Nie mehr ohne Franziska

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itsme

Mitglied
An jedem Donnerstag Nachmittag, ich weiß nicht mehr wie viele Jahre schon, ist Andi hier draußen auf seinem Kahn und werkelt. Nur nicht, wenn der Donnerstag ein Feiertag ist. Dann ist es ihm zu unruhig im alten Werfthafen. Dann laufen dort zu viele Besucher herum. Früher habe ich Andi häufiger besucht. Es war eine Menge Arbeit, aus dem alten vergammelten Wrack eines ehemaligen Kanalschleppers, das er in Holland billig erstanden hatte, wieder ein ansehnliches und funktionstaugliches Schiff zu machen. Die Helligen, Werkstätten und Magazine an den hohen Uferböschungen dieses geschlängelten Wurmfortsatzes des Kohlenhafens, in dem sein Schiff schwimmt, sind längst verschwunden. Nichts erinnert mehr daran, dass hier vor Generationen Schiffe gebaut und ausgebessert wurden. Heute baut hier nur noch Andi.

Die verschnörkelten, dicht aneinander gedrängten Fassaden der alten Häuser oben, auf der anderen Seite der Uferstraße, lassen noch erahnen, dass es hier einmal sehr geschäftig zugegangen sein muss. Jetzt wirkt es, mit den alten Ahornbäumen, die beidseitig die Straße säumen, verschlafen. Wenn man wie Andi ist und graue Kälte durch den Hafen zieht, wird die Melancholie spürbar, die in der Luft liegt. Auch Schiffstypen wie Andis Kahn wurden hier gebaut. Wenn alte Schiffe eine Seele haben, dann werden sie sich hier wohl fühlen.

Anfangs hatte ich Andi bei der Arbeit geholfen. Fürs Grobe fehlten ihm manchmal ein paar Hände. Unter jeder Planke, die er entfernte, hinter jedem Blech, im Motorraum, in der Bilge, der Kajüte, den Verkleidungen des Steuerhauses, einfach überall fanden sich die Metastasen des Krebsgeschwüres, dessen erste Zellen bereits beim Stapellauf vor 120 Jahren, versteckt irgendwo an Bord, ihr zerstörerisches Werk begonnen hatten; Rost. Als ich zum ersten Mal an Bord war und mich umgeschaut hatte vom Bugsprit bis zur Heckschanz hielt ich es für ein schier aussichtsloses Unterfangen, dieses Wrack wiederzubeleben ... eigentlich. Ich sprach das nicht aus. Nicht weil ich höflich oder rücksichtsvoll sein wollte. Ich schaute Andi an. Wir kannten uns schon lange. Er war nie ein Mann großer Worte oder Gesten. Was ich sah, war so etwas wie Zufriedenheit in seinem Gesichtsausdruck. Obwohl er nicht blind war und den Umfang der notwendigen Arbeiten ganz nüchtern erkannte. Ich wusste nicht, was mich hinderte, meine Zweifel auszusprechen. Ich sah ihn an und zweifelte an meinen Zweifeln.

Damals saßen wir noch zwischen Müll und Trümmern am Tisch in der Kajüte. Andi drehte für uns Zigaretten während das Teewasser auf dem Campingkocher heiß wurde. Eine Petroleumlampe an der Decke, ein paar Kerzen auf dem Tisch, herunterrinnendes Kondenswasser an den Scheiben; eigentümliche Heimeligkeit in dem Chaos. Es roch nach Teer, verbranntem Öl, und wenn man die Tasse nahe genug unter die Nase hielt, auch nach Tee. Bedächtig, umständlich, erzählte Andi dann von seinen Fortschritten. Nie haben wir uns an Bord über etwas anderes unterhalten. Er zeigte mir den Fortgang der Arbeiten, und er dachte laut über das weitere Tun nach. Später half ich ihm nicht mehr. Ich wollte ihm die Arbeit nicht wegnehmen. Ich sah ihm Tee trinkend zu. Es roch jetzt mehr nach Holz und Farbe. Seine stille Zufriedenheit blieb. Meine anfänglichen Zweifel aber waren verflogen.

