Nerd outta style

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Binary

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Für Matt, Fremder und Freund, der den Weg ins Leben zuerst zurück gefunden hat.
Danke, dass Du einen Walkthrough geschrieben hast.​


Es war im November vor ein paar Jahren, als ich mich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte dafür entschied, ein Nerd zu werden. Wer sich mit Computern etwas auskennt, der weiß, dass die Bezeichnung „Nerd“ nicht gerade ein Kompliment ist. Im Gegenteil. Es ist das gängige Wort für den Klischee-User, den man sich automatisch mit einer dicken Hornbrille, leichtem Überbiss und Hang zum ausgeprägtem Stubenhockertum vorstellt. Man denkt an halbdunkle Räume, nur erhellt von Monitoren und blinkenden Lämpchen, die zu Mehrfachsteckdosen, Modems und anderem technischen Schnickschnack gehören. Irgendwo in diesem von Kabeln durchzogenen Raum, zwischen leeren Pizzakartons und CD-Spindeln, sitzt der Nerd und steuert eine schwer bewaffnete Fantasy-Figur durch ein virtuelles Labyrinth. Im Sekundentakt poppen Chatfenster auf, während auf einem anderen Monitor Downloadbalken wachsen und sich zahllose Systemchecks laufend aktualisieren. Per Definition bewohnt die belächelnswerte Person einen Dachboden- oder Kellerraum, in den dank weniger oder kleiner Fenster kaum Tageslicht dringt. Zusätzlich zeichnet der klassische Nerd sich auch durch mangelnde Sozialkontakte im realen Leben aus. Meist beschränken sich diese auf den Pizzaboten, desinteressierte Eltern, die nur alle paar Tage mal nachschauen, ob sich noch Leben in diesem an ein Raumschiffcockpit erinnernden Raum regt und die wichtigste Person im Leben des Nerds: den Paketboten, denn der Nerd lebt von Ebay. Alle anderen Freunde sind gesichtslos oder in ihrer Identität nicht nachzuprüfen; sie tragen Nicknames und haben statt Telefonnummern Messenger-Screennames. Dem Nerd ist rätselhaft, wozu Pay-TV erfunden wurde, denn er schaut schon seit Jahren per Internet seine Lieblingsshow, live im australischen Fernsehen, ohne einen Cent dafür auszugeben. Der Nerd versteht auch die Existenzberechtigung von Kaufhäusern nicht. Schließlich kann man alles auch im Internet bestellen. Der Nerd sieht keinen Nutzen in Cafés, Kneipen oder Discos. Musik hören, Leute treffen, flirten – nichts, was er nicht auch online tun kann.

Die meisten Menschen belächeln oder bemitleiden Nerds für dieses scheinbar armselige Dasein, diesen Realitätsverlust. Aber damals erschien mir die Idee, mich freiwillig dem Nerdtum anzuschließen, wie die großartigste meines Lebens. Ich fühle mich erleuchtet von diesem Ansinnen, so seltsam dies auch klingen mag. Doch ich hatte gute Gründe für diese weitreichende Entscheidung.

Im Juni hatte meine Freundin Annika sich nach vielen Aufs und Abs „auf Probe“ von mir getrennt. Um Abstand zu gewinnen, wie sie sagte. Ich sah ein, dass unsere Beziehung kriselte und es vielleicht gar nicht dumm war, unsere Gefühle und unser Zusammensein zu durchdenken. Anfang Juli stellte ich dann zufällig fest, dass sich der Abstand zwischen Annika und mir tatsächlich vergrößert hatte. Der Abstand zwischen ihr und ihrem Ex hingegen war proportional geschrumpft, um nicht zu sagen: nicht mehr vorhanden. Nach einigem Nachbohren eröffnete sie mir dann, dass mit ihm schon seit einem halben Jahr was nebenher lief und sie eigentlich die Pause vorgeschlagen hatte, um zu überlegen, ob sie nicht doch zu ihm zurückgehen sollte. Was ich ihr anschließend an den Kopf warf, kann man sich vermutlich in etwa denken und dass das Ende vom Lied so aussah, dass sie zu ihm zurückging, auch.

Im gleichen Zeitraum hatte sich auch mein Chef einige Gedanken darüber gemacht, ob er den Abstand zu mir vergrößern sollte. Dem allgemeinen Trend folgend tat er dies dann auch und ich stand ohne Job da. Nicht, dass ich meine Arbeit sehr gemocht hätte. Aber es war immerhin eine und ich hatte mich finanziell nie beklagen können. Außerdem wurde mir bewusst, dass meine besten Freunde auch meine Arbeitskollegen waren – und ich plötzlich nichts mehr hatte, worüber ich mit ihnen reden konnte. Einerseits, weil mir nie aufgefallen war, dass wir fast immer über die Arbeit redeten und sie dies, aus Rücksicht auf meine Lage, nun unter sich ausmachten. Andererseits, weil wir außer dem Job nicht viel gemeinsam hatten, was mir aufgrund der erstgenannten Feststellung ebenfalls nie klar war. Da saß ich nun also, ohne Job, ohne Freundin und mit Freunden, sie sich nur aus Höflichkeit mit mir trafen. Und desto mehr Zeit verging, desto seltener wurden unsere Treffen im Allgemeinen.

Im September begann ich, zu resignieren. Ich war kein „spontaner Typ“, wie es so schön heißt, und meine kläglichen Versuche, irgendwo Anschluss zu finden, waren zwar nicht gänzlich gescheitert, aber zumindest sehr unbefriedigend geblieben. Allein in Kneipen, Discos oder auch nur ins Kino zu gehen war wirklich nicht mein Ding. Ich hatte mich daher mit Bekanntschaften aus dem Internet getroffen, die ich bei den immer ausgedehnteren Ausflügen dorthin kennen gelernt hatte. Doch ich machte immer wieder die gleiche Feststellung. Entweder waren diese Leute völlig anders, als ich sie mir vorgestellt hatte, nämlich langweilig und nichtssagend. Oder aber, sie kannten Hans und Franz in der Kneipe, in der wir uns trafen, und ich fühlte mich sofort wie das fünfte Rad am Wagen. Zudem kamen meine Bewerbungen grundsätzlich mit besten Wünschen für meine Zukunft zurück und man bat mich um Verständnis, dass aufgrund der aktuellen Wirtschaftslage momentan nicht eingestellt würde. Notgedrungen hatte ich also begonnen, alten Krempel bei Ebay zu verkaufen, um meinen gewohnten Lebensstandart zu halten.

