Neue Reize für die Sinne

gox

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Zu Hause schmeckt das Essen am Besten, resümierte Werner und nahm sich eine gehäufte Kelle Milchreis aus der Schüssel. Helga, seine Frau, nickte zustimmend. Sie hatte sich angewöhnt, Samstags Milchreis zu kochen und servierte dazu abwechselnd Mandarinen aus der Dose, eingelegte Sauerkirschen oder einfach Zimt und Zucker. Heute waren die Mandarinen an der Reihe. Im Hintergrund spielte das Radio beschwingte Walzerklänge von Johann Strauss.

Der Hochsommer neigte sich dem Ende zu, Werner und Helga lebten gesund und zufrieden in ihrem kleinen Reihenhäuschen am Rande der Stadt. Gute Renten und hohe Rücklagen ermöglichten ihnen ein sorgenfreies Leben. Sie hatten keine Kinder und Werner überlegte, ob sie sich vom gesparten Geld nicht etwas Schönes gönnen sollten.
Es geht wirklich nichts über Deinen Milchreis, schwärmte Werner, aber vielleicht sollten wir unsere Sinne neuen Reizen aussetzen und den gerade eröffneten Gourmet-Tempel der Stadt besuchen. Helga guckte erstaunt, überlegte einen Moment und stimmte dann zögernd zu: Wir werden nichts mitnehmen können, meinte sie in traurigem Tonfall.

Gesagt - Getan.
Am folgenden Samstag kochte Helga keinen Milchreis. Die beiden zogen sich schick an und ließen sich per Taxi in das moderne Schlemmerlokal 'Dijon' chauffieren. Gedämpfte Musik umschmeichelte sie, geschulte Kellner rückten die Stühle auf dem dicken Teppichboden zurecht und präsentierten eine eindrucksvoll übersichtliche Speisekarte. Werner und Helga fühlten sich erschlagen von der Tischeindeckung: Unzählige Gläser standen in Reih' und Glied, Unmengen von Besteck waren säuberlich angeordnet, kunstvoll gefaltete Stoffservietten harrten ihrer Entfaltung.
Der gelackte Sommelier empfahl einen sündhaft teuren, trockenen Rotwein. Werner verstand etwas wie '87er Chateau Margaux aus dem Barrique' und bestellte die Empfehlung. Das hätte er lassen sollen, denn weder er noch seine Frau waren geübte Weintrinker. Daher empfanden sie den teuren Trunk als Traubenessig.
Als Vorspeise wählten die beiden Neu-Gourmets 'Hummerkrabben aus dem Koriander-Ingwersud mit Sepia an Kaiserschotensalat'. Davon hatten sie noch nie gehört. Auf riesigen Tellern servierten beflissene Kellner die Leckerei, aber auf jedem Teller waren nur zwei kümmerliche Esslöffel davon zu finden.
'Barbarieentenbrust mit gebratener Entenleber an Honig-Koriander-Sauce' hieß das Hauptgericht, immerhin doppelt so reichlich bemessen wie die Vorspeise. Werner kräuselte die Stirn. Vom Kitzeln des Geschmackssinns hatte er sich mehr versprochen. Schließlich trösteten ihn 'Ricotta-Zuckercanelloni mit Clementinen in Lavendelhonigjus und geeistes Schokoladenpulver' als Nachtisch.

Im Ernst, sagte er zu Helga, Dein Milchreis schmeckt mir viel besser! Wir werden die Portionen verkleinern und ihn künftig 'Essenz vom Milchreis an Segmenten der spanischen Mandarine' nennen!
Helga lächelte geschmeichelt, verkleinerte zu seiner Freude am folgenden Samstag die Portion jedoch nicht. Werner langte ordentlich zu und schlug vor, nachmittags die Ausstellung moderner Künstler in einer teuren, privaten Galerie zu besuchen.
Damit wir unsere Sinne neuen Reizen aussetzen, grinste Helga ironisch, stimmte aber zu.

In der Galerie angekommen, wurden sie mit Sekt empfangen, von völlig unbekannten Menschen geherzt und auf die Wangen geküsst. Viele ältere Frauen standen herum, hatten sich über die Maßen geschminkt und gickerten affektiert wie Schulmädchen auf dem Abtanzball.
Werner und Helga fühlte sich fehl am Platze, gingen aber tapfer weiter.

