Neue Nachbarin oder eine letzte große Liebe?

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MichaelKuss

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Neue Nachbarin oder eine letzte große Liebe?

Die Frühlingssonne hatte die Menschen erwärmt. Auch der alte Kaulbach sehnte sich nach Wärme und mehr. Die Wohnung gegenüber ist freigeworden und Kaulbach würde sich am liebsten eine flotte Nachbarin, vielleicht eine ältere und guterhaltene Witwe als Nachbarin wünschen. Bratkartoffelverhältnis und gelegentliche gegenseitige Besuche nicht ausgeschlossen. Das Praktische mit dem Nützlichen verbinden? Oder soll es gleich eine Dame sein, die bei ihm in seine Wohnung einzieht? Nur eine neue Nachbarin nebenan, oder gleich eine neue und letzte Liebe?

Mit jedem Sonnenstrahl kehrte an diesem Tag Aufbruchstimmung und neue Lust am Leben zurück. Vögel zwitschern zwischen den noch nackten Ahornbäumen und sauber renovierten Fachwerkhäusern. Die Obstbäume blühen bereits. Im Café Florian am Marktplatz sind die Gartenstühle draußen und die kroatische Kellnerin Jana ist noch eine Spur freundlicher als sonst. Kaulbach grübelt über einem Stück Papier.

„Gut erhaltener Endsechziger sucht eine letzte große Liebe. Oder eine liebe Nachbarin!“ Soll er das so polemisch formulieren? Oder doch besser mit mehr realen Angaben? Vielleicht auch ein paar allegorische Garnierungen dazu? Wie wäre es mit „Mann, 69/184/95, Bart- und Brillenträger, nach langer Berufstätigkeit jetzt Rentner und finanziell unabhängig, zuverlässig, humorvoll, tolerant, begeisterungsfähig, allem Schönen aufgeschlossen, vielseitig interessiert mit besonderer Vorliebe für Musik und Natur, möchte sich noch einmal verlieben und sucht Dame passenden Alters und mit ähnlichen Interessen für gute Nachbarschaft oder gemeinsamen Lebensweg!“

Kaulbach überlegt: Kann man sich mit solchen banalen und abgedroschenen Phrasen, die alles und nichts bedeuten, kann man sich damit öffentlich in einer Zeitungsannonce anpreisen? Irgendwie peinlich, oder? Aber vielleicht muss man heutzutage solche Plattheiten benutzen, um Erfolg zu haben? Was in der Werbung für Tütensuppen, Haarspray oder Autos erfolgreich angewendet wird, müsste doch auch für eine Werbebotschaft bei der Partnersuche gelten?! Besonders im fortgeschrittenen Alter, wenn man den Nachteilen auf die Sprünge helfen und sie mit gut gewählten Worten in Vorteile umwandeln muss. Warum sollten solche Phrasen nur Parlamentsdebatten und Wahlwerbung oder den Werbespots im Fernsehen vorbehalten sein? Wir sind doch längst auf allen Ebenen auf Worthülsen konditioniert.

Vielleicht bei der Altersangabe ein wenig mogeln und das gelungene Passfoto von vor fünf Jahren schicken? Jenes gelungene Foto mit dem lustigen, unbeschwerten Lächeln, das noch Optimismus, Zuversicht und positive Lebenseinstellung ausdrückt und nichts von der schleichenden und unbarmherzigen Fortschreitung des Alterns zeigt. Aber was passiert dann beim ersten Rendezvous? Wenn die Neulackierung zur Besichtigung ansteht?! Die grauen Haare bräunlich tönen? Und was macht man mit den Krähenfüßen um Augen und Mundwinkel und dem beginnenden Doppelkinn? Einfache Behandlung mit Nivea hilft da nicht mehr.

Scheißspiel! Unzufrieden legt Kaulbach den Kugelschreiber hin. Schreibt man gleich die Wahrheit, sinken die Chancen auf null. Trägt man aber zu dick Kosmetik auf, muss man nachher zittern, weil auch der schönste Kitt irgendwann abbröckelt. Niemand kann in einem potemkinschen Dorf ewig den Blender spielen. Ganz abgesehen von dem Stress, der damit verbunden ist.

