Nicht mehr

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Stern

Mitglied
Nicht mehr


Sie wacht auf. Es ist finster. Da sind Stimmen - Geräusche. Was?

Langsam tappt sie durch die Dunkelheit des Kinderzimmers zum Fenster. Draussen ist was los. Die rote Digitalanzeige des Radioweckers zeigt 3:48 Uhr.

Sie ertastet das Rollladenband und zieht. Blaulicht kreist durch die Nacht, wandert in kurzen Abständen rund durch's Zimmer. Ein Krankenwagen steht auf der Strasse. Viele Fußspuren führen die Treppen herauf durch den frischen Schnee.

Sie dreht sich um, geht zur Zimmertür. Unten schlägt die Haustür zu, ein dumpfer Knall.

Ohne zu denken legt sie die Hand auf die Türklinke, drückt, öffnet die Tür. Sie geht in's Treppenhaus, in das vom unteren Stockwerk her Licht fällt. Barfuss, im Schlafanzug steigt sie die knarrende Holztreppe hinunter.

Niemand scheint hier zu sein - ausser ihr. Es ist still.

Schnell läuft sie an's Küchenfenster und schaut hinaus. Männer schieben eine Trage in den Krankenwagen. Darauf liegt ein Mensch.

Sie hält den Atem an.

Als sie sich umdreht, sieht sie die Mutter am Küchentisch sitzen.

Sie ist doch nicht allein.

Die Mutter hat das Gesicht in den Händen verborgen.

"Mama - ?"

Die Mutter hebt den Kopf, sieht sie an.

"Schlaftabletten", sagt sie ausdruckslos, "er hat Schlaftabletten genommen und sich in die Badewanne gelegt."

Deswegen also. Er hat es wirklich getan.

"Und...?" fragt sie.

"Es sieht so aus, als hätte ich ihn rechtzeitig gefunden", sagt die Mutter, "sie sind zuversichtlich."

"Hm."

Beide schweigen. Sie steht da, ihre Arme hängen herunter, wieder hält sie die Luft an. Sie denkt nach. Es gibt nicht viel nachzudenken. Wie erleichtert atmet sie auf.

"Mama, wir müssen hier weg. Wir gehen hier beide kaputt. Wir müssen weg."

Sie sieht die Mutter an, ernst und verantwortungsbewußt.

"Mama, diesmal werde ich nicht mehr weinen. Bestimmt nicht."

Sagt sie.

Und sie weint wirklich nicht mehr.
 
Hallo Stern,

sehr aussparend geschrieben. Eine gut beleuchtete Szene, nichts Überflüssiges. Keine Hintergründe. Nur Ahnungen. Eine wirklich gut gelungene menschliche Tragödie an der Peripherie erzählt, ohne falsche Dramatik. Auch die Sprache ist schlicht, dafür natürlich auch ohne große Überraschungen, aber doch in Ordnung.

Mal eine winzige Anmerkung:
„Langsam tappt sie durch die Dunkelheit des Kinderzimmers zum Rollladengurt.“
Hier finde ich es von der Sprache und Sichtweise etwas zu speziell, dass sie zum „Rolladengurt“ tappt. Eher ist es doch die Richtung des Fensters, wo sie dann den Rolladengurt greift. Ich gehe ja auch normalerweise nicht auf eine Türklinke zu, sondern auf eine Tür, deren Klinke ich dann greife.

Auch die Dialoge sind schön sparsam. Und der Leser selbst tappt anfangs etwas im Dunkeln, da er nicht weiß, wer die Person ist, bis sie dann „Mama“ sagt.

Beste Grüße

Monfou
 

Stern

Mitglied
Lieber Monfou,

dank dir für deine Worte!

Die Sache mit dem Rollladengurt habe ich sofort verändert, mir war die Stelle schon vorher ein kleiner Dorn im Auge wegen der Wiederholung. Von der Seite, die du ansprichst, hatte ich es allerdings noch nicht gesehen. Erstaunlich. Deine Sichtweise, meine ich.

Die Sparsamkeit, wie du es nennst, scheint aber nicht viel Resonanz zu finden. Vielleicht sollte ich doch etwas weniger sparsam sein...

Liebe Grüsse,

Stern *
 

Gandl

Mitglied
Hi stern,

mir gefällt dieser sparsame Stil sehr.
Unaufgeregt, nüchtern, filmisch, klar ...
Ich hatte diesen Text schon vor ein paar Tagen gelesen – er ist mir seitdem immer wieder aufgeblitzt. Und das ist klasse.

Lieben Gruß
Gandl
 

Stern

Mitglied
Lieber Gandl,

herzlichen Dank auch dir für deine Rückmeldung. Es freut mich sehr, dass es mir gelungen ist, in dir eine Saite zum Schwingen zu bringen.

Das Ganze war einerseits ein Experiment, andererseits war ich mir über das Stilmittel doch nicht wirklich bewußt. Was die Form angeht bin ich -wie ich hier immer wieder feststelle- noch ziemlich naiv. Die Sache mit den Aussparungen ist mir jetzt klarer, vor allem durch eure Kommentare. Danke.

Liebe Grüße,

Stern *
 

Stern

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Sie wacht auf. Es ist finster. Da sind Stimmen - Geräusche. Was?

Langsam tappt sie durch die Dunkelheit des Kinderzimmers zum Fenster. Draussen ist was los. Die rote Digitalanzeige des Radioweckers zeigt 3:48 Uhr.

Sie ertastet das Rollladenband und zieht. Blaulicht kreist durch die Nacht, wandert in kurzen Abständen rund durch's Zimmer. Ein Krankenwagen steht auf der Strasse. Viele Fußspuren führen die Treppen herauf durch den frischen Schnee.

Sie dreht sich um, geht zur Zimmertür. Unten schlägt die Haustür zu, ein dumpfer Knall.

Ohne zu denken legt sie die Hand auf die Türklinke, drückt, öffnet die Tür. Sie geht in's Treppenhaus, in das vom unteren Stockwerk her Licht fällt. Barfuss, im Schlafanzug steigt sie die knarrende Holztreppe hinunter.

Niemand scheint hier zu sein - außer ihr. Es ist still.

Schnell läuft sie an's Küchenfenster und schaut hinaus. Männer schieben eine Trage in den Krankenwagen. Darauf liegt ein Mensch.

Sie hält den Atem an.

Als sie sich umdreht, sieht sie die Mutter am Küchentisch sitzen.

Sie ist doch nicht allein.

Die Mutter hat das Gesicht in den Händen verborgen.

"Mama - ?"

Die Mutter hebt den Kopf, sieht sie an.

"Schlaftabletten", sagt sie ausdruckslos, "er hat Schlaftabletten genommen und sich in die Badewanne gelegt."

Deswegen also. Er hat es wirklich getan.

"Und...?" fragt sie.

"Es sieht so aus, als hätte ich ihn rechtzeitig gefunden", sagt die Mutter, "sie sind zuversichtlich."

"Hm."

Beide schweigen. Sie steht da, ihre Arme hängen herunter, wieder hält sie die Luft an. Sie denkt nach. Es gibt nicht viel nachzudenken. Wie erleichtert atmet sie auf.

"Mama, wir müssen hier weg. Wir gehen hier beide kaputt. Wir müssen weg."

Sie sieht die Mutter an, ernst und verantwortungsbewußt.

"Mama, diesmal werde ich nicht mehr weinen. Bestimmt nicht."

Sagt sie.

Und sie weint wirklich nicht mehr.
 



 
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