Ein quadratisches Gemälde fiel ihnen ins Auge, etwa drei mal drei Meter groß. Das Bild besaß keinen Rahmen und war auf ganzer Fläche einfarbig rot mit Ölfarbe bemalt. Ein kleines Schild wies darauf hin, dass der zeitgenössische Maler sein Werk 'Rot' genannt hatte und es für zweiundzwanzigtausend Euro verkaufen würde.
Werner fand die Bildbezeichnung treffend, flüsterte aber zu Helga: So was kann ich auch!
Helga grinste und zeigte auf eine Plastik, die mitten im Raum stand. Offenbar hatte der Künstler eine indische Teekiste unsanft mit der Axt bearbeitet, dann fünf lila lackierte Mercedes-Sterne an die Seiten genagelt und zum Schluss eine nackte Puppe aus fleischfarbenem Vinyl auf die Kiste drapiert.
'Versuch über die Freiheit' hieß das Werk und es war für nur siebentausendfünfhundert Euro zu haben. Werner tippte sich an die Stirn. Das ist doch krank, raunte er seiner Frau zu, der röhrende Hirsch über unserem Sofa ist doch eher mein Geschmack. Lass' uns schnell den Sekt austrinken und verschwinden.
Helga grinste. Du wolltest doch unbedingt neue Reize ausprobieren, erwiderte sie keck, trank aber ihren Sekt in einem Zug aus und folgte ihm in Richtung Ausgang.

Auch am nächsten Samstag gab Werner keine Ruhe, das Jazzkonzert einer Jahrhundertband sollte es sein. Angesichts exorbitant hoher Kartenpreise wollte er wenigstens den Hörsinn angenehm überraschen.
Erfreuter Beifall brandete auf, als das Publikum nach wenigen Takten den Klassiker 'Take Five' erkannte. Zwanzig Sekunden später variierte der dunkelhäutige Saxophonist das Take-Five-Thema vorsichtig, verließ es dann ganz und bot als Improvisation schräg quietschendes Getute.
Werner und Helga sahen sich entsetzt an.
Unvermittelt wurde geklatscht, obwohl es keinen Anlass dafür gab. Aber das war bei Jazz so.
Der feiste, überlegen lächelnde Pianist malträtierte hemmungslos den Flügel und bewies, dass er trotz seiner zehn Finger mindestens dreißig Tasten gleichzeitig betätigen konnte, ohne einen einzigen harmonischen Ton zu erzeugen. Gleichzeitig simulierte der schwitzende Schlagzeuger einen epileptischen Anfall und drosch unrhythmisch zuckend um sich.
Werner einigte sich in einer Getösepause mit Helga, das Konzert zur Vermeidung von Gehörschäden bereits zur Halbzeit zu verlassen.

Sie machten in der warmen Augustluft einen Spaziergang am nahe gelegenen See, genossen die vom Zirpen der Grillen und vom Rauschen der Blätter unterbrochene Stille. Beide schwiegen, nur gelegentliches Schlurfen ihrer Schuhsohlen auf dem Sandweg war zu hören.
Plötzlich stolperte Helga über eine Astwurzel. Werner sprang schnell zu ihr, um den Sturz abzufangen. Das gelang ihm in Grenzen, er bekam sie zu fassen und sie stürzten zusammen ins trockene Gras.
Helga lag mit erschrockenem Gesichtsausdruck heftig atmend auf ihm. Dann kuschelte sie sich fester an und küsste ihn liebevoll. Werner genoss ihre Nähe und drückte sie an sich.
Weißt Du, sagte Helga leise kichernd, eigentlich brauchen wir für unsere Sinne keine neuen Reize. Ich bin vollkommen glücklich mit dem, was ich jetzt gerade fühle.
 

jane-schubat

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eine schöne Erzählung

Mir hat sie gefallen. Sie erinnert mich daran, daß wir alle in verschiedenen Welten leben. Und ich persönlich bin manchmal erstaunt, daß man überall woanders oft auf dieselben Grundwahrheiten stößt. Aber vielleicht muß sie so sein, die Welt - so bunt und verschiedenfarbig. Denn ist nicht die Natur manchmal auch sehr bizarr?!

grüße
jane
 

gox

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Hallo jane
freut mich, wenn Dir die Geschichte gefällt.
Wir suchen immer - in welcher Welt auch immer - den Prickel des Neuen. So schön das Bekannte sein mag, man hat sich daran gewöhnt. Geht aber wohl auch Tieren so, ich sehe hier immer Hasen neben vierspurigen Strassen gemütlich Gras fressen. Die finden per Reizgewöhnung auch nichts Bemerkenswertes mehr an vorbei donnernden 38-Tonnern.
Die Natur ist bizarr, man muss nur den Blick dafür haben und behalten...
 



 
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