Nicht jeder findet Lappland

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itsme

Mitglied
Wenn du die Castroper Landstraße stadtauswärts fährst, vorbei am Tanklager, dann rechts über den Kanal, stehen an beiden Seiten der Straße eingeschossige Backstein Häuser. Nicht mal mehr zu ahnen ist das ursprüngliche Rot des Mauerwerks unter hundert Jahren Ruß. Die Kumpel von Auguste Viktoria haben hier gewohnt, aber die gibt?s schon lange nicht mehr. Die Kumpel nicht und auch nicht die Zeche. Eine Industriebrache ist das jetzt, direkt hinter den Häusern, eine von vielen. Die Straßenbahnschienen zwischen dem alten Grauwacke Pflaster der Straße sind tückisch, besonders bei Regen. Enzo hat es hier schon zweimal gerissen mit seinem Bock.

Weiter geradeaus, noch hinter Schacht II, nur das Pförtner Haus steht noch an der Straße, da wo die eine Stadt aufhört richtig Stadt zu sein und die nächste noch nicht an die Straße drängt. Dort, hinter einem gammeligen Zaun, der nur durch das dichte Buschwerk, das ihn überwuchert, gehalten wird; dort beginnt der Weg nach Lappland. Du glaubst das nicht? Die Schilder an der Einfahrt: 'Betriebsgelände, Zutritt verboten', dienen nur zur Verschleierung. Die drei flachen Ziegelbauten, mit ihren längst glaslosen Fensterhöhlen und dem maroden Gebälk der Dächer, das sich kaum noch wehrt gegen die fortschreitende Entblößung von seinem Pfannenkleid; sie sehen nur aus wie eine verfallene Ziegelei.

Wer wirklich sehen kann, bemerkt sofort, dass es Bahnhof und Flughafen, Herberge und Ausrüstungsladen für Lappland-Reisende ist. Enzo und Elise jedenfalls wissen das. Sie sprechen nicht darüber, denn jeder muss den Weg selbst finden. Sie sind oft dort und nur gemeinsam. In der Herberge haben sie ihren Stammplatz. Der alte Kamin ist weit sichtbare Landmarke. Er weist den Reisenden den Weg zurück aus wegloser Weite. Man darf ihn nicht aus den Augen verlieren. Jeder Wanderer geht seinen eigenen Weg, folgt seinen eigenen Neigungen. Noch nie ist ihnen jemand begegnet auf ihren Reisen durch die Landschaften Lapplands. Jeder reist auf eigenes Risiko und jeder erlebt Lappland anders. Dir war nicht bekannt, dass Lappland gleich hinter Herne beginnt? Frag Enzo und Elise, sie werden es dir bestätigen.

"Scheiße, der Bock hat zurückgetreten vorhin. Ein geiles Gefühl, wenn der Schmerz nachläßt, sag ich dir."
Wortlos warf ihm Elise eine Dose Bier rüber. Sie würde den Bock überhaupt nicht angetreten kriegen.
"Wenn ich mal zu Kohle komme, krieg ich son feines Bike mit E-Starter, das sag ich dir."

Es regnete wieder aus diesem gleichmäßig grauen Himmel. Die Gruppe Weiden dort draußen, einen Steinwurf entfernt von ihrer Terrasse, reckte ihre entlaubten Äste wie Krakenarme, unbeweglich in stille Luft, als lauerten sie auf Nahrung. Was kümmerte sie der Regen. Enzo schaute in das prasselnde Holzfeuer, das zwischen ihnen brannte. Dort draußen, jenseits der Schuttberge und des Mülls, den wucherndes Brombeergestrüpp umzingelte und gnädig verdeckte, dort draußen begann Lappland. Aber nur mit Elise. Ohne Elise? Was wäre dort wohl ohne Elise? Es war ungemütlich geworden in ihrem luftigen Zimmer mit der großen Terrassenöffnung. Auf ihrem Lager aus zurückgelassenen Steinen und altem Stroh wurde es klamm in diesen späten Herbsttagen. Zeit das Winterzimmer in einem anderen Flügel der Herberge zu beziehen. Vom Dach her tropfte und tröpfelte es. Feine Rinnsale bahnten sich ihren Weg entlang an Mauern und Gebälk. Ping, pling, plitsch, plong, platsch ... die Melodie der Soloinstrumente. Das Prasseln des Regens auf dem Dach
der Rhythmus dazu.

