Neue Bescheidenheit

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Als defensiver Autofahrer bin ich längst in eine Minderheit geraten. Die meisten Kraftfahrer betonen vor allem Kraft. Kraft, die im Kraftfahrzeug steckt und sich anfühlt, als entwickele der Fahrer (immer häufiger auch die Fahrerin) sie höchst persönlich. Mit geländegängigen, bullig-aggressiv designten, motorisierten Festungen machen sie sich breit, rasen, beschleunigen, lassen literweise Sprit fressen, verdrängen andere Fahrzeuge, wechseln willkürlich, ohne Blinker auf die Überholspur, weichen nur, wenn sie auf einer anderen Spur besser überholen können, nehmen die Vorfahrt und drängen sich auf Parkplätzen vor. Die einfachen, doch viel zu eng ausgelegten Regeln der deutschen Straßenverkehrsordnung entsprechen einfach nicht ihrer Großzügig- und –spurigkeit. Siegertypen und Alphatiere fahren eben anders.
Nun steigt nicht immer ein an seinem Äußeren unmittelbar erkennbarer Siegertyp aus den einst der Pferdekutsche nachempfundenen Vehikeln. Doch gerade die unerkennbaren fahren einen besonders alphatierischen Siegerfahrstil.
Vor cirka einem halben Jahr standen meine Frau und ich in unserem eher bescheidenen Citroen vor einer Kreuzung, an der die Vorfahrtsregel rechts vor links galt. Ein Höchstkraftfahrzeugfahrer gewährte herablassend winkend die mir ohnehin zustehende Vorfahrt. Als er an der nächsten Ampel links von mir zum Stehen kam, signalisierte er wild gestikuliernd Gesprächsbedarf. In (defensiven) Gelassenheit betätigte ich meinen elektrischen Fensteröffner.
„Wenn man schon vorgelassen wird, sagt man wenigsten „Danke!““ brüllte jener Kraftfahrer.
Schweigend schloss ich mein Fenster, während er lachend bei Noch-Rot anfuhr, vor mir auf meine Spur wechselte, dreimal die Warnblinkanlage betätigte, Gas gab und ständig spurwechselnd irgendwo im Verkehrsgewühl verschwand. Ich hingegen mühte mich ab, die innerstädtisch erlaubten 50 Stundenkilometer nicht zu überschreiten.
„Das sind Folgen jahrelanger individualistischer Selbstverwirklichung und einer von Grund auf falschen Wachstumsideologie!“ versuchte ich in sachlichstem Tonfall meine Frau in eine Diskussion über mein Lieblingsthema zu verwickeln. Sie hatte vor gut drei Monaten einen Selbstbehauptungskurs für Frauen besucht, klammerte sich dennoch hilflos an den Beifahrersitz und versuchte trotz Fehlens eigener Pedale, mich mit-bremsend beim Einhalten der Geschwindigkeitsbegrenzung zu unterstützen.
Wie immer gerieten wir in eine äußerst lautstarke Diskussion über die neue Bescheidenheit, die ich als allgemeines gesellschaftliches Ziel auszurufen gedachte. Allerdings wusste ich noch nicht wo und wie, und hielt unsere Ehe für ein äußerst geeignetes Übungsfeld.
Gönnerhaft stimmte ich meiner Frau zu, ihr Selbstbehauptungsseminar habe ihr Selbstvertrauen gebracht. Und nur deswegen stimmte meine Frau mir wortlos nickend zu, dass Rekordgewinnen bei der Konkurrenz um Geld, Besitz und Macht und natürlich jenem signifikant kraftmeiernden Fahrverhalten bewusstseinsverändernd Einhalt geboten werden müsse. Bestätigend traten wir schließlich gemeinsam unsere vorhandene beziehungsweise nicht vorhandene Bremse vor dem Mehrfamilienhaus, in dessen fünfter Etage wir schon seit über 20 Jahren in einer eher bescheidenen Eigentumswohnung leben. Andere Bewohner zogen dort nach wenigen Jahren aus, um Eigenheime mit wesentlich mehr Wohnraum zu beziehen. Die finanzierten sie ganz unbescheiden mit hohen Krediten. „Und jetzt“, triumphierte ich, als wir in den Fahrstuhl stiegen, „finanzieren Banken Kredite auch noch mit Krediten, die mit Krediten finanziert wurden. Das ist pervertierte kapitalistische Wachstumideologie vom Feinsten.“
Meine Frau runzelte die Stirn, nickte und meinte, das letzte Hemd habe ohnehin keine Taschen. Den Spruch brachte sie immer wieder gern, wie übrigens ihre Mutter und Großmutter und die meinigen beiden auch schon.
