Neugeboren 9

Ruedipferd

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Im November flog ich noch einmal zu Doktor Reimers. Rene hatte die ganze Zeit nichts mehr von Conny gehört. Iih, wie konnte der stolz sein! Was sollten wir mit diesem Dickschädel machen, fragte ich mich, als ich mit Rene in dessen Zimmer am PC saß.
„Wollen wir uns mal in die Höhle des Löwen wagen?“ Rene blickte mich zustimmend an. „Lass uns gehen, vielleicht ist er ja wieder friedlich.“ Um kurz vor neun Uhr abends klingelten wir an seiner Haustür. Er öffnete nach eine Weile. Aber, was war passiert? Conny sah sehr schlecht aus. Sein Gesicht war fahl und seine Augen zeichneten sich rotumrandet ab. Er hatte mit Sicherheit geweint. Anders konnte man seinen desolaten Zustand nicht erklären. Ich wollte ihn umarmen, doch er ließ mich nicht näher an sich herankommen. „Du siehst aus wie ein Gespenst, was ist los?“, fragte Rene, noch ehe ich etwas anmerken konnte. „Ich bin krank“, antwortete er leise und schlich in gebeugter Haltung vor uns in sein ärmliches Wohnzimmer. „Das sehe ich. Was hast du?“ „Aids!“ Wie bitte? Schock, Stille. Apathie. Ich konnte kaum noch atmen. Mir schnürte sich die Luft ab. Vor meinem geistigen Auge sah ich die Bilder totkranker Patienten, die ich im Fernsehen gesehen hatte. Conny musste sterben? Das durfte nicht sein. Er war doch gerade erst Achtzehn geworden! Erschüttert setzten Rene und ich uns hin. „Du meinst, du bist positiv?“, fragte Rene. Conny nickte. Gottseidank. Erleichtert atmete ich aus. „Dann hast du doch noch gar kein Aids. Eh, die haben Medikamente und können den Ausbruch der Krankheit heute herauszögern. Manche Leute leben zig Jahre, ohne das ihnen etwas passiert“, sagte ich und breitete noch einmal meine Arme aus. Er ließ es nun geschehen, lehnte seinen Kopf an meine Brust. „Wovon soll ich leben, wenn ich nicht mehr anschaffen kann?“, schluchzte er. Rene spielte an seinem Handy. „Boar, das war eben aber ein Wechselbad der Gefühle. Hör zu, ich hab Ronnys Nummer gespeichert. Willst du ihn selbst anrufen? Er kann dir sicher helfen.“ Conny musste wieder zur Schule gehen und etwas lernen, erklärte ich ihm. „Du hast gut reden. Ich hab in der sechsten Klasse abgebrochen. Wie soll ich da weiter kommen?“ Wir redeten nun beide auf ihn ein. Ronny war nicht nur Streetworker, sondern auch Sozialarbeiter. Der würde einen Weg finden. Es gab viele Leute wie Conny, die keine Abschlüsse hatten und sie nachholen mussten. Die Hoffnung starb bekanntlich immer zuletzt. Langsam beruhigte er sich. Er tat mir unendlich leid und trotzdem fühlte ich eine merkwürdige Unbekümmertheit in mir, die eigentlich gar nicht zur ernsten Situation passte. Ich wusste instinktiv, er würde es schaffen. Und er würde noch lange bei uns sein. Obwohl, wir spielten hier mit dem Feuer. Einige Zweifel nagten nun auch an mir. Man konnte Gummis nehmen, aber war man damit immer sicher? Was, wenn wir uns auch schon angesteckt hatten und es noch nicht ahnten? Mit HIV konnte man nicht mehr operiert werden. Das hatte ich mal gelesen. Ich verdrängte den Gedanken sofort. Nein, es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Wir würden nächstes Jahr operiert werden, kostete es, was es wollte. Rene telefonierte gleich mit Ronald Büchner. Der wollte morgen um zehn Uhr hier sein. Conny sollte ruhig bleiben. Es gab auch dafür eine Lösung. Also, doch. Das war wenigstens etwas.