Und im November, kurz vor meinem Geburtstag, begann ich mich zu fragen, wozu ich das alles tat. Wozu brauchte ich die DVDs eigentlich? Allein hatte ich eh nie Lust, mich vor den Fernseher zu setzen. Wozu brauchte ich die Vierzimmerwohnung? Für mich allein war sie eh zu groß. Und warum frisch einkaufen und selbst kochen, wenn es doch auch ein Fertiggericht tat, das genauso satt machte und zudem für die Zubereitung deutlich weniger Zeit in Anspruch nahm; Zeit, in der ich mich vom Computer entfernen musste? Warum wollte ich meine Chatbekanntschaften eigentlich kennen lernen, wenn sie im Internet interessante und nette Gesprächspartner waren, aber sich von Angesicht zu Angesicht als fade und wortkarg herausstellten? Was wäre so falsch daran, den Schein zu wahren?

Diese Überlegungen verfestigten sich und am Morgen meines 28. Geburtstags waren sie gar zum Manifest gereift. Ich kündigte meine Wohnung und zog in eine deutlich kleinere Dachgeschoßwohnung, bestehend aus einem Wohn- und Schlafzimmer, einem winzigen Bad mit Dusche und einer ebenso winzigen Küche. Wer mir vor einem halben Jahr erzählt hätte, ich würde freiwillig in eine Wohnung ohne Badewanne ziehen, in der es zudem nur ein Dachfenster zur Nordseite gab, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Aber jetzt sah ich die Vorteile. Weniger Platz bedeutete, weniger aufräumen und putzen zu müssen. Von der Mietersparnis gar nicht zu reden. Und dann noch der Profit, den ich aus dem Verkauf meiner alten Möbel schlug!

Meine neue Einrichtung hielt ich eher spartanisch. Früher das teure Doppelbett, jetzt ein solides, wenn auch weniger schmuckvolles Modell aus dem Second-Hand-Möbelladen der Wohlfahrt. Früher ein Arbeitszimmer, jetzt ein überdimensionaler und vor allem funktionaler Schreibtisch. Mit Raumschmuck hielt ich mich völlig zurück. Bilder und ähnlichen Schnickschnack legte ich mir gar nicht erst zu. Meine gesammelten DVDs stapelte ich, genau wie die Bücher, einfach auf dem Boden. Wozu auch ein Regal kaufen, wenn ich all das Zeug früher oder später eh bei Ebay verkaufen würde? Meine teuerste Anschaffung waren die beiden Computer, die meinen neuen Schreibtisch zu gut zwei Dritteln einnahmen. Ich wollte das Nerdtum voll auskosten und war mir sicher, dass ein einzelner Computer dem Vorhaben nicht standhalten würde. Zusätzlich kaufte ich alles an Zubehör, was mir gerade sinnvoll erschien. Digitalkamera, Webcam, Joystick, Headset, verschiedene USB-Sticks, einen Vorrat an allen verfügbaren Rohlingen, Drucker, Scanner, Kopierer, Kartenlesegerät, Grafik-Kit und die aktuellsten Spielekonsolen. Ich ließ mir eine teure Standleitung legen. Für den Fall, dass diese ihren Dienst einmal versagen könnte, kam für den anderen Computer eine DSL-Flatrate hinzu. Mein alter Computer vervollständigte mein Netzwerk als vorgeschalteter Server, auf dem ich Firewalls und Virenscanner installierte. Ich hatte alle Computer an Sicherheitssteckdosen angeschlossen, denn Sicherheit ging mir bei meinen neuen Freunden über alles. Ich meldete auch mein Auto ab, verkaufte es und machte mir nicht die Mühe, eine Monatsfahrkarte für öffentliche Verkehrsmittel zu erwerben. Schließlich hatte ich meine neue Wohnlage mit Sorgfalt gewählt. Vier Minuten zu Fuß bis zur Post. Ein Kiosk im selben Häuserblock und eine 24-Stunden-Tankstelle, zwei Straßen weiter. Zwei Pizzataxis und ein chinesischer Lieferservice im selben Stadtteil. Ich würde mich nie weiter als drei Straßen von meiner Wohnung entfernen müssen.

Als endlich alles erledigt war, zog ich die Jalousie vor meinem Dachfenster herunter, so dass der Raum in ein warmes Halbdunkel getaucht wurde, startete die Computer und betrachtete, was ich geschaffen hatte. Und ich sah, dass es gut war. Fast feierlich setzte ich mich in meinen ledernen Schreibtischsessel, ähnlich dem, in dem mein früherer Chef gethront hatte. Als erstes checkte ich meinen Kontostand online und stellte zufrieden fest, dass ich mich durch die Verkäufe diverser Habseligkeiten und trotz der kostspieligen Neuanschaffungen vorerst nicht sorgen musste. Schließlich waren meine Kosten um eine nicht unerhebliche Summe gesunken. Dann begann ich, die beiden Hauptrechner meinen neuen Bedürfnissen anzupassen. Ich installierte zahllose Programme, bookmarke Seiten und legte Ordner an. Früher hatte ich mich mit einer Standart-Benutzeroberfläche zufrieden gegeben. Jetzt aber schuf ich mir individuelle Desktops, die sowohl in Funktion als auch Design bis ins letzte Detail perfekt waren. Am frühen Abend war es an der Zeit, mit meinem neuen Leben wirklich zu beginnen.

Mit meinem alten Leben hatte ich innerlich bereits vor Wochen abgeschlossen, also musste als erstes eine neue Identität her. Ich ging die Sache mit System an. Ich wollte eine glaubwürdige Identität. Eine, die mir in einigen Punkten ähnlich war, vielleicht sogar tatsächlich ich. In anderen Punkten jedoch sollte sie anders sein; offener, interessanter, abenteuerlustiger, extremer. Das neue Ich. Ich stieß auf die Seite http://www.myspace.com, auf der jeder eine kleine Homepage anlegen konnte. Ich las einige Profile von anderen Usern, surfte durch Links zu genannten Interessen, die ich mir auch für mich selbst vorstellen konnte und machte mir Gedanken zu meinen möglichen Namen.