Ich kenne auch Andis Frau und seine Kinder. Sie ist ein ziemlich vorlautes Wesen, eine Ökoziege, die gerne auf ihrer Gartenbank zwischen Heckenrosen und Kräuterbeet sitzt ... und Andi auf den richtigen Weg gebracht hat. Sie weiß immer, welcher der richtige Weg ist. Damals, als Andi nach Berlin ging, lernte er sie kennen. Andi arbeitete halbtags als Apotheker und malte ansonsten. Es gefiel ihm in Kreuzberg. Damals fuhr er noch Motorrad. Nach ein paar Wochen war sie schwanger, und deshalb heiratete sie ihn. Andi mag Kinder. Er muss besoffen gewesen sein, als sie ihn bumste. Zumindest durfte er zurück nach Duisburg. Was sollte er auch noch in Berlin. Sie nahm dafür ein paar ihrer Freunde mit zum Ausgleich. Die wohnen seither auch in dem Haus, das Andi kaufen konnte, weil er seit der Rückkehr aus Berlin eine eigene Apotheke besitzt in Duisburg. Frau und Kinder verpflichten. Andi schweigt dazu. Harmoniebedürftigkeit ist eine schlimme Krankheit.

Mein letzter Besuch auf seinem Schiff liegt nur wenige Wochen zurück. Ich hatte eine Flasche Rotwein mitgebracht. Wir saßen in der Kajüte am Tisch, und Andi drehte uns Zigaretten. Draußen trübten dicke Stratuswolken das Tageslicht, wie meist, wenn ich ihn besuchte. So erinnere ich es zumindest. Oder gehört das zu dem Bild in meinem Kopf, das ich von diesem Arrangement "Schiff im alten Hafen nebst Kulisse" habe? Nach ein paar Zügen an seiner Zigarette und einem Schluck Wein aus der Flasche fragte mich Andi, ob ich mich an Franziska erinnere. Franziska sei jetzt geschieden. Andi würde so etwas nicht beiläufig fragen. Ich schaute ihn forschend an, fand aber keine Regung in seiner Miene. Ja, ich erinnerte mich an Franziska. Es hatte eine Beziehung zwischen ihm und Franziska gegeben, früher, lange bevor Andi nach Berlin ging. Es war eine eigenartige Beziehung aus der Sicht der Bekannten und Freunde. Sie hingen zusammen und sie bekämpften sich. Sie trafen sich mit Freunden und nahmen kaum Notiz voneinander. Sie saßen sich stundenlang schweigend gegenüber. Sie hielten sich weltvergessen in den Armen. Sie beschimpfte ihn, und sie weinte, wenn er sich abwandte. Er suchte sie tagelang, wenn sie mal wieder unauffindbar war. Sie machten sich atemlos. Andi war nie ein Schwätzer. Als sie ihn verließ, wurde er noch stiller.

Andi drehte die nächsten Zigaretten. Er hatte kein Wort mehr gesprochen. Ich schaute ihn immer noch an, und ich verstand. Nach vielen Besuchen auf seinem Kahn verstand ich endlich ... seine Flucht nach Berlin, den Kahn, das Fleckchen Hafen am Arsch der Welt, die freien Donnerstage, einfach alles, jetzt nur zu gut.
 
A

Arno1808

Gast
Dein Andi

Hallo itsme,

was soll man dem noch hinzufügen?

Du hast uns da eine Geschichte erzählt, die ich mit absoluter Sicherheit noch mehrmals lesen werde. (Ich habe sie mir ausgedruckt) ;-))

Nicht etwa, weil ich denke, etwas nicht verstanden zu haben.
Nein, klarer kann man ein Bild gar nicht vor sich haben, wie ich Andi vor mir sehe, den alten Hafen, selbst die Frau, von der er sich erst bumsen und dann heiraten ließ -
uff!

Kompliment!