Nachdem unser Zuhälter wieder halbwegs moralisch aufgebaut war, nahmen wir ihn mit zum Parkplatz. Unseren Verdienst konnte er jetzt gut gebrauchen. Zufällig trafen wir sogar Ronald dort. Er hatte den kleinen Kevin vom Klohaus an der Hand. Auch der war mir schon öfter aufgefallen und ich konnte Ronny einen Tipp gegeben. Wir begrüßten die beiden freudig. „Hallo, Conny. Ich hab da einige gute Ideen für dich. Das regeln wir morgen früh bei dir. Ich muss jetzt erst einmal diesen jungen Herrn in ein besseres Milieu bringen. Heute Nacht schläft er in einer Jugend WG und morgen fährt ihn ein Kollege vom Jugendamt in seine neue Pflegefamilie. Da ist er dann Kevin, „nicht mehr allein auf dem Strich.“ Wir lachten und knufften den Kleinen. Ronny arbeitete unermüdlich für die Jungen, die meistens aus sehr schwachen Familien kamen. Einige waren auch dort schon Missbrauch ausgesetzt gewesen und machten somit im Park nur weiter. Bei Rene und mir lagen die Dinge ja anders. Unsere berufliche Zukunft war gesichert und wir lebten nur unsere dunklen Seiten aus. Und wir wussten, wie wir uns schützen mussten. Trotzdem machte ich an diesem Abend nur halbherzig mit. Ich beschloss Doktor Reimers zu fragen, wann die für die OP notwendigen Blutuntersuchungen gemacht und welche Krankheiten ausgeschlossen wurden. Mit Rene wollte ich auch darüber diskutieren, ob wir unsere Stricherkarriere langsam beenden sollten. Gelegenheit dazu bekam ich gleich am Samstagmorgen. Rene war einverstanden, Doktor Reimers vorsichtig auszuquetschen und zu erfahren, ob er bei uns auch einen Aidstest ansetzte. Ihn direkt darum zu bitten, kam uns beiden nicht geheuer vor. Er würde vielleicht nachfragen. Wir wollten ihn nicht belügen, doch unser dunkles Geheimnis sollte auch unseres bleiben. Ich gähnte ausgiebig. Wir lagen noch zusammen im Bett. „Also, ich hab erst viertausend Euro für die OP. Das reicht nicht mal für die Narkose. Wenn die Kasse ihre Kostenzusage gibt, will ich auch gerne aufhören. Wobei, Conny braucht unseren Verdienst ja jetzt wirklich.“ Er räkelte sich, stützte sich zu mir auf. „Ja, gut, lass uns den Krankenverein abwarten und noch ein wenig weiter machen. Ich bin gespannt, was Ronny unserem Zuhälter vorschlägt. Ich tippe auf Schule und Hartz 4.“ Rene grinste. „Da könntest du Recht haben. Lass uns heute Abend wieder zu ihm gehen, dann kann er erzählen. „Ich muss morgen schon um neun Uhr zum Flieger. Wir schreiben Mathe am Montag.“ Er nickte. „Wir Donnerstag. Das wird ein heißes Jahr, bis zum Abi. Aber es lohnt sich natürlich durchzuhalten.“ Den Nachmittag verbrachten wir wie immer beim Fußball. Am Abend fuhren wir um halb sieben Uhr zu Conny. Der stand schon vor der Tür und wartete auf Freier. „Ihr könnt euch gleich zu mir stellen.“ „Tun wir auch, aber nur, wenn du erzählst, was Ronny gesagt hat“, forderte ich ihn auf. Lässig lehnte ich mich an die Hausmauer. Rene ging ein Stück auf und ab. „Ronny will, dass ich wieder zur Schule gehe. Ohne funktioniert auch nichts. Er hat ein Tageskolleg für mich und hilft mir dabei, einen Hartz4 Antrag zu stellen. Ich will hier wohnen bleiben und gehe auch weiter anschaffen. Ich muss den Freiern nur sagen, was los ist und natürlich Gummis nehmen. Aber das ist kein Problem für mich. Finanziell müsste man damit über die Runden kommen.