Die zweite Bierdose landete hinter dem Steinberg, dort, wo das Gebäude seinen Widerstand gegen die nagenden Wetter bereits gänzlich aufgegeben hatte, wo sich Dachsteine, Ziegel und Gebälk der ihnen zugedachten Ordnung entzogen hatten. Asche zu Asche, zurück zum Chaos. Zerfall ist etwas Beständiges.

"Haste an die Blättchen gedacht?"
Elise nestelte nach dem Klümpchen Silberpapier in ihrer Jackentasche. Im Sonnenschein ist Lappland noch schöner. Nicht weit hinter den Brombeerbüschen, am einsamen, tiefblauen See, mit der Hütte am Waldrand und dem kleinen Anlegesteg, würde die Sonne scheinen, ganz sicher würde sie das. Nur noch ein paar Züge.
"Voll abgedreht der Woody gestern im 'Touch'. Mann, wie der die Tische abgeräumt hat, und bloß, weil die Tusse da am Kicker rumgezickt hat."
Enzo schüttelte den Kopf. "Der Woody raffts nicht."
Enzo hielt sich raus bei sowas, seit sie Lappland gefunden hatten. Elise sagte nichts dazu. Sie zog den Kopf tiefer zwischen ihren Jackenkragen. Der aufkommende Wind blies schützende Schleier ihrer langen Haare vor traurige Augen in einem irre kichernden Gesicht. Woody und Co würden nie nach Lappland finden, dachte Enzo. Die bleiben ihr Leben lang in dem Scheiß hier. Er grinste rüber zu Elise, die nicht aufhören konnte mit der Kicherei. Irgendwann würden sie nicht mehr zurückkommen aus Lappland; klare Sache das. Vorher würden sie Bahnhof, Herberge und Flughafen in die Luft sprengen. Voll geil wird das werden. Scheiß was auf Herne. Er mußte lachen. Genau, scheiß was auf Herne.

Bald - jetzt freute er sich erst mal auf ein kaltes Bier auf dem Steg, während er mit den Fischen redete. Wie immer würde er die nackten Beine im Wasser baumeln lassen, und Elise beim baden zusehen. Er findet, dass es einfach geil aussieht, wenn sie auf dem Rücken schwimmt und ihre Brustspitzen vom Wasser umspült werden. Und dann? Egal, an Herne dachte er jedenfalls nie, wenn sie unterwegs waren.
 
W

willow

Gast
Hallo itsme,

der Text hat mir wirklich sehr gefallen. Die Beschreibung der Umgebung ist gekonnt und übergangslos gleitet die Geschichte von Enzo und Elise dazwischen. Geht es weiter?

Liebe Grüße,

willow
 

gladiator

Mitglied
So wie...

...willow habe auch ich tatsächlich nichts zu bemängeln an dem Text. Flüssig geschrieben, schade, dass man so etwas nicht öfter in der LL lesen darf.

Gruß
Gladiator
 

itsme

Mitglied
Euch Beiden ...

...liebe willow und tapferer gladiator, Dank für die positiven Kommentare ... *sich verbeugt

Grüßlinge
itsme
 
G

GH

Gast
Lappland

Nach Herne brauch' ich schon nicht mehr nach der Lektüre deiner Geschichte, itsme: Ich kann's mir nicht nur plastisch vorstellen, ich kann es auch riechen, fühlen, schmecken ....

Hast du gut rüber gebracht, dicht, spannend und interessant geschrieben. Ist mir ein "sehr gut" wert.

Servus, Georg
 



 
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