Schließlich entschied ich mich für die ersten Grundsteine. Mein Nickname würde geschlechtsneutral sein, damit mir alle Türen und Themen offen stehen würden. Außerdem würde ich aus einem Land kommen, in dem man eigentlich nicht Englisch sprach. Englisch war die Sprache meiner neuen Welt, doch ich traute mir auch nach drei Jahren in der Auslandskundenbetreuung kein perfektes Englisch zu. Und ich würde 25 sein, ein unverfängliches Alter, in dem ich schon über eine gewisse Lebenserfahrung, aber auch jugendliche Züge verfügen würde. Meine Interessen betreffend würde ich teilweise bei der Wahrheit bleiben, allerdings einige Dinge hinzufügen. Dinge, die mir schon immer interessant erschienen waren, für die mir bisher aber die Zeit oder die Möglichkeit gefehlt hatte, um mich intensiver damit auseinander zu setzen.

Ich surfte über einige Seiten über Namen, ihre Herkunft, Bedeutung und Verwendung, und schloss gängige Namen, die man für beide Geschlechter benutzen konnte, aus. Es wäre zu offensichtlich, dass ich mich verstecken wollte. Nach der Namenswahl suchte ich nach einem Land, das nicht zu ungewöhnlich war, aber auch nicht zu weit verbreitet. Letztlich entschied ich mich für Italien, gab aber an, dort geboren und aufgewachsen zu sein und jetzt seit 10 Jahren in England zu leben. Meine Interessen sammelte ich mir auf verschiedenen anderen Profilen zusammen und mischte beliebte, aber recht allgemein gehaltene Themen mit meinen tatsächlichen Vorlieben. Ich feilte stundenlang an meinem Profil, schließlich war es mein neues Ich und damit sollte man immer sorgsam umgehen. Als ich endlich fertig war, registrierte ich meinen Nickname bei jedem bekannten Messenger und schloss alle in Trillian zusammen. Trillian ermöglichte mir das Empfangen und Senden von Telegrammen mit Messengern von AOL, ICQ, Yahoo, MSN und IRC gleichzeitig. Ich hatte den Nutzen solcher Programme nie angezweifelt, aber mich auch nie wirklich damit beschäftigt. Jetzt erschien es mir wie die beste Erfindung seit dem Mikrowellengericht.

Ich entschied, auf dem zweiten Computer ein paar Dinge herunter zu laden, einfach, damit auf dem zweiten Monitor etwas passieren würde. Ich gab also relativ wahllos Musiktitel, Filme und Spiele ein und wartete, was die Suchfunktion ausspucken würde. Erst, als ich der Vielfalt des Angebotes gewahr wurde, stellte ich fest, dass ich einiges davon tatsächlich haben wollte. Also wählte ich die entsprechenden Titel an, wartete nicht, ob der Download starten würde, sondern ging in meine winzige Küche und schob eine Fertiglasagne in die Mikrowelle. Als diese fertig war, nahm ich sie mangels eines Esstisches mit zum Schreibtisch und während ich aß, meldete ich meinen neuen Nickname bei Ebay an. Es würde nicht schaden, schon mal ein paar Bewertungen zu sammeln, bevor ich darauf angewiesen sein würde, hier mein Geld zu verdienen.

Nach dem Essen war es an der Zeit, die Früchte der Arbeit auszukosten. Ich registrierte mich bei www.popcap.com, einer Seite, auf der man mit tausenden von anderen Usern online spielen konnte. Früher war ich gelegentlich hier gewesen, allerdings tatsächlich, um einige der doch recht zeitweiligen Spiele zu spielen. Damals hatten mich die User, die mich im Privat-Chat ansprachen, genervt. Aber heute war ich wegen ihnen da. Ich würde jede Chatanfrage annehmen, egal von wem sie käme. Ich wusste, dass Leute, die ausschließlich chatteten, nicht gern gesehen wurden, also würde ich nebenbei auch wirklich mitspielen und mich zusätzlich am öffentlichen Chat beteiligen. Nicht offensiv, aber aktiv. Ich entschied mich für mein Lieblingsspiel, „Psycho Babble“. Der Sinn des Spieles bestand darin, aus vorgegebenen Worten einen lustigen Satz zu bauen, innerhalb einer kurzen Zeitspanne. Im Grunde war es Scrabble mit ganzen Worten. Nach Ablauf der Zeit wählten alle Spieler den besten Satz aus denen der anderen, für jede Stimme gab es Punkte. Simple Regeln, viel Spaß und reichlich Gesprächsstoff also. Es gab zwei Haupträume, einen für unter 18jährige, einen für Erwachsene. In letzterem war es Tradition, anzügliche oder doppeldeutige Sätze zu bauen und entsprechend mehr lernte man über englische Umgangssprache. Zudem waren dort meist die chatfreudigeren User anzutreffen, also entschied ich mich für die Erwachsenen-Lounge. Dort hatte ich die Wahl zwischen verschiedenen Spielräumen; einer so gut wie der andere. Ich fand schnell einen freien Platz in einem auf 12 Spieler limitierten Raum und stieg ins laufende Spiel ein. Ich begrüßte meine Mitspieler im öffentlichen Raum, einer unausgesprochene Regel folgend. Chatwillige Spieler grüßten die anderen, wer ausschließlich spielen wollte, blieb beim Betreten des Raumes stumm.

Es dauerte nicht lange, bis die erste Chatanfrage kam, die ich natürlich annahm. Eine beliebte Eröffnung war die Abkürzung „asl“, was für „Age/Sex/Location“ stand. So wusste man direkt, mit wem man es zu tun hatte – und natürlich, ob die betreffende Person potentiell interessant zum „Cybern“ war, womit nichts weiter als eine Art Chat-Sex gemeint war.

Dem Nickname nach schien die Chatanfrage von einer weiblichen Person zu kommen, was momentan keine große Rolle für mich spielte. Ich wollte lediglich meine Glaubwürdigkeit testen. Ich wollte Persönlichkeit entwickeln. Ich beantwortete ihre Frage mit meinen neuen Daten und erwiderte „asl“. Sie schrieb, dass sie 24 sei, weiblich, wie angenommen und in Florida lebte. Ich erkundigte mich nach ihren Interessen; welche Musik sie möge und was sie in ihrer Freizeit mache und sie antwortete. Während dieser Spielrunde unterhielten wir uns also über ihre Band, diskutierten Lieblingsfilme und irgendwann erkundigte sie sich, ob ich einen Messenger habe. Ich bejahte und nannte ihr meine Kontakte und fragte, ob sie ein Profil auf www.myspace.com habe. Sie schickte einen Link, den ich in einem anderen Fenster aufrief, und schickte ihr meinen.

