Neu-Isenburg-Blues oder - Gestern haben wir den Matthes zu Grabe getragen

Neu-Isenburg-Blues oder - Gestern haben wir den Matthes zu Grabe getragen

Rede selten nur -
So will es die Natur.
Lao-tse, Tao-Te-King, Reclam

Es muß wohl um die Weihnachtstage passiert sein, daß mein Freund Matthias starb. Niemand weiß Genaueres, das heißt er starb alleine in seiner schmuddeligen Ein-Zimmer-Wohnung - Nachbarn sangen vielleicht gerade " O du fröhliche, o du selige ..." packten Gaben aus ... Und erst im darauffolgenden Jahr, im Februar, als die Narren Fasching feierten, fand ihn seine zweite Ex-Frau Gaby.
Freund - ist das überhaupt ausreichend? "Weg-Gefährte" erscheint mir tiefer - allein schon wegen der Gefahr - da zeigt sich erst, wer warhaftig Freund ist und wer nur laues Lüftchen.
Apropos ... sein Fenster stand offen, als Gaby ihn fand.
Dazu muß ich anmerken, daß ich zwischenzeitlich im Krankenhaus lag, wo mir einige Verdrängungen aus dem Fleisch herausgeschnitten wurden - die Krankenschwestern gingen spendabel mit Antibiotika, Diacepham und anderen chemischen Keulen um. Mein Bettnachbar - ich dachte mir damals nicht viel dabei - glich in frappierender Weise im ganzen Habitus dem Matthes, so daß ich des öfteren ins Grübeln kam, wie leicht sich doch eine Typologie erstellen läßt und wie wenig Individuelles im Leben eine Rolle spielt.
Zu dem Zeitpunkt war er schon tot.
Wir hatten uns lange zuvor schon nicht mehr gesehen, da wir beide kein Kraftfahrzeug mehr fuhren und zwischen Neu Isenburg und Bad Vilbel doch einiges an Kilometer lag, aber vor allem die Stadt Frankfurt und ich darüber hinaus in letzter Zeit nicht mehr gut zu Fuß war.
Weiß der Geier, wie lange wir uns kannten - lange genug, um gut genug sagen zu können. So ein gefahrvoller Weg ist ja auch selten kurz. Wir philosophierten, meditierten, rauchten den einen oder anderen Joint zusammen. Des tieferen Philosophierens und Meditierens wegen, wie wir damals meinten - nicht etwa just for fun. Nein, um bewußt ins ozeanische Sein einzutauchen.

Aber was heißt "gut genug" schon? - ich wußte nicht oder wollte nicht wissen, wieviel Alkohol er in realo trank, um das Leben überhaupt noch irgendwie ertragen zu können. Über diesen einen entscheidenden Punkt, wieviel Seelenschmerz der Einzelne ertragen kann ... philosophierten wir nie! Nur ums Loslassen ging es. Er zeigte mir immer nur diese eine Maske seines Wesens und unterstrich es mitunter durch Hersagen der Kraftworte "OM NAMA SHIVAYA."
Und ich ... ließ ihn gewähren, wie es nunmal Fische-Art oder Neptun-Art ist: wozu Grenzen setzen? -Jedem, wie er's will - die Narren beherrschen sowieso über den Fasching hinaus längst die Welt von heute. Wo Narren herrschen, brauchst du mit Intelligenz garnicht erst kommen, da lachen die sich bloß schlapp oder schlagen dir die Fresse ein. Es gehört ja gerade zum Narrischsein, sich von intelligenteren, also klareren Strömen niemals durchfließen, geschweige beeinflussen zu lassen. Deshalb sagt man auch bei uns in Hessen: "Jedem Narr sei' Kapp." - die Kappe ist das Höchste, der höchste Gott EGO - Ich-Chef!

In solchen und ähnlichen Sichten ins Wirkliche stimmten wir überein - was sollten da also Kleinlichkeiten, wie "bloß kein Alkohol! - bloß keine Drogen!" - wir wussten, daß die NARRENDROGEN in ihrem Sucht- und Zerstörfaktor tausendfältig schlimmer waren und die Erde deshalb in zunehmendem Maße in Gefahr geriet. Narrendrogen, wie "Esoterik" "Wissenschaftlichkeit" oder Glaube an Fortschritt des Abendlandes, Beweisbarkeit, Karriere, Titel für kollektive Anerkennung und so weiter und so fort - da sind's alle geil drauf!
Für uns galt eher: bloß kein bloß kein! - kein Moralistengetue ... "Der Krieg ist der Vater aller Dinge" (Heraklit)
Weggefährte auf der Fahrt ... Aber was mich überraschte, war eben, daß er diesen Verfall im sogenannten KALI-YUGA, dem finsteren Zeitalter, nicht ertrug und sich mit Alkohol betäuben musste, um die Maske des tapferen Kriegers vor sich selbst aufrecht erhalten zu können. Wie sollte ich es auch wahrnehmen, mit der Veranlagung ... alles fließt, et cetera, et cetera ...

