Nicht von dieser Welt

jane-schubat

Mitglied
Nicht von dieser Welt

Ich überlegte, daß ich heute noch nichts getan hatte, was mir den Eindruck vermitteln könnte, daß doch noch so etwas wie Lebenskraft in mir schlummerte. Eine Freundin rief an, aber ich winkte nur müde ab. Ihre lebhaft pulsierenden Energien waren mir heute einfach zu viel. Der junge Mann von gegenüber fiel mir ein. Gestern, am Valentinstag hatte er abends an meiner Wohnungstür geklingelt und mir einen Strauß roter Rosen überreicht. Auf gute Nachbarschaft, und weil ich immer so freundlich wäre. Man kommt sich so ungeheuer alt vor, wenn man von jungen Männern Rosen geschenkt bekommt Natürlich habe ich mich nicht altjünferlich versteckt. „Ach, das wäre doch nicht nötig gewesen.“ Oder „Junger Mann, schenken sie die schönen Rosen doch lieber ihrer Freundin.“. Ich war schlicht und einfach nur deprimiert. Denn äußerlich betrachtet sah ich mal wieder nicht so aus, als könne ich irgendeinen Mann dazu überreden, mir Blumen zu schenken. Ich sollte mal wieder ins Fitneßcenter gehen,
dachte ich. Doch der Anblick der gertenschlanken und durchtrainierten Körper bildhübschwer junger Mädchen hätte mich sicher noch tiefer ins Elend gestürzt. Was tut man an einem solchen Tag wie diesem, grübelte ich. Wolkenverhangen und triest sah es auch in meiner Seele aus. Ins Cafe gehen, flüsterte es in mir. Geh doch mal wieder in ein hübsches kleines Cafe. Stopf dir ein Stück Schokoladentorte in den Mund und warte, ob nicht irgendsoein kleines Endorphin ganz urplötzlich zu dir sagt: „Ach , ist das nicht ein wunderschöner Tag heute.“ Eigentlich, das wußte ich, war es keine Lösung. Aber es war ein Ausweg. Also griff ich nach der Umhängetasche meiner Tochter – es mußte heute etwas betont Jugendliches sein- und wanderte los. Den Kram auf meinem Schreibtisch konnte ich auch noch abends erledigen.

Ich setzte mich in ein kleines Cafe gleich hinter der Hauptstraße. Da ich noch nicht allzulange hier wohnte, war es mir vorher noch nicht aufgefallen. An dem Tisch, an dem ich Platz genommen hatte, saß mir gegenüber ein etwa fünfzigjähriger Mann. Um den Hals hatte er einen Seidenschal geschlungen und sah eigentlich aus als hätte er sich hier zum vier-Uhr-Tee eingefunden. Doch statt einer Tasse Tee stand ein halbgefülltes Weinglas vor ihm auf dem Tisch. Und er erzählte vor sich hin, wie ich plötzlich bemerkte.Es ist der Wein, dachte ich, der ihn so gesprächig werden läßt. Und da ich etwas Ablenkung dringend nötig hatte, hörte ich ihm gespannt zu.
Er war von einer Intelligenz, die ich mochte. Seine Worte flossen ruhig und wenig akzentuiert dahin. Sie hatten nichts von dem Wirbel permanenter Geisstesblitze, durch die ich mich oft bei sehr intelligenten Menschen erschlagen fühle, wenn ich ihnen zuhöre. Was mich an ihm aber am meisten faszinierte, war die Tatsache, daß er offensichtlich zutiefst zufrieden schien mit seinem Monologisieren. Er war augenscheinlich an etwaigen Zuhörern überhaupt nicht interessiert. Und wenn mir der Wortsinn seiner Rede manchmal auch etwas verborgen blieb, denn oft führte er einen seiner Gedankengänge nicht wirklich zu Ende, fesselte er immer mehr meine Aufmerksamkeit. Doch dann urplötzlich, als sei er aus seiner Welt herausgerissen worden, sprang er auf und fuhr mit den Fingern wild gestikulierend durch die Luft. Man verstand nun kaum noch, was er sagte. Etwas hilflos blickte ich mich um und zu meiner Erleichterung eilte jetzt die Kellnerin herbei. Sie drückte ihn sanft auf seinen Stuhl zurück.
„Wenn du dich nicht benehmen kannst, Albert, rufe ich in der Klinik an.“
Klinik, dachte ich. Ach du meine Güte. Und dann verstand ich. Das also war Albert, von dem es im Viertel hieß, daß seine Bilder im letzten Jahr in einem Bildband erschienen waren und viele Betrachter begeistert hätten. Erstaunt sah ich ihn an. Ich hätte so gerne etwas mit ihm geplaudert, doch er hatte sich wohl wieder gänzlich in seine Welt zurückgezogen.Und dann monologisierte er weiter, erstaunlich klar und ungemein interessant.
 
M

MeeresblickZwei

Gast
Es wundert mich, niemand hat bisher auf deinen "Beitrag" geantwortet. Dabei verdient er es.
Ich werde nicht die üblichen Dinge sagen, zumindest versuche ich es.
Das wichtigste für mich: Deine Geschichte berührt mich.
Ich pfeife auf perfekte Gramatik.
 



 
Oben Unten