Cybersex hatten wir im Verlauf der Nacht nicht. Ehrlich gesagt, ich wusste auch gar nicht so recht, wie das funktionierte, was ich tippen oder tun müsste. Daher war ich zufrieden mit meinem ersten Tag als Nerd, denn ich hatte mein Tagessoll erfüllt. Ich war über acht Stunden am Stück online gewesen, hatte mit Personen aus vier verschiedenen Ländern gechattet und eine nicht mehr überschaubare Anzahl von Downloads gestartet. Ich war irgendwann in der Nacht dazu übergegangen, mir alles herunter zu laden, was mir empfohlen wurde. Völlig egal, ob Musik, Filme oder Software. Und ich genoss die Datenflut.

Als ich erwachte, lief der Downloadcomputer noch immer. Ich hatte nicht vor, ihn auszuschalten, solange es nicht zwingend erforderlich war. Sein leises monotones Summen wurde in den kommenden Wochen mein Wiegenlied. Wenn die Musik ausgeschaltet war, keine Chatfenster mehr blinkten und nichts die Stille meiner Einsamkeit störte, summte der Rechner mich in den Schlaf. Und wenn ich dann so da lag, in meinem spartanischen, aber sehr bequemen Bett, dann erfüllte mich tiefe Zufriedenheit. Ich dachte an all die wunderbaren und interessanten neuen Freunde, die ich gefunden hatte. Sie waren so viel besser als reale Menschen. Wenn ich meine Ruhe wollte, aktivierte ich den Abwesenheitsmodus in meinem Messenger. Wenn ich reden wollte, war immer jemand da. Ich lernte viele spannende Dinge, von denen ich früher nie geglaubt hätte, dass sie mich interessieren würden. Ich erfuhr von Ereignissen, die mich früher nicht gekümmert hätten. Jetzt taten sie es. Ja, ich war rundum zufrieden mit meinem neuen Leben. Ich baute meine virtuelle Identität aus, aktualisierte Profile in all den Foren, auf denen ich angemeldet war, traf mich in Chatrooms, in denen über meine neuen Interessen gesprochen wurde, mit Gleichgesinnten, tauschte Daten aus und fühlte tagtäglich den besseren Menschen in mir heranreifen.

Anfangs bläute ich mir immer wieder ein, dass ich niemandem meinen realen Namen verraten würde. Irgendwann gab ich das aber auf. Denn ich hatte gar nicht das Bedürfnis, irgendwem meinen Namen zu sagen. Im Gegenteil. Mein geschlechtsloser Nickname bekam sogar zwei Namen. Je nach Situation stellte ich mich als Mann oder Frau vor und lernte schnell, die Vorteile dieses Wechsels zu schätzen. Ich erfuhr die Geheimnisse der weiblichen Seele im einen Chatfenster und führte Männergespräche im anderen. Mein neues Sein wurde fast stündlich vollkommener. Doch trotz all der Euphorie blieb ich auf dem Boden der Tatsachen. Ich übertrieb nicht. Das machte meine Identitäten glaubwürdiger. Außerdem wurde ich mehr und mehr die Person, die ich vorgab zu sein, daher fühlte ich mich auch nie als Lügner.

Die Online-Spiele faszinierten mich immer mehr. Ich wollte es auf Platz 1 der Bestenliste eines Online-Spiels schaffen. Ich trainierte verschiedene Spiele und mit der Zeit wurde ich immer besser. Früher hatte ich nicht viel für Spiele übrig. Der Computer war für mich ein Werkzeug, das ich großteils für die Arbeit nutzte. Ich konnte kaum glauben, was ich verpasst hatte, wenn ich als Einzelkämpfer durch den Dschungel schlich oder als elfische Magierin Abenteuer bestand. Wer ernsthaft behauptete, Computerspiele würden dumm machen, der irrte gewaltig. Ich lernte mehr als in meiner ganzen Schullaufbahn.

Ebenso hatte ich mir vorgenommen, endlich die Geheimnisse der virtuellen Erotik zu erkunden. Natürlich, ich besaß mehr als einen Account für eine Pornoseite und hatte auch fleißig Filme herunter geladen. Aber da musste noch mehr sein. Das virtuelle und interaktive Erlebnis. Das Nerdtum hatte mir bisher nicht zuviel versprochen, sondern alle Erwartungen übertroffen. Nun wollte ich auch die süßesten aller Früchte kosten. Ich kannte die Cam-Mädchen, die man nur über kostenpflichtige Seiten erreichte. Sie waren nicht das, was mich interessierte. Ich wollte individuelle Abenteuer mit Personen, die mir nicht nach dem Mund redeten, weil es ihr Job war.

Ich spielte an diesem Tag, die Uhrzeit hatte durch internationale Freundschaften bereits jegliche Bedeutung verloren, auf www.popcap.com. Nach kurzer Zeit betrat eine Bekannte den Raum, in dem ich mich befand. Ich nahm an, dass sie Cindy hieß, 22 Jahre alt war und in Sydney studierte. Das jedenfalls hatte sie mir auf mein „asl“ geantwortet. Wir hatten einige Gemeinsamkeiten, zum Beispiel gingen wir gern surfen und ins Kino, und wie der Zufall es so wollte, trafen wir uns beide einmal die Woche mit Freunden in einer Jazzkneipe. Sie in Sydney, ich in der Nähe von Bristol. Auch an diesem Tag gingen wir zum Reden in einen privaten Chatroom und flirteten, dass sich die Balken bogen. Nach einer Weile fasste ich mir ein Herz und fragte schlicht: „Wanna cyber?“ Ich war gespannt, wie sie reagieren würde. Sie enttäuschte mich nicht. „I thought you’d never ask!“ kam es prompt zurück. Ich gestand ihr, dass ich keine genaue Ahnung hatte, wie das überhaupt ging, es aber unbedingt ausprobieren wollte. „Oh yes, let me teach u!“ schrieb sie. Sie dachte, es wäre meine Masche. Perfekt.

Cindy war eine ausgezeichnete Lehrerin. Sie verführte mich mit Worten, beschrieb mir, was sie gerade tat und half meiner aufblühenden Fantasie auf die Sprünge. Sie trüge keine Unterwäsche unter ihrem Minirock, schrieb sie, und sie habe da diesen alten Joystick wieder gefunden. Der erinnere sie an einen großen Schwanz, wie groß meiner denn wohl wäre? Ich sah an mir herunter und tippte ein, dass er gerade dabei sei, größer zu werden. Die Sache gefiel mir jetzt schon und ehe ich mich versah, saß ich mit heruntergelassener Hose im Schreibtischstuhl.