So trugen wir ihn bzw. seine Asche gestern zu Grabe, wobei seiner ersten Frau eine tragende Rolle zukam. (jetzt weiß ich plötzlich wieder, was tragisch bedeutet.) Monika - so will ich sie zu ihrem Schutz nennen - die esoterische Monika, tanzend, meditierend, theaterspielend - sie leitet ein entsprechendes "Kulturzentrum" - arbeitete ein Ritual aus, welches dem Verstorbenen die Wege zum Licht der Anderswelt weisen solle. Monika, die früher ausgeschlossene Wegweiserin, das hatte was. Woraus sie die Sicherheit ihrer Weisungsbefugnis für mächtige Geister jetzt nahm, das wieder entzog sich mir und so ließ ich auch sie machen, wie sie es meinem Weg-Gefährten machen zu müssen glaubte. .... Die Leit-Utensilien waren in etwa: eine anthroposophisch anmutende Handrhythmusbimmel, zartviolett in der Klangfarbe, Blumen, Kerzen und Salbworte mit obligatem Würdeblick...

Ein einziges mal ließ er, der ansonsten Unnahbare und vom Vater Mißhandelte, sich von mir überrennen: ich schwärmte ihm von der Sängerin DIDO solange vor, bis er sie auch mindestens mochte und wir stundenlang ihre Musik hörten - bis ihm dann doch die Begründung dieser meiner Dauerinfektion zu langweilig wurde, und er wieder zum Einfachen - "OM NAMA SHIVAYA" - zurück kehrte.
Er hielt sich auch für die Reinkarnation von Friedrich Nietzsche, zitierte ihn, oder druckte seine Worte aus, um andere am Übermenschentum zumindest verbal teilhaben zu lassen. Wer ihn nicht kannte, wird das für doof halten, aber ich kannte ihn ja ... halte es zumindest auch heute noch für denkbar - selbst eingedenk der Tatsache, daß die Irrenanstalten voll sind, mit Hundertschaften von Nietsche-Inkarnationen, sowie allem, was Rang und Namen hat.
Auch das nahm ich also eher gelassen hin.

Als ich gegen Mittag los wollte - die Beerdigung sollte um 13.30 Uhr statt finden - fragte ich mich, was ich ihm als Grabbeigabe mitgeben könne. Da war mir plötzlich, als spräche er zu mir: "Hey Alder, Du weißt es genau!"
Und mir fiel spontan die Episode ein: wir wollten Cannabis rauchen, doch er hatte kein Zigarettenpapier mehr. Da packte ich mein kleines Pfeifchen aus und er geriet ins Lachen und prustete: "Och! - e Kawümmche hat er!- goldig!" - seine kindliche Gier wollte es augenblicklich besitzen und er bot mir nacheinander immer mehr zum Tausch an. Die halbe Bibliothek schließlich, vollgespickt mit Raritäten und Erstausgaben hätte ich haben können, wahrscheinlich als Draufgabe seine Seele - so war er eben - doch ich blieb hart - ich hatte ja sonst kein Rauchwerkzeug und irgendein Besitz interessierte mich sowieso nicht. Dafür rächte er sich mit DVD-Gucken - "DER HERR DER RINGE." Drei Stunden lang. Das war ein Punkt, wo wir gegenteiliger Auffassung waren: er wollte, als Krebs, die Bilder anderer sehen, mit denen er sich identifizierte - und ich, der Steinbock, hörte zeitlebens eher ins eigene Innere, da es mir der direktere Weg zur Klarheit schien. Und weil sich beide Anschauungen, KREBS und STEINBOCK, gegenüber stehen ... hatten wir einiges voneinander.
Das Kawümmchen wollte er also haben ... ja gut, so soll es sein ...