“ Ich nahm ihn in den Arm und küsste ihn zärtlich. „Rene und ich helfen dir und wenn du nach der Schule etwas in Richtung Kneipier machen willst, nehmen wir unser Schwulenlokal in Angriff. Wir wollen aber so schnell wie möglich aussteigen, denn wenn wir uns anstecken, können wir nicht mehr operiert werden. Bis jetzt scheint alles gut gegangen zu sein.“ „Geht klar, und entschuldige, dass ich damals so fies zu dir war“, entschuldigte sich Conny. Er löste nur ein Kopfschütteln bei mir aus. „Wieso, hattest du irgendwann mal irgendetwas Fieses gesagt? Ist mir gar nicht bewusst.“ Oh, Kundschaft nahte. Ich dachte mir nichts dabei und ging gleich offen auf den Mittfünfziger zu, baggerte ihn an und… erhielt prompt eine Abfuhr. Er zeigte uns lässig einen Ausweis. „Ich bin von der Polizei und wenn Ihr mir euer Geld gebt, lasse ich euch laufen, ansonsten rufe ich die Kollegen und ihr verbringt die Nacht im Knast.“ Conny wurde bei so viel Unverfrorenheit sofort wieder lebendig. „Zum einen fangen wir gerade an und du wärst unser erster Freier gewesen und zweitens, bist du nicht bei den Bullen. Mann, hau ab, bevor wir dich hoch nehmen.“ Der Typ stutzte erst, zog dann ganz ruhig ein Messer aus der Tasche. Auf so etwas war ich allerdings bestens vorbereitet. Mein jahrelanges Kampfsporttraining machte sich nun bezahlt. Eine Sekunde später hatte ich das Messer in der Hand, gab es an Conny weiter und der Typ lag total geschockt zu unseren Füßen. Er verdrehte die Augen und sah mich an, als wenn ich ein Alien wäre. „Habt ihr Ärger?“ Ein älterer, gut angezogener Passant stand plötzlich neben uns. Conny lachte ihn an. Sie kannten sich allem Anschein nach. „Danke, Kurt. Aber mein Freund Max hier, hat mir wohl gerade das Leben gerettet. Max, Rene, das ist Kurt. Ihm gehört der Puff, also das Laufhaus in der Freiheit und noch zwei Tabledancebars auf dem Kiez. Die beiden helfen mir ein bisschen. Ich hab grad ’nen Durchhänger. Und der Affe meint, er ist ‘n Bulle und kann uns ausnehmen.“ Kurt blickte mit leichter Zornesfalte auf der Stirn auf den Kerl, der noch vor ihm auf dem Boden lag. „Ich frag deshalb, weil er die Show auch vor meinen Mädels abgezogen hat. Die laufen natürlich gleich zu mir, wenn ihnen etwas nicht geheuer vorkommt. Freund, ich hab dir Prügel und Kiezverbot angedroht, wenn du noch mal mit der Masche hier auftauchst. Den Jackvoll hast du eben gekriegt und das Kiezverbot bekommst du jetzt von mir. Verpiss dich und lass dich nie wieder bei uns sehen. Das Messer behalte ich. Gib her Conny, damit du keinen Unsinn damit machen kannst.“ Conny grinste und gab Kurt das Messer. „Wollt ihr was trinken. Kommt ihr drei, ich gebe einen aus in der Bar. Da lernt ihr auch gleich ein paar nette Mädels kennen.“ Wir sahen uns an. „Das muss unser Zuhälter entscheiden“, schmunzelte ich. Conny nickte. „Klar, mal was anderes. Danke, Kurt.“ Der Angreifer stand umständlich auf und rannte weg, so schnell er konnte. Wir folgten Kurt in die Freiheit. Rene und ich blickten uns begeistert um, als wir den Laden betraten. Wir waren noch nie in einer solchen Bar gewesen. Ein Mädchen mit enormer Oberweite begrüßte ihren Chef. „Jane, das sind nette Jungs, die etwas zu trinken brauchen. Mix uns etwas Schönes.“ Kurt grinste, als er Rene und mich staunen sah. „Das erste Mal?“, fragte er. Wir nickten. „Lasst uns nach hinten gehen, in mein Büro.