Mein erster Cybersex blieb nicht der letzte. Im Gegenteil, es gefiel mir, in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Ich probierte alles aus. Wer hätte schon überprüfen können, ob ich wirklich der gepiercte und tätowierte Rocker war, der auf Sado/Maso stand? Oder eine lesbische Studentin? Niemand. Und so lebte ich alles aus, was ich früher nie gewagt hätte.

Ich erreichte mein großes Ziel und schaffte es, mich auf dem 1. Platz der Highscore-Liste eines Online-Rollenspiels zu platzieren. Es war ein erhebendes Gefühl und angespornt von meinem Erfolg lud ich mir eine Erweiterung des Spiels herunter. Auch meine auf CD und DVD gebrannten Archive wuchsen ins Unermessliche. Spiele, Software, Filme, Musik. Ich hatte alles und wollte mehr, obwohl ich nur selten tatsächlich einen der Filme ansah oder ein Album komplett hörte. Wichtig war es, zu haben. Nicht zu nutzen.

Meine virtuellen Freundschaften trennte ich nach einer Weile von den Sexpartnern, denn ich wollte den Überblick nicht verlieren, wem ich was erzählt hatte. Mit Freunden traf ich mich zum Chatten und Spielen, redete über Gott und die Welt und blieb für gewöhnlich bei meiner Hauptidentität. Sex hatte ich nur mit Fremden, die ich über einschlägige Webseiten für einen virtuellen One-Night-Stand kennen lernte.

Es war an Weihnachten, als ich eine gänzlich neue und unerwartete Erfahrung machte. In den Chatrooms war am Abend wenig los, wie nicht anders zu erwarten. Trotzdem hatte ich die Einladung meiner Eltern dankend abgelehnt und feierte auf meine Weise. Ich spiele ein wenig im virtuellen Casino, denn inzwischen war ich nicht schlecht und verdiente durchaus ein paar Cent dazu. Der Messenger stand im „Free 4 Chat“-Modus, doch niemand meiner zahllosen Kontakte war online. Überraschenderweise kam dennoch ein Telegramm. „Hey hot boy, saw ur profile on www.myspace.com!” sagte mir die Anfrage. Ich akzeptierte und schrieb zurück: „So lonesome at xmas?“ Unverblümt antwortete sie: „Wanna cyber?“ Das kam mir mehr als gelegen. Eine Fremde, die scharf auf etwas Action war. Ich bejahte und sie legte direkt los, beschrieb mir, was sie mit mir anstellte; mich langsam auszog und jeden Winkel meines Körpers erkundete. Ich heizte sie an, schilderte, wie sehr mir gefiel, was sie machte. Dann schrieb sie plötzlich: „U got a cam?“ Ich aktivierte die Kamera, die ich vorsorglich neben der Rolle mit Küchentüchern platziert hatte. Meine Cybersex-Ausrüstung. „Gimme a sec and open direct!“ schrieb ich und sofort öffnete sich die direkte Verbindung zum schnellen Datenaustausch. Ich zog meine Hose runter und stellte die Cam auf die Ablage unter meinem Schreibtisch. Man zeigte sein Gesicht nicht. Alles war anonym und das machte die Sache so spannend. Ich schaltete die Cam auf „Senden“ und das Bild erschien im Chatfenster. „Like that?“ fragte ich und sie erwiderte: „Pretty much! Let me see more!“ Ohne zu zögernd erhob ich mich ein wenig und zog langsam die Unterhose herunter. Wir chatteten weiter; ich wurde immer geiler und begann, an mir herumzuspielen. „U got a cam 2?“ fragte ich schließlich. „Gimme a sec!“ kam es zurück. Ich konnte es kaum erwarten, das Bild auf dem Monitor zu haben. Es war bisher der beste Cybersex gewesen, den ich je gehabt hatte und ich wollte mehr davon. Endlich poppte das Bild auf und für einen Moment erstarrte ich in Ungläubigkeit. Da waren keine prallen Brüste zu sehen, kein geiler Arsch und auch keine feuchte Muschi. Da war ein harter Schwanz zu sehen, den eine Hand fest umschloss und ihn langsam massierte. Und es war nicht mein Schwanz, denn ich trug dieses Piercing nicht. Ich saß einfach nur da und starrte den Monitor an, bis mich eine Meldung aus der Apathie weckte: „Whats up?“ Ohne wirklich zu realisieren, was ich tat, tippten meine Finger: „Wow, pierced! Nice!“ Und desto länger und heißer wir weiterchatteten, desto mehr erregte es mich. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, was Annika wohl sagen würde, wenn sie mich jetzt sehen könnte. Und dieser Gedanke amüsierte mich. Jeder Mann träumt heimlich davon, seine Freundin mit einer anderen Frau zu beobachten oder einen Dreier mit ihr und einer anderen zu haben. Aber jede Frau würde entsetzt die Scheidung einreichen, wenn ihr Mann vorschlüge, dass sein bester Freund doch mal mitmachen könne. Ich fühlte mich frei und verdorben und der Chat wurde besser und besser.

Ich fügte den Screenname meines unbekannten Verführers meinen „XXX“-Kontakten in der Messengerliste hinzu und änderte später die Profile, in denen nach einer sexuellen Orientierung gefragt wurde. Ich gab an, bi zu sein und auf manchen Seiten führte ich auch aus, welcher Typ von Mann mir gefiel. Anfangs war ich dabei relativ generell geblieben, aber während ich schrieb, fiel mir auf, dass ich gewisse Dinge tatsächlich attraktiv fand. Und einmal mehr ging mir auf, welche ungeahnten Möglichkeiten das Nerdtum mir beschert hatte. Früher wäre ich nicht im Traum darauf gekommen, dass auch Männer sexuell interessant für mich sein könnten. Aber früher konnte ich auch Hip Hop nichts abgewinnen. Das hatte sich geändert, als ich einem virtuellen Eminem-Fanclub beigetreten war, weil mir einfach das Design der Seite gefallen hatte. Seitdem hatte ich reichlich Hip Hop herunter geladen und auch angehört, um im wöchentlichen Fan-Chat mitreden zu können. Mit der Zeit war mir dann aufgegangen, dass mir die Musik tatsächlich gefiel und ich auch den Lifestyle mochte. Ich hatte daher meine Interessen um „Skateboarding“ erweitert, mir „Tony Hawk’s Pro Skater“ herunter geladen und diverse Fachseiten besucht. Ähnlich war es mir auch beruflich ergangen. Anfangs hatte ich mich als Student ausgegeben, ohne irgendein Fach zu nennen. Seit ich aber meine Leidenschaft für Kampfsport entdeckt hatte, studierte ich Sport. Dies drückte sich hauptsächlich in Kung Fu-Filmen und Prügelspielen aus, aber desto mehr ich über die verschiedenen Selbstverteidigungsarten las, desto mehr Ahnung hatte ich. Mir war bis dahin noch nie aufgefallen, wie realitätsnah „Mortal Kombat“ doch war.