Unsere Verkehrserlebnisse mit rücksichtslosen Kraftfahrern begannen sich immer schneller zu wiederholen. Bedenklicher hätte mir erscheinen müssen, dass mein Fahrstil unmerklich aggressiver wurde, meine beifahrende Frau sich nur noch an ihren Sitz klammerte und ihren rechten Fuß kaum einmal vom unsichtbaren Bremspedal nahm.
Da ich mir kritische Äußerungen über meinen Fahrstil verbat, presste sie die Lippen aufeinander. So kamen unsere Diskussionen über die neue Bescheidenheit kaum noch zu stande, auch da mein ständiges lautstarkes Fluchen über das unverschämte Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer meine Frau nicht zu Wort kommen ließ.
Mit dem mir selbst auferlegten Missionsauftrag, kraftprotzige Idioten vom Unwert ihrer Wachstums- und Ausbreitungsideologie zu überzeugen, begann ich mich exemplarisch am Kampf um Parkplätze zu beteiligen, war ausnahmslos Verlierer, riskierte mehr und fuhr dennoch keinen Sieg ein. Dafür einen heftigen Unfall mit Blechschaden und blauem Auge. Denn aus dem Siegerauto, das mit nur leichten Kratzern an der mächtigen Stoßstange die Parklücke eroberte, stieg ein breitschultriger, mich um Kopflänge überragender Kraftfahrer, der wortlos seine rechte Gerade ausfuhr.
Als er noch einmal ausholte, schob meine Frau mich blitzartig zur Seite und der zweite Hieb ging ins Leere.
„Gut, dass deine Mami dir geholfen hat!“ höhnte der Munskelmann.
Und meine Frau parierte schlagfertig, wie ich sie nicht kannte: “Pass bloß auf, dass ich das nicht deiner Mama erzähle.“
Lachend tätschgelte der Kraftfahrer meiner Frau den Oberarm, stieg in seinen PS-starken Geländewagen amerikanischer Herkunft und öffnete von innen noch einmal die Seitenscheibe. „Ganz schön tapfer, deine Frau.“
Die stieg lächelnd in unser Auto, während ich mir den heftig lädierten Kotflügel ansah.
Als ich einstieg, lächelte meine Frau immer noch und betastet liebevoll mein veilchenblaues Auge. In der Zeit muss der Geländewagen den Parkplatz unbemerkt geräumt haben, sodass ich mir noch nicht einmal sein amtliches Kennzeichen notieren konnte.
„Dieses Arschloch!“ Ich startete den Motor und versuchte, in die vom Geländewagen hinterlassene große Lücke einzuparken, was mir in meiner Aufregung natürlich nicht gelang.
„Liebling, lass mal!“ Meine Frau stieg aus, öffnete mir die Fahrertür. Unwillkürlich räumte ich den Sitz und stellte mich schräg hinter unser Auto. Ohne meine gestenreichen Einweisungsbemühungen zu beachten, setzte sie schwungvoll in die Parklücke zurück und stand perfekt zwischen zwei fahrbaren Festungen.
„Ich dachte, du könntest nicht gut einparken?“ staunte ich.
„Im Selbstbehauptungseminar lernte ich neue Bescheidenheit. Ich habe es nicht nötig, mit Können zu prahlen. Ich kann!“
 



 
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