“ Wir erfuhren, dass Kurt eine der bekannten Kiezgrößen war und sein Geld mit Bordellen verdiente. Allerdings alles legal, wie er betonte. Die Mädchen arbeiteten freiwillig und hatten allesamt einen Anstellungsvertrag mit Sozialversicherung. Kurt erzählte von früher. Schon sein Vater war Zuhälter auf der Reeperbahn gewesen. Damals ging es hier noch hoch her. Die Mädchen hatten zu gehorchen, wurden manchmal auch minderjährig zum Anschaffen gezwungen und die Männer lieferten sich Bandenkriege. Das ging oft nicht unblutig ab und die meisten Zuhälter saßen einige Zeit im Knast. Heute war alles ruhig und gesittet. „Wisst ihr, der sicherste Ort in ganz Deutschland ist hier auf dem Kiez. Wenn es Probleme gibt, dann nur durch besoffene Gäste oder Idioten, wie den, vorhin. Allerdings hat er auch viel Glück gehabt. Bei meinem Vater damals wäre er nicht ohne ein blaues Auge davongekommen. Wir haben hier unsere eigenen Gesetze.“ Jane brachte für jeden einen monströsen Cocktail. „Na, dann Prost, meine Herren!“ Mm, das schmeckte wirklich lecker. Ich hatte inzwischen einen Geschmack für Getränke entwickelt. Kunststück, mein Alter besaß schließlich eine Brauerei und eine Schnapsbrennerei. Conny erzählte von uns. Wie wir uns kennenlernten und von den Filmfritzen. Er ließ nichts aus. Kurt macht eine traurige Miene. Man sah, wie sehr ihn Connys Schicksal berührte. Ich erzählte weiter. Auch von zu Hause, von unserer Firma und meinem Vorschlag für Conny. Kurt zog Conny einmal fest an sich. „Das wichtigste auf der Welt sind Freunde, mein Junge. Und du hast sogar zwei davon. Echte Freunde! Glaub mir, ich kann das inzwischen beurteilen. Du hörst sofort auf, deinen Körper zu verkaufen. Du arbeitest am Nachmittag und am Abend bei mir und regelst alles andere mit dem Ronny. Die Schule machst du auf jeden Fall fertig. Danach geb‘ ich dir zur Belohnung den Laden, den du erst mal für mich führst und nachher pachten oder auch abkaufen kannst. Das wird deinen Ehrgeiz etwas anstacheln. Und ihr zwei kommt stundenweise zu mir, wie ihr Zeit habt. Rene kriegt einen regelmäßigen Job, damit er sich seine OP ansparen kann. Ich habe auch schwule Kunden, die Jungs suchen, wie ihr es seid. Das sind allerdings Leute aus der gehobenen Gesellschaft, die mehr als dreißig Euro zahlen, dafür aber Qualität erwarten. Und das nicht nur im Bett, sondern vor allem in der Art der Begleitung.“ Das verstand ich… noch nicht so ganz. „Meinst du, wie bei den Frauen, so was wie Escortservice, nur eben für Männer?“ Er grinste. „Max, du scheinst noch klüger als dein Freund zu sein. Aber man merkt, dass ihr beide aus einer anderen Welt stammt. Ja, genau so ist es. Die Kunden wollen nicht eine schnelle Nummer im Klo machen, sondern einen sauberen Jungen, der mit ihnen ins Theater geht, sie zu Sportevents oder auch nur zum Essen begleitet. Dabei entwickelt sich der Weg ins Hotel mit Champagner und Kaviarhäppchen von selbst. Die wollen Luxusboys. Aber sich auch in gehobener Weise mit euch unterhalten können. Ich fragte euch ja eben gezielt nach Sprachkenntnissen. Englisch ist Voraussetzung für den Job. Alle Briten, Amis und Asiaten sprechen Englisch. Aber manchmal hab ich auch Franzosen hier und Spanier. Ihr habt also neben Englisch auch Spanisch und Französisch gelernt. Das ist natürlich ideal. Wenn du deinen nächsten Arzttermin hast, bekommst du ein oder zwei Dates von mir. Mit dem ganzen Glimmer, der dazu gehört. Für ein solches Date sind 2000 Euro Standard.“ Er kam nicht weiter. Rene stieß auf und fiel in seinen Sessel zurück. Kurt lachte.