Eines Tages checkte ich mein Konto und stellte fest, dass ich mich langsam um meine finanzielle Zukunft kümmern musste. Ich riss mich also ein paar Stunden zusammen und widerstand der Versuchung, auf www.liquidgeneration.com diverse Psychotests zu machen. Das war mein eigentliches Vorhaben gewesen, aber da sich auch meine Rechnungen nicht von selbst bezahlten, rief ich stattdessen www.ebay.de auf. Ich schnappte mir einen Stapel DVDs, fotografierte sie ab, gab die Angebotstexte ein und startete die Auktionen. Mir graute zwar vor dem Gedanken, meine heimelige Wohnung dadurch über kurz oder lang in Richtung Post verlassen zu müssen, aber da musste ich wohl durch. Trotzdem ließ mich der Gedanke in den folgenden Tagen nicht los und ich suchte dann doch einen Paketservice heraus, der die Sendungen bei mir abholen würde. Das brachte mich schließlich auf die Idee, auch zum Einkaufen das Haus nicht mehr zu verlassen. Ich gab eine Anzeige auf der Homepage meiner Heimatstadt auf und tatsächlich meldete sich ein Schüler, der einen Nebenverdienst suchte. Von nun an ging er alle zwei Wochen für 6 Euro pro Stunde für mich zum Supermarkt und deckte mich mit Tiefkühlpizzen, Mikrowellengerichten und Tütensuppen ein. Lediglich zum Getränkeholen ging ich selbst zum Kiosk, schließlich war es nur ein Weg von zwei Minuten und der Getränkeverbrauch ließ sich schlecht kalkulieren.

Ich war mittlerweile dazu übergegangen, einen An- und Verkauf per Ebay zu betreiben. Meine eigenen Bücher und DVDs waren zur Neige gegangen und nachdem ich auch alles andere, wie CDs und einige Kleidungsstücke, verkauft hatte, war ich gezwungen, mir etwas einfallen zu lassen. Arbeitslosengeld bekam ich längst nicht mehr und Hartz IV war zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel. Ich handelte anfangs mit Computerkomponenten, bis ich per Zufall die fantastische Welt der Trading Card Games entdeckte. Die Ware war kleiner, leichter und einfacher zu versenden; die Preise, die ich als gut informierter Händler nehmen konnte, waren hingegen deutlich höher und auch stabiler als im Hardware-Bereich. Ich kaufte ganze Sammlungen zu Spottpreisen, sortierte die Karten und verkaufte sie anschließend einzeln oder in bestimmten Decks weiter. Im Großen und Ganzen kam ich so sehr gut über die Runden.

Jedes Jahr ehrte ich den Tag, an dem ich Nerd geworden war, ganz besonders. Es war der einzige Feiertag, den es in meiner Religion noch gab. Weihnachten, Ostern, Silvester? Egal. Es gab schließlich Zeitzonen und auch Länder, die diese Tage nicht feierten. Es fand sich immer jemand zum Chatten. Aber mein Jahrestag war mir heilig. An diesem Tag tat ich nur Dinge, die mir wirklich Spaß machten. Ich chattete, cyberte, spielte und surfte, aber das Postfach für meinen Shop blieb geschlossen und auch Ebay besuchte ich nicht. Ich ließ an diesem Tag Revue passieren, was das Nerdtum mir geschenkt hatte. Und es war nicht wenig. Ich hatte einen sich ständig erweiternden Horizont bekommen; fantastische und interessante Freunde, ein abwechslungsreiches Sexleben und einen Job, für den ich kaum etwas tun musste. Das Nerdtum gab mir meinen inneren Frieden und es ernährte mich. Gott war ein Computer und er hatte eine Standleitung, dessen war ich mir sicher.

Meine Interessen erweiterten sich unaufhaltsam. Ich konnte inzwischen zu fast jedem Thema etwas sagen, völlig egal, ob ich auf Musik, Sport oder Politik angesprochen wurde. Ich war ein wandelndes Lexikon, obwohl das Wort „wandelnd“ sicherlich nicht ganz passend war. Der weiteste Weg, den ich regelmäßig zurücklegte, war der zum Kiosk. Die Seite www.imdb.com hätte man ohne weiteres durch mich ersetzen können. Ich kannte jeden verdammten Film, war bei jeder Serie auf dem Laufenden. Ich war gnädig genug, mein brachiales Wissen mit anderen zu teilen, indem ich für Film-, Musik- und Spieleseiten Reviews schrieb. Auch war das Walkthrough-Archiv auf meiner Homepage kurz nach seinem Upload schon legendär. Es war penibel recherchiert und immer auf dem aktuellsten Stand. Wer in einem Spiel, ganz gleich, ob es für PC oder Konsole war, nicht weiterkam, fand bei mir Hilfe. Ich war auf dem besten Wege, meinem Gott, dem allwissenden und gütigen Internet, gleich zu werden. Denn tatsächlich glich ich ihm in vielerlei Hinsicht. Ich hatte jegliche Vorurteile hinter mir gelassen. Vor mir waren alle User gleich. Ich verfügte über ein immenses Wissen und teilte dies gern. Ich war immer erreichbar, um meinen Schäfchen zu helfen. Auch mein Verlangen nach einem Sexpartner aus Fleisch und Blut hatte vollständig aufgehört zu existieren. Worte und Smilies waren zu meinen Zärtlichkeiten geworden; der stumme Blick der Kamera fühlte sich an, als wandere eine vor Lust zitternde Hand über meinen Körper. Früher war ich ein eifersüchtiger Mensch gewesen. Jetzt nicht mehr. So wie ich mich selbst teilte, sollten sich auch andere teilen. Jeder sollte die Freuden meiner Religion auskosten, auf dass dieser Glaube wachsen und gedeihen würde.