„Letzte große Liebe!?“ Wie sich das anhört! Ist das oberflächlich oder tiefsinnig? Kann eine Frau daraus eine Schlussfolgerung ziehen? Wird sie ahnen, welche subtile Bedeutung, welche realistische und gleichzeitig beängstigende Erkenntnis hinter diesem Satz steht? Oder wird sie in unerfüllbare Träume verfallen, wie die Leserin einer jener bunten Zeitschriften, die beim Arzt im Wartezimmer ausliegen? Klingt „letzte“ gar wie eine Drohung, eine Mahnung, eine Erinnerung daran, dass wir den Zenit überschritten haben und es in ein paar Jahren zu Ende sein wird; ein letztes Aufbäumen vor dem Abschied für immer? Eine Hoffnung, rührend und verzweifelt zugleich.

Du bist zu zimperlich, denkt Kaulbach. Warum lege ich alle Worte auf die Goldwaage? Lerne doch erst mal jemand kennen, und dann wird man irgendwie weiter sehen. Es muss ja nicht gleich für immer und für den Rest des Lebens sein. Oder soll er sich eine boshafte Nachbarin aufladen, die er nachher nicht mehr los bekommt? Erst mal unverbindlich schnuppern. Muss ich gleich eine ganze Kuh kaufen, nur weil ich ab und zu mal Appetit auf ein Glas Milch habe? Kaulbach grinst in sich hinein. Kritisch und zugleich amüsiert betrachtet er seine Formulierungsversuche. Dann steht er abrupt auf, legt Geld auf den Tisch, winkt Jana zu und macht sich auf den Heimweg.

Firlefanz! überlegt er. Eine solche Schönfärberei! Was bedeutet denn die Phrase „gut erhalten?“ Noch einigermaßen in Schuss? Vorzeigbar? Vielleicht sogar „handwerklich geschickt“, sollte die angepeilte Dame ein Häuschen haben, an dem der verstorbene Ex bis zu seinem Tod gebastelt und noch ein paar Ausbesserungslücken für den Nachfolger gelassen hat. 'Erotisch noch gut drauf'? Wie „erotisch“ denn bitte? Was für die eine Frau Erotik ist, wird von anderen als aufdringlich oder gar als sexistisch oder pervers bezeichnet. Da soll sich einer bei den Frauen auskennen. Die Weiber wissen doch selbst nicht, was sie wollen. Oder soll er schreiben: "Ein gestandenes Mannsbild in den besten Jahren?" Was sind denn „die besten Jahre“? Nicht mehr ganz taufrisch, aber verlässlich und ein guter Gesellschafter, wenn er denn in Gesellschaft ist, und nicht alleine und zurückgezogen, was er eigentlich viel lieber mag als großen Rummel.

Ist er in seinem Alter überhaupt noch als „gut erhalten“ zu bezeichnen? Die Phrase ist ja so was von relativ und abgedroschen! Ist er wirklich noch der Traumprinz für eine Frau? Oder wenigstens sein Abziehbild? Oder nur ein Schutz vor Einsamkeit, wo man auf Äußerlichkeiten und sexuelle Potenz nicht mehr so achtet? Wäre doch ein denkbarer Weg? Ein Arrangement für den praktischen Lebensalltag zweier einsamer Herzen? Sind solche Überlegungen nicht sinnvoll und Grund genug für einen Zusammenschluss zweier Menschen? Auch wenn es nicht mehr die große Liebe, sondern eine auf Vernunft und Toleranz basierende Partnerschaft wäre? Warum also Superlative im Bewerbungsschreiben, die niemand über einen längeren Zeitraum wirklich einhalten kann?

Kaulbach überlegt: Kaum ein Mann stellt sich ehrlich diese Frage, und wenn, dann hat er auch gleich die Antwort: „Logisch bin ich noch ein Pfundskerl! Was denn sonst?“ Dabei wird er den Bauch einziehen und mit der Hand die Halsfalten bügeln und ein spitzbübisches, keckes Lausbubengrinsen versuchen, dass er vor über dreißig Jahren in einem Robert-Redford-Film gesehen hatte. Wenn er nicht gerade zu den schüchternen Zweiflern und Weicheiern gehört, denen es ohnehin krankhaft an Selbstbewusstsein mangelt, im Gegensatz zu jenen, die nach dem Motto „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“ anbaggern. Aber wo ist die gesunde Mitte?

