Noch ohne Titel
© 2003 by KW <Buffy>
Das habe ich nicht gewollt. Mit Entsetzen starrte ich auf die Szene die sich mir bot. Ich hatte das Gefühl, dass mir das Blut in den Adern gefror und mein Herzschlag aussetzte.
Was genau mich erwarten würde, wusste ich selbst nicht. Doch dieser Anblick übertraf bei weitem alles, was sich meine begrenzte Fantasie vorgestellt hatte.
War es nur meine naive Neugier gewesen, die mich veranlasst hatte, nach besseren
Lebensbedingungen für uns Menschen zu forschen? War es mein unstillbarer
Wissensdurst? War es mein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit? Heute kann ich meine Motive nicht mehr klar und präzise nachvollziehen. Sie gingen höchstwahrscheinlich fließend ineinander über. Damals war ich aber felsenfest davon überzeugt gewesen, dass es möglich ist.
Als Karen May erblickte ich das Licht der Welt in einer Familie der Wissenschaft und Forschung. Ich erlebte meine Eltern überwiegend in weißen Kitteln und bei den
Mahlzeiten diskutierend. Als Kind litt ich unter der Gewissheit, das meine Eltern gar nicht registrierten, dass es mich gab. Später, als ich anfing zu verstehen, um welche
Themen diese Gespräche gingen, wurde meine Neugier geweckt und so versuchte ich
zunehmend der Thematik zu folgen. Ich stellte immer mehr Fragen oder forschte auf eigene Faust weiter. Als es um meine Berufsfindung ging, entschied ich mich für die
Psychologie und Psychiatrie. Ich machte meinen Dr. in diesen Fächern und da ich von zu Hause aus mit der Chemie und Biologie aufgewachsen war, fiel es mir nicht sonderlich schwer, auch in diesen Fächern meinen Dr. zu machen. Vielleicht auch nur, um meinen Eltern zu gefallen.
Meine Liebe jedoch galt der Psychiatrie. Mein Bestreben und Ziel auf diesem Gebiet, eine bessere Lebensqualität für diese kranken Menschen zu finden. Durch den
finanziellen Rückhalt meiner Familie konnte ich meine gewählten Berufe freischaffend ausüben. So wechselte ich ständig mein Arbeitsgebiet, wenn mir klar wurde, dass ich in meiner alten Position nichts mehr lernen konnte. Mein Leben gehörte der Forschung und meine persönlichen, zwischenmenschlichen Beziehungen, waren und blieben bisher immer nur kurze, dafür aber sehr intensive Episoden.
Bis man mir Dr. Peter Goodman vorstellte.
Damals, auf der Tagung über den Fortschritt der Genmanipulation. Als Neurologe forschte auf dem Gebiet wie sich das Gehirn eines genmanipulierten Menschen verhält, ob und wie es sich weiterentwickelt, eventuell zurückentwickelt, oder ob ein Stillstand eintritt.
Als mathematisches Genie konnte er seine Erkenntnisse auch in verständliche, nachvollziehbare Formeln umsetzen und man brauchte nicht unbedingt Mathematiker zu sein, um diese Formeln zu verstehen.
An seine Rede auf dieser Tagung kann ich mich noch gut erinnern. Ich hing wie gebannt an seinen Lippen. Seine Rede war kurz, leidenschaftslos, um nicht zu sagen, emotionslos. Die Erkenntnisse, die er gewonnen hatte, waren aber so tief greifend, dass es mir eiskalt den Rücken runterlief.
Den Rest der Tagung bekam ich nur halb mit. Meine Gedanken waren bei Peters Rede und meinen damaligen Patienten in der Psychiatrie der University in Berkeley, Californien.
Um meinen Patienten besser helfen zu können setzte auch ich genmanipulierte Arzneien ein. Sie wirkten schneller und effizienter. Doch seit den neuesten Erkenntnissen von Goodmans Forschungen befürchtete ich langfristig eine, nicht einkalkulierbare
genetisch bedingte, physische Veränderung meiner Patienten. Das Erbgut, die DNS des gesamten Lebens, war in ernster Gefahr. Ich stellte mir die Frage, ob es die Sache wert sei. Meine Schützlinge lebten in ihren Welten, zu denen ich keinen Zutritt hatte. Dabei ging es doch nur um die einfache Frage: „Was ist Wahrheit und was ist Lüge!“ Die Patienten waren überwiegend die schweren Fälle von Paranoia. Sie litten unter den unglaublichsten Wahnvorstellungen, waren abwechselnd unangemessen aggressiv, oder extrem lethargisch. Sie hatten ihre eigenen Wahrheiten und wurden fuchsteufelswild, wenn ich versuchte ihnen klarzumachen, dass ihre Sicht der Wahrheit, eine für ihre Umwelt nicht akzeptable sei.
