Nicht mal sterben darf man, ohne dass sie reden

Kathrien

Mitglied
Von meiner Oma weiß ich, dass sich unsere Nachbarin vom Balkon gestürzt hat. Meine Oma hat das erzählt, als wäre es das Neueste über Prinz William oder einen anderen Adeligen. Als wäre es Klatsch und Tratsch. Traurig gekuckt hat Oma schon, aber nur bis sie von dem leckeren Kuchen erzählt hat, den es auf der Beerdigung gab. Mit Kirschen und Zuckerguss, hat sie gesagt und gegrinst. Es war der beste, den sie je auf einer Beerdigung gegessen hatte. Diese Nachbarin, die sich selbst umgebracht hatte, war eine der vielen Freundinnen meiner Oma, von denen sie fast immer nur gut redet. Außer, wenn sie etwas gehört hat. Ich habe sie gefragt, ob sie wisse, warum sie nicht mehr leben wollte. Ihre Antwort kam schnell, fast zu schnell, und sie war „Das hätte ich auch gemacht an ihrer Stelle.“ Das hat mich wütend gemacht. Auf meine Oma und ihr Urteil. Vielleicht denkt sie so ja auch über mich.
Als mein Vater heimkam und das hörte, fragte er meine Oma, wie die Frau denn aussieht. Es sei ihm vergeben, er hatte sie noch nie gesehen, schließlich arbeitete er den ganzen Tag. Wie sie jetzt aussieht, weiß ich nicht, sagte Oma, aber bestimmt nicht so gesund. Ich glaube, sie kam sich dabei komisch vor, ich fand es einfach nur geschmacklos. Ernsthaft, meine ich, sagte mein Vater und sie antwortete „Sie war groß und grauhaarig.“ Und sie hätte oft bei dem Seniorennachmittag der Kirche geholfen.
Sie war nichts Besonderes, sagte meine Oma, sah nach nichts aus. Ich finde meine Oma gemein.
Als sie ihren krönenden Schlusssatz von sich gab, ging ich in mein Zimmer und habe mir gedacht, zum Glück ist sie nicht bei meiner Beerdigung. Zum Glück überlebe ich sie. Denn ihr Schlusssatz war „Gut, dass sie gestorben ist. Schöner wäre sie eh nicht mehr geworden.“
Kathrien Viergutz, am 30. Okt. 2000
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Kathrin,

starker Tobak, aber gut erzählt. Mir scheint es echt aus dem Leben gegriffen zu sein. Hoffentlich ist deine Oma nicht wirklich so.

Gruß Ralph
 

Kathrien

Mitglied
Ahoj Ralph,
nein nein, keine Angst, sie ist nicht wirklich so. Zwar entspricht die Erzählung halb der Wahrheit, aber das ganz Herzlose ist nur erfunden. Meine Oma ist einfach zu lieb, als dass man geschmacklos und verfeindet über sie reden könnte. Und es fehlt die Pointe, wenn ich nur schreibe, was ich an ihr mag.
Danke für das Kompliment, sowas hört ein junger Künstler gern.
Gruß an alle, frohes Fest und so weiter.


(Noch was: Was ist TOBAK? Tut mir leid, bitte nur erklären, keine blödsinnigen Bemerkungen über ungebildete Leute, ich kann nicht alles wissen)
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Kati,
zunächst erst einmal möchte ich Dir für das Neue Jahr alles Gute, viel Glück und eine fleißige Tastatur wünschen.
Hier nun meine längst überfällige Erklärung zu dem Begriff TOBAK.
Bei dem Wort handelt es sich meines Wissens um nichts anderes als eine altertümliche Bezeichnung für Tabak. Als solche ist sie aber längst nicht mehr im Gebrauch. Dafür gibt es aber nach wie vor die Redewendungen
"anno Tobak" - was soviel wie "früher" oder "vor langer Zeit" heißt.
"starker Tobak" wird (meist nicht ganz ernst gemeint) für "schlimm", "toll", "unglaubwürdig" oder "unverschämt gelogen" benutzt, wobei das ganze allerdings mit einem unsichtbaren Augenzwinkern verbunden ist.
Habe ich das einigermaßen rübergebracht?

Gruß Ralph.
 

Andrea

Mitglied
9 von 10 Punkten

Eine überzeugende Geschichte mit plastischen Charakteren - und wirklich gut zu lesen. Das einzige, was mich ein kleines bißchen stört, ist, daß das Ich immer alles auf sich selbst bezieht. Das gibt der Wut über die Bösartigkeit und Verachtung einen unschönen Stich von verletzter Eitelkeit. Das Urteil wirkt statt subjektiv eine Spur zu sehr egozentrisch. Ich würde den Satz "Vielleicht denkt sie so ja auch über mich." einfach streichen - die Genugtuung, sie zu überleben, hätte dann m.E. noch eine Spur mehr Gewicht.
 



 
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