Selbstkritische Betrachtungen gehören selten zu unseren Stärken. Und darin liegt die Schwäche gleich zu Beginn von Partnerschaften. Kaulbach lacht in sich hinein. Eine ironische Selbsterkenntnis überkommt ihn; wie bei einem Trinker, der noch nicht völlig betrunken ist, aber bereits so viel intus hat, dass er Wahrheiten viel deutlicher erkennt als jeder Nüchterne.

Kaulbach ertappt sich dabei, wie er sich mehr und mehr in diese an Sarkasmus grenzende Ironie flüchtet. Als würde sie helfen, den Übergang ins Altern zu erleichtern und ihn vor dem großen Frust bewahren, der die meisten von uns befällt, egal ob wir’s wahr haben wollen oder verdrängen. Wir spielen noch mannhaft August den Starken, obwohl wir schon fast in der Kiste liegen und bilden uns ein, niemand würde es bemerken.

Aber spielen Frauen nicht das gleiche Spiel? Sind bei denen Eitelkeit und der Jugend- und Schönheitswahn nicht noch ausgeprägter als bei uns Männern? Nicht das Sein, sondern der Schein bestimmt das Bewusstsein. Was erwartet Frau denn noch in diesem Alter? Was kann man mit Siebzig überhaupt von einer Partnerschaft erwarten? Kribbeln im Bauch? Schmetterlinge? Jeden Tag zweimal auf die Matratze? Noch mal richtig den Tiger herauslassen? Oder gemeinsam vor der Glotze hocken? Sich zusammen besaufen? Durch Museen latschen? Über die Nachbarn tratschen? Über Gustav Mahler und Franz Kafka diskutieren oder über Thomas Gottschalk und die Fürstin von Monaco? Kreuzworträtsel lösen oder eine Fernreise mit dem Kreuzfahrtschiff?

Was will ER eigentlich? Nicht mehr alleine sein? Streicheleinheiten? Eine Haushälterin mit Hang zum Sentimentalen; halb brave Küchenfee, halb Femme fatal und Blauer Engel?! Ein unverbindliches Techtelmechtel mit der Nachbarin? Oder gar endlich wieder mal richtigen Sex mit allem Drum und Dran? So wie früher. Wie denn das, wo die Kraft schon seit einer Weile nachlässt? Und mit wem? Mit einer Dreißigjährigen? Die lacht sich krank! Oder mit einer Gleichaltrigen? Als ob die es noch bringen würden. Die sind doch eingetrocknet, jenseits von Gut und Böse. Schau dir doch einmal diese grau melierten Dauerwellenzombies an, diese vernarbten und verhärteten Frührentnerwitwen mit ihren braven Blusen aus dem Versandhaus und den Gesundheitsschuhen mit Fußstütze. Da sind die Mundwinkel Programm und das Goldene Herzblatt ersetzt den Brockhaus…

Und die anderen im Seniorenalter? Die modern Gestylten, Gelifteten, mit der kastanienroten Glanzhaartönung, die jetzt bei H & M junge Mode einkaufen oder sich sogar Paris oder Mailand als Wochenendtrip leisten können? Die sind doch genauso alleine oder auf der Suche, dafür aber problematischer und anspruchsvoller als jede Aldi-Kassiererin. Vor den Gestylten, die auf ihr Äußeres achten und bewusst attraktiv sind, vor denen haben die Männer noch mehr Angst, als vor biederen Hausmütterchen. Oder holen sich die Gestylten heute jüngere Kerle? Kerle, die’s bringen? Und er, Kaulbach, bringt ER es denn noch? Ein verdammt heikles Thema für Männer seines Alters. Da helfen keine großkotzigen Kneipensprüche weiter und kein Viagra. Alles Jägerlatein!

Kaulbach geht ins Badezimmer und räumt die Waschmaschine aus. Die Annonce erst einmal auf Eis legen, denkt er. So etwas muss wachsen, sich ergeben, es wird ihm schon noch ein Text einfallen. Er könnte auch mal ins Internet schauen. Aber sind Frauen in seinem Alter im Internet? Liebe per Email? Ist das nicht etwas für Verbalerotiker, die Angst vor Berührung haben? Er, Kaulbach, braucht die Berührung, hat Sehnsucht nach Zärtlichkeit, ja, er träumt sogar von richtigem Sex, und wenn es nicht mehr in der einen Form so gut geht, da gibt es doch zig andere fantasievolle Möglichkeiten; ja verdammt, darüber muss man doch mal reden, auch als Mann, so stark sollte man sein, um sich diese süßen Schwächen einzugestehen.