Gruß

Arno
 

Zefira

Mitglied
Auch ich fand die Geschichte stimmungsvoll und bildhaft, obwohl sie mir nicht ganz vollständig erscheint - so als müsse da noch was kommen. Dürfen wir uns darauf freuen?

Jetzt mal eine ganz kuriose Sache, itsme:
"Die Helligen, Werkstätten und Magazine an den hohen Uferböschungen dieses geschlängelten Wurmfortsatzes des Kohlenhafens, in dem sein Schiff schwimmt, sind längst verschwunden."
Das ist ein ganz verwickelter Satz, eine geradezu spiralige Ortsbestimmung - "an den Uferböschungen des Wurmfortsatzes des Kohlenhafens" - ich folge konzentriert, versuche mir alles vorzustellen, es gelingt auch - und was dann? "... sind längst verschwunden." Rums.
Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen. Soll das so sein...?
Zefira
 

itsme

Mitglied
.......

@Arno
Ich danke dir für dein Lob. Du machst mich regelrecht verlegen.


@Zefira
Nein, die Geschichte ist vollständig. Es ist nur eine kleine Reflexion über Andis Welt. Für den Ich-Erzähler wird Andis Bastelei über Jahre mit seinen letzten Worten verständlich. Andi hat einen Fluchtpunkt an dem er mit sich, seiner früheren Welt ... und Franziska allein sein kann. Der Text steht bewusst unter "Erzählungen".

Dein "Rums" verstehe ich nicht, denn die nächsten beiden Sätze erklären, denke ich, genug. Dieser Absatz soll einen knappen Eindruck von der Atmosphäre der Örtlichkeit liefern, nicht wirklich beschreiben.

Grüßlinge
itsme
 

Zefira

Mitglied
Hab mich anscheinend unklar ausgedrückt.
Es geht mir darum: die Beschreibung ist, wie gesagt, gewunden, grammatikalisch kompliziert, und am Schluß steht dann da, daß das, was beschrieben wurde, nicht mehr da ist. Auf mich wirkt es ein wenig befremdlich, wenn ein so stimmungsvolles Bild aufgebaut wird - eine Landratte wie ich muß da das Gehirn schon etwas höher fahren -, und dann wird es gleichsam mit einem Hieb außer Kraft gesetzt.
Vermutlich hätte ich den Satz begonnen mit "Verschwunden sind...." oder "Früher war...."
Ich will nicht sagen, daß es mir nicht gefällt, aber es ist ein eigenartiger Effekt. Oder bin ich zu empfindlich?


Noch ein Nachtrag:
"Frau und Kinder verpflichten. Andi schweigt dazu. Harmoniebedürftigkeit ist eine schlimme Krankheit."

Eine Lebenstragödie in drei kurzen Sätzen. Mancher Schreiber könnte sich da eine Scheibe abschneiden. Nochmals Kompliment von mir.
 

itsme

Mitglied
......

Hmmm ... bedenkenswert Zefira. Es lag wohl daran, dass ich ein Modell aus einem Museum im Kopf hatte, dass stärker als die Realität war. Man kann wirklich nicht oft genug versuchen, sich in den Leser zu versetzen. Klar, ich hätte die Aussagen umdrehen können. Der Satz ist so gedreht, weil ich möglichst viel Bild mit wenigen Worten vermitteln-, aber den ruhigen Erzähl-Stil nicht durch Stakkato-Sätze beschleunigen wollte.

Auch dir Dank für dein Lob.

Grüßlinge
itsme
 
G

GH

Gast
Franziska

Gratuliere, itsme, deine Bildmalerei mit wenigen Worten ist dir hervorragend gelungen; wische mir gerade das Öl von den Händen, weil ich Andi geholfen habe ....

Servus, Georg
 
G

GH

Gast
Franziska

... noch nicht, itsme, muss ich mir wohl noch verdienen.