Doch innerlich fragte ich mich, woher ich mir das Recht nahm ihre Wahrheiten, oder Wahrnehmungen, als falsch hinzustellen. Was berechtigte mich, ihnen meine Sicht der Wahrheit aufzuzwingen, nur um sie dann als geheilt entlassen zu können? Meine naive Fragestellung brachte mich schlicht in ungeheuere Gewissensbisse. Ich wusste, dass ich mich und meine Patienten belog, wenn ich ihnen versicherte, dass ich sie heilen könnte. Das Höchste, dass wir auf normalem Wege erreichen konnten war, ihre Erkrankung so weit abzumildern, dass die Patienten keine Gefahr mehr für sich und ihrer
unmittelbaren Umgebung waren. Ich wusste, dass diese Gefahren nicht nur von meinen Patienten kamen, sondern auch von den Personen ihres Umfeldes, die mit der, in ihren Augen verrückten, Wahrnehmung meiner Patienten nicht klar kamen.
So forschte ich nach einem Mittel, dass über die allgemein gültigen Wahrheiten hinausging und so den Kern der Wahrhaftigkeit, der einzig wahren Wahrheit, offenbaren sollte.
Gleichzeit suchte ich nach einer Möglichkeit die Gehirnzellen, die für das Phänomen der Angst und Angstneurosen verantwortlich waren, zu eliminieren. Da beides in den
Bereich der Psyche gehörten, wollte ich keine Arznei, das Einfluss auf das genetische Erbgut des Menschen hatte. So begann ich auf dem Gebiet der Homöopathie weiterzuforschen. Da meines Erachtens die bisher gewonnenen Erkenntnisse aus der Naturheilkunde noch nicht ausgeschöpft waren und ich vom reichen, noch unerforschten Potenzial in dieser Richtung überzeugt war.
Ich hoffte im Stillen damit auch dem Chaos auf unserem Planeten ein Ende zu setzen.
Verantwortlich und eindeutig verursacht durch die globale Lügenpyramide in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und nicht zuletzt in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Angst, Nährboden für die Manipulationen, Korruptionen und die zunehmenden
unkontrollierten Aggressionen der menschlichen Rasse, hatten Ausmaße angenommen, die ein friedliches Zusammenleben zunehmend erschwerten. Selbst bei den Tieren konnte man diese Entwicklung feststellen.
So fing es an.
Auf der Suche nach diesem Mittel hatte ich begonnen zu experimentieren, analysieren, Berechnungen aufzustellen, und meine ersten Versuchsergebnisse an Ratten getestet.
Ich hatte mich ausgiebig mich mit der Physik auseinander gesetzt, Einstein studiert, in den alten Mythen der Menschheitsgeschichte gegraben und mich verbissen durch die Evolutionstheorie gewurstelt.
Sehr schnell stellte ich fest, dass ich diese Aufgabe allein nicht bewältigen konnte. Ich brauchte einen hervorragenden Neurologen und Mathematiker. Meine Wahl fiel auf
Peter Goodman. Groß, hager, einsilbig, ein Einsiedlerkrebs mit Hornbrille und den
unmöglichsten Fliegen auf seinen stets strahlend weißen Hemden. Seit der Tagung hatte ich alle seine Veröffentlichungen mit großem Interesse verfolgt. Als ich ihm den
Vorschlag einer Zusammenarbeit machte, war er zuerst sehr zurückhaltend. Mir war bekannt, dass ein Einsiedlerkrebs nicht gern mit anderen eng zusammenarbeitet. Doch ich wollte nur ihn. So erzählte ich im von meinen Forschungen, meiner Zielsetzung und meinen Hoffnungen. Nicht nur für meine Patienten, sondern auch, dass dieses Projekt ein Segen für die Menschheit sein könnte. Er hörte mir schweigend zu. Schließlich räumte er ein, dass auch er bereits in dieser Richtung zu forschen begonnen hatte. Streng Geheim, versteht sich.