Aber kann man das in einer Zeitungsanzeige so deutlich schreiben? Wann gibt es schon mal einen Sechser im Lotto? Meistens sind es doch nur ein oder zwei Richtige mit oder ohne Zusatzzahl, wenn überhaupt. Was soll er denn mit Nieten? Die letzte große Liebe deines Lebens darf kein Trostpreis sein! Sie muss dir einfach so über den Weg laufen und dann muss es aus heiterem Himmel krachen. „Bumm und Woww!“.

Diesen Treffer kann man nicht mit dem Lasso und ein paar banalen Worten einfangen. Weder im Internet noch in einer Zeitungsanzeige. Oder gar beim Seniorenschwof auf dem Ball der einsamen Herzen, oder Donnerstagabend beim Disco-Fox, wo Scheidungsopfer aller Altersklassen eine zweite- oder dritte Ehe anpeilen. Halb Zeitvertreib mit Nervenkitzel, halb Zeitverschwendung mit Frust. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Auch wenn sie aus Phrasen und Schablonen besteht.
Was drücken ein paar Millimeter Anzeigentext aus? Wie kann man einen Menschen in wenigen Worten beschreiben oder erkennen? Es mag für den Anfang reichen; aber wie geht’s dann weiter nach dem ersten Rendezvous? Kinobesuch und Blumen? Jeder Depp kann Blumen schenken! Je größer der Strauß, umso größer die Zuneigung? Im Restaurant französisch speisen? So tun, als ob man etwas von Wein versteht und Süßholz raspeln? Ach du lieber Himmel, wie peinlich! Mit der Wahrheit und unseren kleinen Fehlern warten bis zuletzt? Hoffen, dass die Liebe klickt, lange bevor die Dame am Lack der Realitäten kratzt?

Hoffen, dass Schmetterlinge Halleluja trällern? Nach Möglichkeit auf beiden Seiten gleichzeitig! Und dann glücklich bis an unser Lebensende. Oh, du romantische Glückseligkeit, wie sehne ich mich nach dir! Sei doch mal ehrlich zu dir selbst, lieber Kaulbach, alter Sack: Ist das nicht lächerlich, diese Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen?!

Er grübelt weiter. Nein! beschließt er. Alles zu viel Aufwand! Man kann nichts an den Haaren herbeiziehen. Schon gar nicht die Liebe und das Glück. Also heißt die Parole: Ruhe bewahren und alles noch einmal überdenken. Kaulbach zieht den Wäschehalter von der Wand und hängt die nassen Hemden, T-Shirts, Handtücher und Unterhosen darauf. Das wird über Nacht trocknen; morgen oder irgendwann in den nächsten Tagen wird er die Hemden kurz überbügeln, den Rest wird er ungebügelt in den Schrank legen oder in die Regale hineinstopfen, ganz wie ihm danach ist. Niemand kann ihm in seinen Alltag hineinreden.

Nein, ein Hausmütterchen braucht er nicht! Er ist die letzten drei Jahre seit Annas Klinikaufenthalt gut alleine über die Runden gekommen, ist weder verhungert noch im eigenen Dreck erstickt, hat seinen Haushalt im Griff. Anna ruft seit ein paar Wochen wieder an. In immer kürzeren Abständen. Er ist freundlich mit ihr, versucht sogar freundschaftlich zu sein. Er hat Mitleid mit ihr, leidet mit, im wahrsten Sinn des Wortes. Aber Mitleid ist keine Liebe und auch keine Grundlage dafür.

Anna will zu ihm zurück. Sie hat es nicht direkt gesagt, aber Kaulbach spürt es und er hat Angst davor. Er wird es nicht mehr schaffen. Die Liebe ist weg, und auch die Kraft. Alkohol ist eine schlimme Krankheit, eigentlich eine Katastrophe für alle Beteiligten und unheilbar. Auch wenn Anna zuletzt von der geschlossenen Abteilung in die halb offene verlegt worden war und jetzt auf Wohnungssuche ist. Kaulbach wird sie nicht mehr bei sich aufnehmen. Anna weiß es. Sie haben darüber gesprochen. Aber ob Anna es auch einsieht? Wenn Seele und Kopf angefressen sind, gehört die Unberechenbarkeit zum Überraschungsprogramm.

