Freude nicht so ganz mit ihm teilen wolle.

Am nächsten Morgen wurde Gregor Beisenkötter wach, mit weitaus stärkeren Schmerzen als am Vortage; neben sich im Bett wirkte und schimpfte seine Frau wie ein Rohrspatz.
Nun hatte er zu allem Überfluss neben seinen fürchterlichen Schmerzen darüber hinaus auch noch Nebenwirkungen der besonderen Art; Nebenwirkungen, wie sie schlimmer nicht auf dem Beipackzettel hätten stehen können.
 
Lieber Raniero!

Um meine Bewertung bei diesem Text zu begründen und Dir meinen generellen Eindruck zu Deinen Texte zu schildern, hier mein Kommentar:

Zuerst mal finde ich die Vielfalt und Breite Deiner Themen gut. Du fasst gute Themen auf und erkennst potentiell humoristische Details. Weiter so.

Was mir allerdings fehlt, ist die für meinen Geschmack sehr starke Farblosigkeit der Charaktere in Deinen Texten. Für Satiren sind sie mir zu brav, zu grau, haben zu wenig Fehler/Schwächen/Extremheiten, fast hätte ich gesagt: sie sind zu "deutsch". Ich persönlich liebe eine gute Zeichnung der Protagonisten, die Story selbst wird dann beinahe schon nebensächlich und vor allem durch die Charaktereigenschaften getrieben.

Auch wenn Du die Personen beschreibst, irgendwas fehlt mir. Es fällt mir schwierig genau zu beschreiben, was. Vielleicht ist es die absolute Emotionslosigkeit oder die Ungerührtheit der Charaktere auf Ereignisse. Meine Charaktere müssen schreien, winseln, wimmern, explodieren, überzeichnet werden. Damit stolpern sie immer mehr ins Verderben meiner Geschichte und werden so (hoffentlich) lustig.

Mein (natürlich persönlicher) Rat an Dich wäre, weniger am Ereignis selbst zu "feilen", als viel mehr an den Charakteren Deiner Geschichten. Arbeite mit einem Charakter öfter, sprich: bring ihn/sie in mehreren Geschichten unter. Mache Dir ein Bild und eine Beschreibung Deiner Figur und schreibe das separat wo auf. Wie ich irgendwo so schön wo gelesen habe: "Du solltest Deinen Protagonisten so genau kennen, dass Du weisst, wieviel Kleingeld er in der Hosentasche hat."

Ich selbst verwende auch mehrere Charaktere (die sich teilweise mit realen Personen überdecken oder das Gemisch aus mehreren realen Personen sind), wie Natasha, Michi, Adi oder mich selbst. Weil ich sie kenne, kann ich auch besser beschreiben, wie sie reagieren würden und gegebenfalls völlig abstrus denken lassen. Damit wird die Geschichte viel lebhafter, weil die Figuren lebhafter sind. Und nicht zu jedem Ereignis passen alle Figuren, manche Geschichten können nur von der entsprechenden Person erlebt werden.

Marius
 

Raniero

Textablader
Hallo Marius,

vielen Dank für die wohlgemeinten Anregungen.
Für mich stehen allerdings der Aberwitz des Alltages, das Absurde des Geschehens und die grotesken Situationen, die sich daraus entwickeln, im Vordergrund meiner Storys, nicht die handelnden Personen.
Gleichwohl haben die Protagonisten Charaktere, Eigenschaften, die in subtilen Anmerkungen gekennzeichnet sind, und sie sind gewiss nicht emotionslos, wenn sie nicht brüllen, winseln, sondern stammeln, die Gesichtsfarbe wechseln oder die Sinne verlieren.
Meine Intention ist esjedoch in erster Linie, die Widrigkeiten des Alltags, denen ich in meinem Umfeld immer wieder begegne, auf die Sitze zu treiben. :cool:

Gruß Raniero

PS
Meine beiden bisher erschienen Bücher mit satirischen Erzählungen heißen:
'Bolero'
'Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei'

Ein weiterer Band ist in Vorbereitung, vielleicht trägt er den Titel: 'Die fünfte Geierwally':cool:
 



 
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