Wir waren uns einig. Jeder forschte für sich und nur die Ergebnisse wurden
untereinander ausgetauscht, gedacht als Orientierung und Unterstützung des anderen. Wir arbeiteten zuerst ein Jahr allein zusammen und wurden dann zwangsläufig vor die Wahl gestellt, entweder unsere Forschungen einzustellen, oder uns einen
vertrauenswürdigen Physiker zu suchen.
Als wir Susan begegneten dankten wir Gott, denn sie war nicht nur intelligent, sondern auch vermögend. Sie besaß ein hypermodernes, voll ausgestattetes Labor, dass sie im Untergeschoss ihres großen Landhauses eingerichtet hatte. Es lag so einsam und versteckt, dass wir keine neugierigen Nachbarn zu fürchten hatten.
Wir beschlossen gemeinsam, unseren gewohnten Lebensrhythmus nicht aufzugeben und auch sonstige auffällige Veränderungen zu vermeiden. Jeder forschte mit den
Ergebnissen der andern für sich weiter. Einmal pro Woche, trafen wir uns zum Essen in einem neutralen Restaurant und tauschten unsere Erfahrungen aus. Benötigten wir Susans Labor, fuhren wir nur an den Wochenenden und dann auch erst nach Einbruch der Dunkelheit zu Susans Landhaus.
Unsere ungebrochene Motivation war die Neugier. Von Vorteil für unser Projekt, unsere unterschiedlichen Ansichten, Auffassungen und Moralvorstellungen. Die ureigensten Eigenschaften die jeder von uns in diese Gemeinschaft mitbrachte, Susans Emotionalität, Peters Rationalität und sein Hang zum Perfektionismus und schließlich meine kindliche Naivität war die perfekte Mischung für unsere Forschung. Wir diskutierten, stritten, debattierten bis spät in die Nacht, oder die Restaurantbesitzer uns schließlich an die frische Luft setzten, weil wir einfach vergessen hatten, dass diese schließlich vom Verzehr ihrer Gäste lebten.
Die vielen Rückschläge, die wir zu verzeichnen hatten, die monatelangen
Stillstände in denen keine Erfolge sichtbar waren und selbst die unterschiedlich langen Unterbrechungen waren kein Hinderungsgrund. Wir kehrten immer wieder an unsere Forschungen, mit neuen Ideen und neuen Kräften, zurück. Auf der Suche nach der Wahrhaftigkeit.
Trotz der tiefen Verbundenheit zwischen uns, die weit über eine normale Freundschaft ging, ertappten wir uns immer wieder dabei, dass auch wir oft zu den Lügen, Notlügen, Ausflüchten, oder Ausreden griffen. Dass wir unter Ängsten litten und jeder von uns seine kleinen Neurosen hatte.
Unsere Besessenheit, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen und ein Dasein ohne Angst, nur in dem Bewusstsein der einen wahren Wahrheit, möglich zu machen, stand immer an erster Stelle. Mal mehr, aber auch mal weniger. Das es möglich war, stand für uns außer Frage. Es gab die eine Wahrhaftigkeit. Wir mussten sie nur finden und für unsere Zwecke nutzbar machen.