„Das hab ich mir gedacht. Du wirst deine OP schnell zusammen haben. Natürlich sind Gummis Pflicht. Etwas anderes würden diese Männer auch nie akzeptieren und sie sind gehalten, euch ihre eigenen HIV Tests zu zeigen. Umgekehrt genauso, wobei ich den Gesundheitsteil für euch erledige. Ihr macht die Untersuchung bei einem Freund von mir, der ist Arzt. Niemand erfährt etwas davon. Aber ihr habt regelmäßig Sicherheit, dass ihr gesund seid und ich hab die ebenfalls gesunden zahlenden Freier für euch. Die übrige Zeit arbeitet Rene hier in meinen Läden und lernt schon mal die Praxis fürs BWL Studium. Das wirst du auch, Conny. Ich bring dir alles über Betriebsführung bei. Und du Max, bringst mal deinem Vater her, damit ich mit ihm ins Getränke Geschäft kommen kann. Von deinem Nebenjob sagen wir natürlich nichts. Was du mit dem Geld machst, ist deine Sache. Gebe es Rene oder Conny, oder teil es zwischen den beiden auf. Wenn du auch einen Laden hier haben willst, regle ich das für dich. Du kannst dann Rene als Geschäftsführer einstellen. Was sagt ihr zu meinem Angebot?“ „Warum tust du das für uns, Kurt?“, fragte Rene. „Gute Frage. Ich hatte drauf gewartet. Zum einen, weil ich einen Riecher für gute Geschäfte hab und zum anderen, weil ihr Freunde von Conny seid.“ Er schwieg plötzlich. Ich stutzte. Da war eine Ähnlichkeit in den Gesichtszügen zwischen den beiden zu erkennen. Sollte Kurt…? Egal, was ihn trieb, ich hielt viel von der Wahrheit. Vor allem nach der Aktion Messwein, aus meinen Kindertagen. „Kurt, Rene und ich können nach draußen gehen, wenn du mit Conny unter vier Augen reden möchtest. Ich sehe da etwas zwischen euch. Ich bin nicht blind. Und warum, wenn es denn so ist, willst du ihm die Wahrheit verschweigen? Das hilft ihm nichts und dir ebenfalls nicht!“
Kurt starrte mich an, schluckte sichtlich. „Also, gut. Es ist nicht sicher, wir müssten das noch feststellen lassen. Aber, Conny, ich kannte deine Mutter. Und ich kannte sie gut. Sie, … sie war eines meiner ersten Mädels. Plötzlich kam sie und sagte, sie wäre schwanger. Ich wollte ihr Geld zu stecken, aber das wollte sie nicht. Ich sollte sie nur frei geben. Sie wollte das Kind und sie wollte nicht mehr anschaffen. Ich fragte, wer der Vater ist, sie küsste mich nur. Dann verließ sie mich und ich hörte später, dass sie in Altona lebte und einen Jungen geboren hatte. Wir sahen uns einmal zufällig und sie hielt dich auf dem Arm. Ich gab ihr Geld und da war etwas in deinem Gesicht. Ich hatte ein so komisches Gefühl.“ Kurt schluchzte. Conny stand auf, ging zu ihm und legte seine Arme um ihn. „Lass uns ins Labor gehen und den Test machen, dann haben wir Gewissheit. Besser spät einen Vater, als gar keinen!“ Rene applaudierte spontan. „Das denke ich auch. Gratuliere Conny. ‘Ne Kiezgröße als Daddy, meiner ist nur Beamter bei der Stadt, da kann man richtig neidisch werden. Na ja, Max ist Graf, das ist auch noch was anderes.“ Ich lachte. „Dein Alter ist schwer in Ordnung, Rene, tu ihm kein Unrecht. Ich denke, wir sollten Conny und Kurt mal alleine lassen. Lass uns ein letztes Mal zum Parkplatz gehen. Unser Zuhälter gehört demnächst zur Oberklasse und schickt uns dann zu Luxusfreiern.“ Der Abend war super gelaufen. Ich freute mich für Conny. Wenn der Vaterschaftstest positiv war, wovon ich ausging, hätten sich die beiden gesucht und gefunden. Conny brauchte Hilfe und die würde er jetzt in Hülle und Fülle bekommen. Wir bedankten uns für die Drinks und tobten zum Parkplatz. Ich fand wie Rene schnell einen Freier und als ich zur Toilette ging, traf ich Ronny, der sich den Mund bei zwei ungefähr vierzehnjährigen Möchtegernstrichern fusselig redete. „Hallo Ronny. Schön dich zu sehen. Wir haben unseren Zuhälter auf Linie gebracht. Er hat unverhofft Hilfe erhalten, aber das wird er dir selbst erzählen. Rene ist ja dauerhaft hier und kann ihm bei den Hausaufgaben unter die Arme greifen. Es ist natürlich schwer, nach drei oder vier Jahren Abstinenz wieder in die Schule zu gehen.