Ich kann im Nachhinein nicht sagen, wie lange mein Glück währte. Ich weiß nur noch, dass es im späten Herbst oder Winter endete. Eigentlich begann der Tag mit einer Normalität, die ans Banale grenzte. Ich stand im Halbdunkel auf, schob eine Tiefkühlpizza in den Ofen und aß diese hastig, nachdem ich geduscht und mich angezogen hatte. Erst, als ich von der Küche zurück in den Wohnraum gehen wollte, bemerkte ich die kleine orange Karte, die jemand unter der Tür durchgeschoben hatte. Ich hob sie auf und stellte fest, dass sie von der Postfiliale stammte. Offensichtlich hatte ich das Klingeln des Paketboten nicht gehört, denn die Karte stellte sich als Paketbenachrichtigung heraus. Ich erschauderte. Denn das hieß, ich würde zur Post gehen müssen. Ich hatte meine Behausung schon seit einer ganzen Weile nur noch verlassen, um zum Kiosk zu gehen. Die Post hingegen lag deutlich weiter entfernt. Ich erinnerte mich zwar vage an den Weg, aber allein der Gedanke, unterwegs mit der Unvollkommenheit der „Menschen“ konfrontiert zu werden, erschien mir absurd. Ich kramte mein Telefon unter dem Bett hervor, rief das Online-Telefonbuch auf und suchte die Nummer der Postfiliale heraus. Vielleicht würden sie es einfach am nächsten Tag ausliefern. Die Zeit drängte zwar, denn ich war knapp bei Kasse und wusste, dass es sich bei dem Paket nur um die erwartete Lieferung von Trading Cards handeln konnte, aber ein Tag wäre zu verkraften gewesen. Das Freizeichen ertönte, aber niemand hob ab, als ich die Nummer wählte. Ich entschied, es einfach später zu versuchen und setzte mich an den Computertisch.

Ich achtete nicht auf die Zeit, denn sie hatte keine wirkliche Bedeutung. Ich lebte in jeder Zeitzone. Daher bemerkte ich zu spät, dass es bereits dunkel vor dem verhangenen Fenster geworden war. Die Post hatte nun vermutlich geschlossen. Ich nahm mir fest vor, mich auf den Weg zu machen, sobald es wieder hell geworden war. Da es bis dahin noch dauern würde, machte ich mich an erfreulichere Dinge. Ich übersetzte zwei Walkthroughs für meine Homepage ins Englische, anschließend spielte ich die Erweiterung eines anderen Spieles, deren Download in der Nacht fertig geworden war. Später scannte ich die Reste der Trading Cards, die ich noch unter dem Bett stehen hatte, und stellte sie auf den entsprechenden Boards ein.

Der Morgen kam schneller, als ich es erwartet hatte. Vielleicht war es auch mein Unterbewusstsein, das mich wieder und wieder daran erinnerte, dass ich bald in die unvollkommene Welt der ungebildeten, intoleranten und eingeschlechtlichen „Menschen“ hinaus musste. Ein Blick auf mein Konto verriet mir, dass ich leider keine Wahl hatte. Die letzten Auktionen und Verkäufe hatten nicht genug Umsätze gebracht und ich brauchte dringend neue Ware. Ich lud also einige mp3s auf meinen Player und stand vom Computer auf. Als würde mein Körper sich dagegen sträuben zog ich meine Jacke an, steckte dann die Kopfhörer des Players in die Ohren und drehte die Lautstärke voll auf. Ich wollte nicht mehr als nötig von dem Feindland mitbekommen, das ich zu durchqueren hatte. Widerwillig ging ich zur Tür und näherte mich dem Ausgang zur Straße.

Die ersten Meter waren vertraut. Der kühle Nebel ließ die Straße real erscheinen, so wie sie in vielen virtuellen Welten eben aussah. Es erinnerte mich an meine Jugend in Bristol. Damals, kurz nachdem ich mit meinem Vater dorthin gezogen war, war ich oft morgens durch die vernebelten Straßen gewandert, so wie ich es jetzt tat. Dann jedoch ließ ich den Kiosk hinter mir und desto weiter ich mich von ihm entfernte, desto unwohler fühlte ich mich. Die Luft war schneidend kalt, obwohl kein Wind wehte und ich zog die Jacke enger zusammen. Zum Glück hatte ich den mp3-Player. Hip Hop war jetzt genau das Richtige. Das hatte ich schon als Kind so empfunden. Ich war oft mit dem Skateboard zur Schule gefahren und hatte über meinen alten Walkman Hip Hop gehört. Ein Hauch von Nostalgie beschlich mich, trotzdem behielt das Unbehagen die Oberhand. Ich war froh, als ich endlich um die letzte Ecke bog.

Doch die Post war nicht da. Ich konnte mich unmöglich auf den paar Metern verlaufen haben. Ich kannte die Stadt doch schon seit Jahren! Trotzdem, da war keine Post. Da war ein ehemaliger Supermarkt mit eingeschlagenen Scheiben und zertrümmertem Inventar. Da waren einige Wohnhäuser, aber sie schienen verlassen. Hier stand keine Post und hier hatte nie eine gestanden. Eilig durchwühlte ich meine Taschen, konnte aber die Umgebungskarte nicht finden. Komisch, sonst bekam man sie doch automatisch, sobald man einen neuen Bereich betrat. Ich entschied, nach Hause zu gehen und mir den Weg noch einmal auszudrucken.

Der Rückweg war deutlich unheimlicher als es der Hinweg schon gewesen war. Die Geschäfte, an denen ich vorbei kam, standen leer. Durch die kaputten oder gänzlich fehlenden Scheiben der Wohnhäuser pfiff nun kalter, schneidender Wind; zerrte an zerfetzten Gardinen. Langsam watete ich durch den Nebel und ging im Kopf sämtliche Möglichkeiten durch. Was konnte geschehen sein? War ich in eine andere Dimenson, Zeit oder Realität versetzt worden? Vermutlich. Jetzt musste ich eigentlich nur noch herausfinden, was davon zutraf. Ich betrat vorsichtig eine verfallene Tankstelle und durchsuchte die Trümmer. Tatsächlich fand ich eine Dose Bier und öffnete sie. Zischend trat die Kohlensäure aus. Also konnte ich die andere Zeit ausschließen. Ich ging zurück zur Straße und hob den rostigen Lenker eines Fahrrades auf, der in einem Vorgarten lag. Sollten fremde Organismen mich angreifen, hatte ich eine Waffe. Trotzdem erschien es mir sicherer, auf dem weiteren Weg diverse Behältnisse nach Schusswaffen, Munition und Medi-Packs zu durchsuchen. Wer weiß, was mir noch kommen würde.