Wie so oft bei Forschungsarbeiten, kam uns eines Tages der Zufall zu Hilfe. Susan rief mich eines Tages an und bat um ein sofortiges Treffen. Ihre Stimme klang aufgeregt, ihre Sätze waren wirr und ich hatte das Gefühl, sie stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ich setzte Peter davon in Kenntnis. Gemeinsam beschlossen wir umgehend zu Susan zu fahren. Ihr Verhalten am Telefon war so ungewöhnlich, dass wir uns ernsthaft Sorgen machten. Sie musste uns gehört haben, denn als wir eintrafen, stand Susan vor ihrer geschlossenen Eingangstür. Peter, der mich abgeholt hatte, schaltete den Motor ab und wir starrten wie gebannt auf die Gestalt, die da in der Dämmerung stand. Umgeben von einer strahlenden Aura, die uns fasst blendete. Susan erschien uns größer, ihre Körperhaltung war eine völlig andere. Als wir ausstiegen und auf sie zugingen erkannte ich sofort, dass Susan geistig abwesend war. Bewegungslos stand sie da und starrte in eine imaginäre Welt, oder in eine Unendlichkeit, von deren Existenz nur sie Kenntnis hatte. Nachdem Peter und ich Susan vorsichtig und sehr behutsam in ihr Wohnzimmer gebracht hatten, legten wir sie auf ihre Couch. Ich holte noch eine Decke für sie. Peter machte den Kamin an. Wir schwiegen, aber die Blicke die wir untereinander austauschten sprachen Bände. Peter öffnete eine Flasche Wein, ich holte die Gläser und wir setzen uns zu Susan. Jetzt konnte ich in ihr strahlendes Gesicht sehen. Ihre geöffneten Augen waren klar, sie hatte also keine Drogen genommen. Ein wissendes lächeln ließ ihr Gesicht bedeutend jünger, weicher und staunend erscheinen. Überhaupt, ich wurde den Verdacht nicht los, dass ihr Verhalten mich an ein sattes und rundum zufriedenes Baby erinnerte. Woher kam dieser absurde Gedanke? Keine Ahnung, aber je länger ich Susan anschaute, desto mehr verstärkte sich dieser Eindruck. Da wir nicht wussten was mit Susan passiert war, beschlossen wir abzuwarten, und sie auf keinen Fall aus diesem Zustand zu holen. Das Risiko war mir zu hoch, denn nicht selten passierte es, dass sich solche Zustände verschlimmerten. So mussten wir uns in Geduld üben und abwarten was mit Susan weiter geschehen würde.
Peter, dem Geduld in Gesellschaft ein Fremdwort war, beschloss ins Labor zu gehen, um dort vielleicht Hinweise auf Susans Verhalten zu finden.
Ich blieb sitzen und dachte nach. Die Körpertemperatur von Susan war gesunken die Abwesenheit ließ auf eine Art Trance oder tiefe Hypnose schließen. Nicht auszuschließen war auch eine Schockreaktion. Das Telefonat erhärtete meinen Verdacht. Die wirren, zusammenhanglosen Sätze, die auf eine schwere Panikattacke hinwiesen. Aber was konnte die Ursache gewesen sein.
Ich trank etwas Wein, zündete mir eine Zigarette an, achtete auf Susans gleichmäßige
Atemzüge und warte auf Peters Rückkehr.
Als Peter endlich zurückkam erschien es mir, als seien Stunden vergangen. In der Hand hielt er eine Pinzette, in der eine kleine Glasscherbe war. Ich erkannte sofort, das es das Bruchstück eines Reagenzglases war. Peter flüsterte mir zu, dass Susan vermutlich unbeabsichtigt mit unserem Forschungsserum in Berührung gekommen war. Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn unsere Versuche hatten ergeben, dass dieses Mittel nicht tödlich war. So hieß es für uns, wir mussten weiter warten.
Es wurde bereits hell, als wir sahen, dass Susan die Augen schloss und in einen normalen Schlaf fiel. Jetzt bemerkten wir auch unsere Anspannung, unsere Verkrampfung. Die Müdigkeit ließ uns frösteln. Ich holte noch ein paar Wolldecken.
Frischer Kaffeeduft weckte uns. Wir hörten Susan in der Küche hantieren, sie hatte das Radio an und ihr leises mitsummen verriet, dass sie keinerlei Nachwirkungen zu spüren schien. Ich weckte Peter. Als wir die Küche betraten, war der Frühstückstisch bereits gedeckt. Appetit hatten wir vor lauter Neugier nicht, aber Kaffee war genau das Richtige.
Susan erzählte uns, wie erstaunt sie über unsere Anwesenheit gewesen war. Sie wollte den Grund wissen. Ich informierte sie über ihren Anruf bei mir, ihre für uns ungewöhnliche Verfassung, in der sie sich gestern befunden hatte. Wir bemerkten Susan Erstaunen und ihre Nachdenklichkeit. Peter fragte sie direkt, ob sie im Labor mit dem Forschungsergebnis in Berührung gekommen war, denn er hatte das zerbrochene Reagenzglas gesehen. Er wollte wissen, was vorgefallen war. Als Susan begann zu erzählen, hörten wir ihr fassungslos zu.