Kaulbach schaut in seinem Arbeitszimmer auf den Computer. Er ist eingeschaltet und summt leise. Bunte Fenster schweben über den Bildschirm und lösen sich in den Ecken auf. Er geht in die Küche und blickt suchend in den Kühlschrank. Er könnte die Pellmänner von gestern in dünne Scheiben schneiden und als Bratkartoffel knusprig rösten und vielleicht ein Schnitzel aus dem Gefrierfach und eine Tomate als Salat aufschneiden und etwas Mayo hinzu und eine Flasche Bier. Das Leben kann so unkompliziert sein.

Viktor ist noch einfacher zu befriedigen. Kaulbach öffnet eine Büchse und kratzt das Futter in den Fressnapf. „Komm Viktor! Hamham!“ ruft er. Viktor kommt träge aus seiner Ecke hinter dem Fernseher hervorgeschlichen. Er schaut Kaulbach an, wedelt mit dem Schwanz und reibt seine Schnauze an Kaulbachs Knie. Kaulbach grault der Promenadenmischung den Hals. Dann beugt sich Viktor über den Napf und beginnt zu schmatzen. Um Acht schielt Kaulbach nur mäßig interessiert ins Wohnzimmer auf das Flimmern der Fernsehnachrichten.

Das Leben ist träge geworden wie zäher Teig. Was haben wir aus den Jahren gemacht? Welche Möglichkeiten haben wir noch? Es ist, als würden wir auf das Sterben warten und zwischendurch zum Zeitvertreib noch ein bisschen Theater spielen, auch wenn sich das mehr und mehr zur Schmierenkomödie entwickelt. Kaulbach ist verbittert und auch ungerecht und flüchtet sich in Sarkasmus. Er weiß es. Aber es gibt solche Stunden. Und sie werden zahlreicher! Was kann man dagegen tun?

Kaulbach ordnet das Geschirr in das Gitter der Spülmaschine, säubert mit einem Schwamm das Abflussbecken; er mag die matten Fett- und Wasserflecken auf dem silberfarbigen Aluminium nicht, obwohl er sonst auch mal alle Fünfe gerade sein lassen kann. Aber heute ist ihm nach Ordnung und Aufräumen zumute, als würde es ihm helfen, Ordnung in seine Gedanken zu bekommen. Er trocknet seine Hände, schaut sich noch einmal prüfend in der Küche um, schaltet das Licht aus und geht ins Wohnzimmer, das mit dem Schreibtisch in der Ecke auch als Büro für Kaulbachs ehrenamtliche Tätigkeiten dient, mit denen er seit Jahren sein Rentnerdasein ausfüllt und eigentlich zufrieden damit ist. Wenn nur diese innere Unruhe nicht wäre, dieses unbestimmte Gefühl von Leere und Einsamkeit irgendwo verborgen im letzten Winkel seines Daseins. Als er sich unschlüssig vor den Computer setzen will, klingelt es an der Tür. Kaulbach blickt verwundert auf die Uhr und öffnet.

„Anna!“

Kaulbach ist erstaunt und irritiert.

„Störe ich?“ fragt Anna und bleibt unsicher vor der Tür stehen.
„Nein!“ Ein lang gezogenes, zögerndes Nein. Und dann fügt er hinzu: „Das heißt, ich meine …“. Kaulbach findet keine klaren Worte. Anna hatte sich halb umgedreht, so als wollte sie wieder gehen. „Doch, ich störe! Man sieht es dir an …!“

„Nun komm’ erst einmal herein!“ sagt Kaulbach und greift wie automatisch nach Annas Arm. Zögernd folgt Anna und setzt sich an den Küchentisch. Sie wirkt müde. Eine innere Müdigkeit, denkt Kaulbach mit einer wieder aufkeimenden Zuneigung. Erschrocken fragt er sich, ob es Mitleid oder noch Liebe ist. Tränen fließen aus Annas Augen. Kaulbach holt ein Taschentuch und tupft Annas Tränen ab. Mit der anderen Hand berührt er ihre Haare; erst zögernd, fast hilflos nähert er sich, aber dann greift er zu und seine Hand streichelt warm und fest über Annas Kopf, wie hundertmal zuvor und Kaulbach erschrickt und gleichzeitig überkommt ihn ein Gefühl von Vertrautheit.