Meine Suche blieb erfolglos, doch ich erreichte endlich wieder die Straße, in der meine Wohnung lag. Ich blickte nach oben zum Dachfenster und tatsächlich schien das beruhigende bläuliche Licht des Monitors durch die Jalousie. Ich schloss unter Vorbehalt die andere Dimension aus, war aber nicht sicher. Eilig schloss ich die Haustür auf und schlich dann langsam nach oben, den Fahrradlenker zum Schlag bereit. Oben angekommen öffnete ich vorsichtig meine Wohnungstür und lugte hinein. Alles schien so zu sein, wie ich es verlassen hatte. Ich deponierte meine Waffe im Wäscheschrank des Badezimmers, denn ich wollte nicht riskieren, dass sie verschwand. Stattdessen bewaffnete ich mich mit einem Messer aus der Küche. Dann wagte ich mich ins Wohnzimmer vor. Auch hier fand ich keine ungebetenen Besucher vor. Mein Blick fiel auf den Monitor des Download-Rechners. Alle Downloads waren abgebrochen, mit dem Vermerk „Verbindung unterbrochen oder User offline“. Sofort stürzte ich zum Schreibtisch und drückte wahllos eine Taste, um den Bildschirmschoner des anderen Computers zu deaktivieren.

Ich ließ das Küchenmesser erst sinken, dann fallen, als das Bild zurückgekommen war. Ich streifte die Jacke ab und warf sie achtlos auf den Boden. Ich hatte verstanden. Ich setzte mich an den Schreibtisch und strich noch einmal zärtlich über die Anzeige des Monitors.

„Mission beendet“

stand dort, in Arial, Schriftgröße 36, fett. Dann fuhr ich alle Computer herunter, löschte das letzte Stand By-Blinken der Monitore und wartete.
 

Haremsdame

Mitglied
atemlos...

Hallo Binary,

Du lässt mich atemlos zurück! Dein Text ist super! Ich habe beim Lesen nicht nur ununterbrochen geschmunzelt, sondern auch eine Menge gelernt.

Trotz der Länge wurde das Lesen nicht langweilig - ganz im Gegenteil! Deine Worte haben mich mitgerissen, der Blick auf die Uhr hat mich gehetzt: "hoffentlich muss ich nicht vor dem Ende Deiner Geschichte zu lesen aufhören".

Mich wundert, dass auf Deine Geschichte bisher noch keine Reaktion kam. Es lohnt sich, sie zu lesen. Nur meine ich, dass sie nicht zum Tagebuch gehört, sondern eher in die Rubrik Erzählungen.

Hochachtung!
Haremsdame
 
D

Dominik Klama

Gast
Die perfekt geschriebene Geschichte.
Hoch professionell.
Ein Weltwunder innerhalb der Leselupe.

Mir ging's nicht so, dass ich dachte, sie ist so lang und werde ich es bis zum Ende schaffen, bevor ich nicht mehr kann oder mich was vom PC wegholt. Mir ging's so, dass ich dachte, auf welche altbekannte Mustergeschichte wird es rauslaufen. Denn man kann ja wirklich gar keine neuen Geschichten erzählen. Geschichten sind ein wenig wie Internet. Man kann unheimlich viele Dinge in ihnen machen, aber man kann nicht alles in ihnen erleben, was man im echten Leben erlebt. Echtes Leben ist zwar echt, aber meistens keine gute Geschichte. Und die guten Geschichten kennt man alle, sind alle schon mal gemacht worden.

Zum Beispiel, sobald er erotisch zu chatten beginnt und sich dafür eine Scheinidentität ausgedacht hat, kommt man sofort auf die Idee, dass er jetzt erotische Begierde auf eine Internetperson entwickelt, die auch eine Scheinidentität ist. Dass er sich dann damit anfreunden kann, bisexuell zu sein, hakt diese Lesererwartungen einigermaßen befriedigend ab.

Dennoch wartet man darauf, dass entweder eine oder mehrere reale Personen in seine Muschel eindringen oder aber, dass er ein Bedürfnis nach solchem Menschen entwickelt - und sie dann vielleicht nicht mehr erreichen kann. Dass beides nicht passiert, steht dafür, dass die Geschichte extrem konsequent und folgerichtig erzählt ist.

Aber wie eigentlich jeder Textschluss, den ich lese, enttäuscht auch dieser mich ein bisschen. Es ist dann doch immer noch nicht das ganz Andere, das ich mir von jedem neuen Text erhoffe.

Ich sollte vielleicht mal weiter raus surfen, vielleicht finde ich da was.
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Einfach nur gut ...

Hallo Binary,

Mir ging es so ähnlich wie Dominik. Beim ersten Überfliegen des Textes habe ich eine Wette mit mir selbst abgeschlossen, dass ich den Text nicht bis zum Ende schaffe. Ich habe verloren. Fasziniert von der Idee, der Story, dem Handlungsablauf und dem düsteren Psychogramm eines „Nerds“ war ich erstaunt, so schnell am Ende der Story angekommen zu sein.

Ich denke mal, dass sich jeder Leser dieser Geschichte die Frage gestellt hat, ob er auch schon die ersten Anzeichen der computerisierten Vergreisung zeigt. Mir ging es jedenfalls so. Ich sitze täglich so ca. 10 Stunden vor der Kiste (8 Stunden davon natürlich geschäftlich, aber sehr intensiv). Die restliche Zeit meines Lebens besteht aus Schlafen, Nahrungsaufnahme, Fernsehen, Einkaufen und Tätigkeiten, die ein Nerd als „misc“ (miscellaneous) betiteln würde.

Dein Text hat irgendwas in meinem Inneren aufgewühlt und den Wunsch geboren, meine Gewohnheiten zu überdenken:

Brauche ich einen Computer? – Ja
Brauche ich ein Handy? – Na Ja …
Brauche ich eine Glotze? – Ja

Der Kandidat hat 100 Punkte - und ist somit unheilbar nerdisch versaut.
Aber wenn ich keinen Computer hätte, könnte ich Dir auch nicht schreiben, dass der Beitrag ganz großes Kino mit Überlänge ist!

In diesem Sinne … Gruß IronNerd
 



 
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