“ „Ja, das weiß ich und ihr kümmert euch super um ihn. Passt bitte gut auf euch auf. Der Ort hier ist aus mehreren Gründen nicht ungefährlich, vor allem für unerfahrene Jugendliche.“ Er blickte etwas bekümmert auf die beiden Kids. „Ja, bei Rene und mir liegt das aber anders. Wir sind nicht nur über Siebzehn, sondern wir haben auch ein normales Leben und machen dies hier nur zum Spaß. Warum wollt ihr beide eure Ärsche anderen schmutzigen Kerlen hinhalten? Wenn ihr keine Gummis benutzt, bekommt ihr in kurzer Zeit das Virus und noch zusätzliche Krankheiten. Freier ist nicht gleich Freier. Es gibt auch bei den Jungs Psychos. Die stechen euch ab und schmeißen euch in die Elbe.“ Die zwei sahen mich überrascht an. „Ich will ’n neues Handy haben und Jari wünscht sich eine Playstation. Hier kann man schnell Kohle machen“, meinte einer der beiden. Das war natürlich ein Argument. „Ja, okay, das verstehe ich. Habt ihr denn schon mal hingehalten?“ Jari schüttelte den Kopf. „Aber ihr seid beide schwul, poppt mit Jungs?“ „Ist das Voraussetzung für den Job hier?“ Ronny schlug die Hände vor den Kopf. Ich musste lachen. „Ne, oder doch. Wenn ihr Heteros seid, wird euch das keinen Spaß machen. Ich schlage vor, ihr geht zu Euch nach Hause, schließt die Tür ab, damit euch keiner stört und dann fickt ihr euch gegenseitig. Wenn es euch gefällt, kauft ihr reichlich Gummis oder holt sie euch bei Ronny. Ihr müsst als erstes die Bezahlung fordern. Dreißig Euro sind Standard für alles mit anblasen. Nehmt ihr mehr, macht ihr die Preise kaputt und die anderen Stricher werden euch stutzen. Zehn Freier für jeden und ihr habt eure Wünsche im Sack. Aber überlegt euch den Preis, den ihr dafür zahlen müsst. Das ist nicht angenehm, wenn ihr einen fremden Schwanz in den Arsch gestoßen bekommt. Vielleicht sucht ihr euch einen seriösen Job, Zeitungen austragen, Hunde Gassi führen oder Rasen mähen. Das dauert zwar länger, bis ihr eure Knete habt, doch ihr behaltet die Achtung vor euch selbst.“ Ronny seufzte. „Besser hätte ich das auch nicht bringen können. Aber ich bin ja nur ein dämlicher Streetworker, der sich hier mit euch Kids die Nächte um die Ohren schlägt. Max ist ein eingefuchster Stricher und kennt sich aus. Ihm könnt ihr gerne glauben. Es ist ja nicht so, dass wir euch abhalten können. Das wird erfahrungsgemäß nichts. Wenn ihr etwas wollt, dann zieht ihr euer Ding durch, aber nehmt um Himmels Willen die Gummis, das ist nämlich das Zweite. Erst Bezahlen, dann Gummi drüber, sonst läuft gar nichts. Wer sich angesteckt hat, besitzt die Arschkarte für den Friedhof.“ Die zwei machten große Augen. „Wir können es mal versuchen. Wer fängt an?“ „Du.. „Ne, du, ich weiß nicht, ob er bei dir steht.“ Ronny und ich starrten uns entgeistert an. Wie geil und verrückt war das denn? Die beiden hatten es noch nie getrieben und wollten als Stricher Geld verdienen? Möglicherweise würden sie abgezockt und verarscht und wenn es ganz schlimm lief, ziemlich fies vergewaltigt und liegen gelassen, wie ein Stück Dreck. Gottseidank gab es Leute wie Ronny. Die es als Berufung ansahen, den Jungs zu helfen. Es fehlten mehr Streetworker wie ihn. Die beiden verabschiedeten sich und rannten weg. „Puh, noch so ein Ding und ich kann in Rente gehen“, meinte Ronny. „Wir müssen versuchen auf diese Weise an sie heranzukommen. Mit dem erhobenen Zeigefinger und Verboten erreichst du bei denen nur genau das Gegenteil. Es ist wie bei mir, mit meiner Transsexualität. Man muss den anderen ernst nehmen. Vielleicht kommen die nicht wieder. Wenn doch, weißt du Bescheid. Rene und ich werden demnächst nicht mehr hier anschaffen.