„Ich habe gehört, die Wohnung bei dir gegenüber soll frei geworden sein“, sagt Anna fast flüsternd. Und Kaulbach antwortet wie selbstverständlich, ohne lange nachzudenken: „Ja, sie ist frei. Die beiden jungen Leute sind ausgezogen. Die Wohnung ist zu klein für zwei, aber ausreichend für eine Einzelperson…!“

Schweigend fragend schauen sie sich in die Augen.
 

ThomasQu

Mitglied
Hallo Michael,
ich frage mich, warum eine so nette und schöne Geschichte nicht mehr Antworten erhält. Wahrscheinlich deswegen, weil sie zu perfekt ist. Es gibt meines Erachtens nichts auszusetzen.
Solltest du dir mehr Resonanz für deine Texte wünschen, dann mache es wie ich - schreibe schlechtere Geschichten!
Viele Grüße
Thomas
 

MichaelKuss

Mitglied
Lieber Thomas,

danke für dein Statement. Was die Resonanz zu meinen Geschichten betrifft, so habe ich es bei der Leselupe längst aufgegeben. Denn hier wird man für Geschichten niedergemacht, die woanders Preise gewonnen haben, und schlechte Geschichten werden hochgejubelt, als stünden sie knapp vor dem Literaturnobelpreis. Ich habe es deshalb längst aufgegeben, an Qualität und Fachkenntnis der "Mitwirkenden" zu glauben. Aber nun stehen meine Geschichten nun einmal hier, also lasse ich sie auch stehen.
Lieben Gruß,
Michael aus Berlin
 
A

aligaga

Gast
Die "Leselupe" ist, wie jedes andere Literaturforum, keine Insel der Seligen, @Michael, in der "Leser" auf Stoffe wie die deinen nur warten (in denen ein lyrisches Ich so tut, als ob, und jede Menge Moralin in den Ecken klebt), sondern ein Haifischbecken, in dem sich (auch) Räuber tummeln.

Nicht nur du hältst dich offenbar für einen Meisterschwimmer, sondern die anderen auch; du darfst also nicht erwarten, dass du mit offenen Armen beglückt aufgenommen wirst - schon gar nicht dann, wenn du, wie geschehen, das Forum gleich zu Beginn mit jeder Menge deiner vorgeblichen Biografien zudröhnst. An solchen haben sich die Kritiker längst überfressen, und schiere Leser, wie gesagt, findest du hier nicht. Jedenfalls nicht unter den Usern.

Sei also tapfer und kämpf direkt an der Front, wenn du Ambitionen hast! Draußen im Analogen, wo Geschichten wie die deinen angeblich mit Preisen überhäuft werden. Ich gönn sie dir von Herzen!

Hier drinnen aber solltest du nicht bloß präsentieren wollen, sondern kommunizieren. Ein Forum wie dieses lebt nicht von der Fülle eingesandter, mehr oder weniger geglückter Aufsätze, sondern von der Interaktion der Mitglieder. Wenn du nicht bereit bist, daran teilzunehmen, solltest du dich nicht beschweren wie ebengerade und das Forum madig machen wollen. Es ist nämlich gar nicht so schlecht, wie du glaubst.

Vielleicht lernst du am Ende gar noch etwas dazu?

Gruß

aligaga
 
G

Gelöschtes Mitglied 17359

Gast
Hallo, Michael Kuss!

Eine lange, sehr lange Geschichte!
Ein Mann, der mit dem Älterwerden hadert, hin und her schwankend zwischen zynischer Resignation und immer wieder aufkeimender Hoffnung. "Letzte Liebe"? Das Bild, das dein Protagonist von den Frauen zeichnet, ist abschätzig und nur auf Äußerlichkeiten bezogen; das macht ihn mir unsympathisch. Die neuerliche Hinwendung zu Anna, die in den letzten Sätzen deutlich wir, erscheint mir deshalb auch wenig glaubwürdig.

Du erzählst sehr anschaulich. Allerdings waren mir in deinem Text zu viele Fragen, die sich dein Protagonist stellt (oder stellt er sie dem Leser?)

Gruß, Hyazinthe
 



 
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