Susan gestand uns, dass sie Stunden im Labor verbracht hatte und dort das Verhalten der Ratten aufmerksam studierte. Sie hatte bemerkt, dass diese Tiere an manchen Tagen sehr zutraulich, ruhig und keine Anzeichen von Ängsten zeigten. Im Gegenteil, die Ratten schienen glücklich zu sein. An solchen Tagen hatte Susan sich eine kleine Menge des Serums selbst injiziert. Sie hatte für sich beschlossen, als menschliche Testperson zu fungieren, da die Ratten ihr ja nicht sagen konnten, was sie in diesen Zuständen gerade dachten oder fühlten. Die Heimlichkeit ihrerseits wäre zwingend gewesen, da sie wusste, dass wir ihr das niemals gestattet hätten. Das unsere Forschungen sich auf dem richtigen Weg befanden, zeigte sich an den Resultaten. Sie hatte die Zustände der Angst und Sorglosigkeit am eigenen Leibe erfahren. Es wäre ein unbeschreibliches Gefühl gewesen.
Bis gestern.
Ihre Ungeduld war der Auslöser gewesen, die tausendfache Verdünnung unseres Serums, die wir den Ratten verabreichten, eigenmächtig zu umgehen und hatte sich ein paar Tropfen unverdünnt injiziert. Kurz darauf wurde sie von einer Panikattacke heimgesucht. Sie hatte Todesängste. Wahrscheinlich der Moment, wo sie angerufen hatte. Susan erinnerte sich noch daran, das dieser Zustand nicht lange angehalten hatte. Sie sei plötzlich ganz ruhig geworden. Leicht und seltsamerweise ein Gefühl von Schwerelosigkeit hatte sich eingestellt und der Wunsch zu fliegen. Das letzte an dass sie sich erinnerte war, dass sie an die frische Luft wollte und dann in einen Bewusstseinszustand trat, wo es keine Dualität mehr gab. Es war, als ob plötzlich das Denken aufhörte und sie in ein sprachloses Staunen versetzt wurde. Sie hatte plötzlich keine Fragen mehr, suchte auch keine Antworten. Alles erschien ihr in dem Zustand, des Hier und Jetzt, absolut richtig. Was dann geschah, daran konnte Susan sich nicht mehr erinnern.
Jetzt fühlte sie sich einfach nur unbeschreiblich glücklich. Sie trank von ihrem Kaffee und schaute uns prüfend an.
Peter und ich hatten Susans Bericht schweigend verfolgt. Wir konnten es nicht glauben. Hatten wir unser Ziel erreicht? Hatten wir wirklich ein Serum gefunden, dass die Menschheit glücklich machen würde? Konnte unser Serum tatsächlich Hass, Neid, Lüge, Habgier, Machtstreben, und vor allem die Angst des Individuums restlos aufheben?
Doch als wir Susans strahlende Gestalt sahen, dieses grenzenlos glückliche Gesicht betrachteten wussten wir, es war uns gelungen.
Unsere Arbeit war beendet und die Formel unseres Elixiers lag sicher im Safe der National Bank. Da wir getrennt geforscht, und nur unsere ureigensten Ergebnisse
weitergegeben hatten, befanden wir uns auch nicht in unmittelbarer Gefahr. Keiner von uns konnte allein diese Formel für sich herstellen.
Jetzt waren wir uns einig, dass wir unser Serum an Menschen testen sollten. Was wir brauchten waren menschliche Versuchspersonen. Eine Zielgruppe schwebte mir bereits vor. Mein derzeitiger Nebenjob, freiberufliche Psychiaterin im Sicherheitstrakt der Frauenvollzugsanstalt in San Franzisko.
Nach reiflicher Überlegungen kamen wir zu dem Schluss, das Frauengefängnis einfach, Projekt Nr. 01FG, zu nennen.
Als ich an jenem Tag das FG betrat, befand sich in meiner Handtasche eine kleine braune Flasche mit unserer Erfindung, dem Elixier der Wahrhaftigkeit. Da ich für die Medikamentenzuteilung der Insassen zuständig war, fiel es auch nicht bei der üblichen Personenkontrolle auf. Viele der neuen Arzneien wurden so getestet. Man verabreichte sie einfach und protokollierte erst danach sorgfältig, die beobachteten Reaktionen an den Versuchspersonen. Obwohl ich wusste, dass die Verabreichung dieses Elixiers, keine Todesfälle nach sich ziehen würde, war ich doch sehr aufgeregt. Peter hatte eine Gewichts-Durchschnittsberechnung der Insassen genommen. Von einer Ratte praktisch eine Hochrechnung auf den Menschen erstellt und die auf die Masse umgelegt. Susans eigenmächtige Handlung, heimlich Versuchskaninchen zu spielen, hatte zur Folge, dass wir weiter an der Verabreichungsform unseres Serums forschten.