Servus, Georg
 
M

Monfou

Gast
Hallo itsme,

ein schönes Stück Prosa! Der Ton, das Skizzenhafte, ist m.E. gelungen. Viele Autoren – vor allem Anfänger – meinen oft, sie müssen mit Geschichten etwas Besonderes erzählen. Es muss nichts Besonderes, sondern nur besonders erzählt werden. Das, finde ich, ist dir geglückt. Sprachlich ist der Text sehr farbig. Hier und da würde ich ein Adjektiv herausnehmen. Man sollte auf die Fantasie des Lesenden vertrauen. Schreiben heißt ja nicht, be-schreiben, sondern die richtigen Saiten im Leser zum Klingen zu bringen bzw. die Assoziationen zu wecken. Kein Leser stellt sich eine Beschreibung vor. Er greift nur Schlüsselwörter auf, die er in den Kontext seine Erfahrungen und Anschauungen deutet – glaube ich.
Ich finde, der Text ist eine wahre Skizze mit viel Atmosphäre und ohne Handlungszwang.

Beste Grüße
Monfou


Hallo itsme, hier habe ich mal eine etwas entschlackte Fassung probiert, das ist nur eine Probe, kein Vorschlag:

Jeden Donnerstag Nachmittag - ich weiß nicht mehr wie viele Jahre schon - ist Andi hier draußen auf seinem Kahn und werkelt. Nur nicht, wenn der Donnerstag ein Feiertag ist. Dann ist es ihm im Werfthafen zu unruhig. Dann laufen dort zu viele Besucher herum. Früher habe ich Andi häufiger besucht. Es war eine Menge Arbeit, aus dem vergammelten Wrack eines Kanalschleppers, das er in Holland billig erstanden hatte, wieder ein ansehnliches Schiff zu machen. Die Helligen, Werkstätten und Magazine an den Uferböschungen des Kohlenhafens sind längst verschwunden. Nichts erinnert mehr daran, dass hier vor Generationen Schiffe gebaut und ausgebessert wurden. Heute baut hier nur noch Andi.
 

itsme

Mitglied
.....

Hallo Monfou

Deine Meinung ist mir viel wert, Dank dafür. Es ist mein Stil leise Geschichten zu erzählen, knappe Skizzen, unaufgeregt, aber nur auf den ersten Blick unbeteiligt. Mein Ideal ist, Geschichten so weit zu verdichten, dass die nächste Stufe schon Lyrik wäre.

Ich werde deine Anregungen sehr gründlich wägen.

Grüßlinge
itsme
 

Barks

Mitglied
Parallelen

Hallo Itsme,
womöglich erwartet man hier ja zu Recht "Kritiken" oder ein "ich hätte es vielleicht so geschrieben"... ich kann das nicht.
Was mir nicht gefällt, was sich in meinem Kopf nicht gut anfühlt, das lese ich nicht zu Ende und ich verliere darüber die Geduld - aber keine Worte.
Wenn mich Literatur aber interessiert und fesselt, der Fortgang einer Geschichte mich mitnimmt, die Worte und Bilder mich anfassen - dann lasse ich mich treiben und gebe mich hin. Dann aber kann ich nicht an einem solchen Werk rühren. Es steht für sich und ist nicht mehr wandelbar.
Natürlich kann ich darüberlesen mit dem Blick auf Änderungen, die mir sinnvoll erschienen, Fehler, die man radieren könnte, Kanten, die abzuschleifen wären: aber eben so lese ich nicht, wenn ich mitgerissen werde. Ich stehe einem solchen Werk mit Respekt, Bewunderung, Freude und Spaß gegenüber: so auch hier.
Die nur vordergründige Schlichtheit der Worte, die Bilder, selbst die Gerüche... ab der dritten Zeile bin ich ausschließlich Genießer.
Eine sehr gute und exzellent erzählte Geschichte.
Ich habe sie mir aufgehoben. Danke dafür.

Barks

P.S. ...womöglich hat sie einen besonderen Kick speziell für mich, weil sie eine sehr gravierende Phase meines eigenen Lebens fast punktgenau beschreibt...
 

itsme

Mitglied
.....

Danke für deine warmen Worte Barks. Es freut mich sehr, Kommentare zu lesen, die mir sagen, dass ich auf einem guten Weg bin.

Grüßlinge
itsme
 



 
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