Wo lernte ich ihn kennen ... - das war ... es muß im zweiten oder dritten Semester des Kunststudiums auf der HfG Offenbach gewesen sein, da ich öfters zum "Middle Earth" fuhr, dem renomierten Frankfurter Kultladen für Spirituelles. Gleich beim Betreten stürzte sich Hans Hinrich "Dicky" Taeger auf mich, der damals gerade seine Doktorarbeit über Hoffmanns Lysergsäurediäthylamid schrieb und fragte nach meinen Erfahrungen mit der Droge. Heute ist er "Star"-Astrologe in Südfrankreich.
Inge, die Ladeninhaberin und Mitkommilitonin fragte ich, ob sie vielleicht wisse, wer eine Wohnung oder Zimmer oder wenigstens Dach vermiete. - Ja, sie wußte von jemandem, einem Lama-Govinda-Fan, der gerade nach Indien fahren wolle, der Erleuchtung wegen, und sein Zimmer in Neu Isenburg vermietete.
Anderntags fuhren wir mit dem Rad von Bockenheim aus dort hin. Dieser Lama Govinda, ein Deutscher übrigens, das stellte sich später heraus, wurde als die Reinkarnation des Dichters Novalis gehandelt. Was jener in "Die Jünglinge zu Sais" noch theoretisch beschrieb, verwirklichte dieser in seinem Orden "Arya Maitreya Mandala."
So lernte ich Matthias' erste Frau Monika kennen (ich war sogar Trauzeuge bei der Hochzeit, fällt mir gerade ein - deshalb wurde das auch nix) und zog wenig später mitsamt der Rotstirnamazone Dölma in sein Zimmer, während er erst mal für ein viertel Jahr nach Indien fuhr.
Monika hatte panische Angst vor der allerliebsten, allerfriedlichsten Dölma, was auf Sanskrit TARA heißt - die Göttin der Barmherzigkeit, die gleich noch eine Rolle spielen sollte. ... sowieso hatte sie vor allem Angst, am meisten jedoch, irgendwo nicht dazu zu gehören. Was sie dazu brachte, nach einem äußeren "Dazugehörigkeitskonzept" zu suchen.
Als Matthes später zurück kam, brachte er neben schwarzem Afghan, sowie vielen spannenden Erzählungen sein "OM NAMA SHIVAYA" mit. Das war ihm, wie dem Schiff sein Anker, sein Halt im Haltlosen. So ungefähr.
(Für die, die sich in Hinduismus nicht auskennen: von der Trinität BRAHMA, SHIVA, VISHNU ist Brahma das Schöpferprinzip, Vishnu das Erhaltende und Shiva der auflösende Aspekt.)
Viele Anekdoten sind über ihn im Umlauf. Ich möchte nur noch die eine herausgreifen: als Matthes einmal im Isenburg-Zentrum die Haare geschnitten haben wollte, gab man ihm zu verstehen, daß dies beim Damenfriseur nicht möglich sei, worauf er zum nächsten öffentlichen Telefon ging und eine Bombendrohung aussprach - was ein komplettes und aufwendiges Räumen des doppelstöckigen Gebäudes durch Polizei und Feuerwehr zur Folge hatte.
Er selbst kam schadlos aus der Nummer heraus, denn er war zu dem Zeitpunkt schon der stadtbekannte Depp von Isenburg.

Kaum in der Trauerhalle angekommen, packte die aus dem Schwabenland angereiste Monika ihr Rudolf-Steiner-Set aus, legte eine Blume auf die Urne und begann bimmelnderweise, die lichten Geister zu beschwören. Das war für mich der Zeitpunkt, das Kawümmchen auszupacken, es auf dem Aschebehälter zur Blume legend.
Als sie dies sah, verlor sie für einen Moment alle Conte...dingsda, die Fassung, um die verdammungswürdig-blasphemische Freveltat sodann mit angehobener Stimme ins Ritual einzubauen ... daß er doch in der Anderwelt endlich möge zum Besseren sich wenden und auf den bösen, bösen Rauch und all die süchtigmachenden Drogen und Verführer verzichte - und schloß inbrünstig mit dem Mantra der Barmherzigen "OM TARE TU TARE TURE SVAHA"

Zu zwölft waren wir - ganze vier Angehörige, (zwei Frauen, zwei Söhne) vier Freunde, vier Saufkumpane, Jahreszeiten, Quadranten ... sozusagen für jeden Tierkreisabschnitt einer, schritten hinter dem her, was vom Matthes noch übrig war - ein Häufchen Asche.
Oben, im Baum, auf einem Zweig, sang ein Buchfink. ...

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