“ Ich erzählte Ronny nun doch von dem Gespräch bei Kurt. Er kannte ihn und er kannte auch Connys Mutter gut. Kurt war durch alle Höhen und Tiefen gegangen, hatte ein paar Jahre gesessen und wenn er Connys Erzeuger war, wäre das für beide ein Segen. Conny war nicht doof, berichtete Ronny. Ihm fehlten nur der Vater und die führende Hand. Für uns bestand wenig Gefahr. Wir würden in unser biederes Leben zurückkehren und unseren Weg machen. „Ihr müsst nur immer an die Gummis denken. Auch wenn Kurt von den Freiern zeitnahe Tests verlangt. Man kann sich schnell anstecken und es gibt eine Inkubationszeit. Die normalen Krankheiten kannst du bekämpfen, das Virus nicht. Das setzt sich hartnäckig fest. Warum studierst du nicht Medizin und findest ein Mittel dagegen?“ Ich dachte nach. „Ich muss unseren Laden übernehmen. Bier, Schnaps, Wald und Bäume. Da sind BWL und Forsten gefragt. Mach‘s gut Ronny, ich will noch ein wenig arbeiten, damit sich Conny nächste Woche etwas zu essen kaufen kann.“ Ich ging noch mal zur Toilette. Ein älterer Opa kam hinterher. Wir zogen uns in die Kabine zurück. Routine. Wenn mir früher einer erzählt hätte, dass ich meinen Körper auf dem Strich verkaufen würde, den hätte ich sicher für verrückt erklärt. Um halb zwei Uhr traf ich Rene. Er legte den Arm um mich. Es hatte angefangen leicht zu schneien. In ein paar Wochen war Weihnachten. Ich fröstelte. „Lass uns nach Hause fahren“, schlug er vor. Ich erzählte von den beiden Anfängern. Rene lachte sich halb tot. Am nächsten Mittag fuhren wir zu Conny und gaben ihm unseren Verdienst, wie es sich gehörte. Er hatte sich beruhigt. Die Gefühle für Kurt waren bei ihm schon lange vorhanden gewesen, er konnte sie nur nicht richtig einordnen und seine Mutter hatte ihm nie etwas erzählt. In den nächsten Tagen wollten sie zur Sicherheit zum Arzt gehen. Rene und ich sollten möglichst noch heute bei dem vorstellig werden. Auch wenn Sonntag war. Ich sagte, dass ich um halb vier Uhr spätestens auf dem Flugplatz sein musste. „Null problemo, lasst uns gleich los. Der Doc weiß Bescheid und arbeitet für Kiezleute auch am Sonntag.“ Wir brachen auf. Eine gute Stunde später war uns Blut abgezapft worden und wir konnten wieder gehen. Sie brachten mich zum Flieger. Conny küsste mich leidenschaftlich. Ich erwiderte, aber die gefühlte Hörigkeit war einer gespielten gewichen. Conny hatte Glück im Unglück gehabt und wir konnten nur hoffen, dass er bald die entsprechenden Medikamente erhielt und die bei ihm anschlugen. Er fügte sich Kurts Wünschen und schien sehr froh über seinen neuen Vater zu sein. Am späten Abend saß ich wieder auf Schloss Wildenstein und besah mir mit einem Anflug von Verzweiflung mein Mathebuch. Wir schrieben nun fast täglich irgendetwas und das würde bis zum Sommer so weiter gehen. Über Weihnachten kam die ganze Familie zusammen. Hubertus und ich bauten uns wie üblich das Zweimannzelt auf und ernteten von meinem Vater dafür Applaus. Hubi absolvierte sein Jura Studium erfolgreich und stand kurz vor dem ersten Staatsexamen. Danach wollte er einige Jahre in die Staaten und in Philadelphia weiter studieren.
 



 
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