Der Inhalt der Flasche, die er mir mitgegeben hatte, würde ausreichend sein. Eine Überdosierung war nicht zu erwarten. Eher das Gegenteil.
Es war kurz vor dem Mittagessen, als ich in meinem kleinen, provisorisch eingerichtetem Behandlungsraum den großen Wasserspender vorbereitete. Jeder der Insassinnen musste seine Medikamente in meinem Beisein einnehmen und mit einem Schluck Wasser, dass ich persönlich reichte, herunterspülen. Ein Kinderspiel sozusagen. Doch plötzlich packten mich die Gewissensbisse. Schließlich hatte ich einen Schwur geleistet. Alles nur zum Wohle meiner Patienten, in meiner Macht stehende, zu tun.
Jetzt stand ich hier mit einem Elixier, dessen Wohl nicht abzusehen war. Ich rief mir die Bilder der Versuchsratten und Susans Aussage ins Gedächtnis. Lange hatte ich mit dem Gedanken gespielt, dieses Elixier selbst einzunehmen. Aber wer sollte dann die Ergebnisse der Beobachtungen protokollieren? Als ich den Medikamentenwagen mit dem Wasserbehälter in den Speisesaal schob, dachte ich zwanghaft an Susans Gesicht. Ich hatte mich entschieden. Das Serum würde ich den fünfundzwanzig gefährlichsten Insassinnen der Haftanstalt verabreichen. Sozusagen als neue Therapieunterstützung. Es entsprach der Wahrheit, da dieses Mittel nur Einfluss auf die Psyche nahm. Wir hatten eine zeitliche Kalkulation der Wirkung des Elixiers aufgestellt. In zwanzig Minuten setzte die Wirkung ein. Aufhebung, durch Abbau im Organismus, in ca. vier Stunden. Immerhin wollten wir unsere Testpersonen behutsam an dieses Mittel heranführen.
Für mich wurde die Wartezeit zur körperlichen Qual. Die längsten zwanzig Minuten. Nach der Verabreichung ging ich durch die Tischreihen und sprach mit den Insassen über ihre Probleme, so wie ich es immer tat. Ich richtete es so ein, dass ich die Testpersonen immer im Auge behielt. Plötzlich sprangen einige panikartig auf und gingen aufeinander los. Es kam zu einem brutalen Handgemenge. Unkontrolliert, voller Hass und Zorn. Andere suchten Schutz in den Ecken des Saales. Sie rollten sich wie Embryos zusammen und wimmerten wie Babys. Einige standen wie zu einer Salzsäule erstarrt. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihre Münder wie zum tonlosen Schrei geöffnet. Hilflos starrte ich auf die Szene. Ich wollte nicht glauben, was ich sah.
In den Gesichtern der Testpersonen vollzog sich schlagartig der Gesichtsausdruck. Waren diese Züge eben noch von Hass, Angst, Aggression geprägt, wurden die Züge jetzt ungläubig, weich, fast durchsichtig. Ich konnte die Auras erkennen, die wie Heiligenscheine ihre Gestalt umhüllten. Ohnmächtig musste ich zusehen, wie Eine nach der Anderen langsam, wie in Zeitlupe in sich zusammenfiel.
Ich konnte nur noch deren Tod, hervorgerufen durch einen extremen Schock, diagnostizieren.
Nein, das habe ich nicht gewollt.
© 2003 by KW <Buffy>
Das habe ich nicht gewollt. Mit Entsetzen starrte ich auf die Szene die sich mir bot. Ich hatte das Gefühl, dass mir das Blut in den Adern gefror und mein Herzschlag aussetzte.
Was genau mich erwarten würde, wusste ich selbst nicht. Doch dieser Anblick übertraf bei weitem alles, was sich meine begrenzte Fantasie vorgestellt hatte.
War es nur meine naive Neugier gewesen, die mich veranlasst hatte, nach besseren
Lebensbedingungen für uns Menschen zu forschen? War es mein unstillbarer
Wissensdurst? War es mein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit? Heute kann ich meine Motive nicht mehr klar und präzise nachvollziehen. Sie gingen höchstwahrscheinlich fließend ineinander über. Damals war ich aber felsenfest davon überzeugt gewesen, dass es möglich ist.
Als Karen May erblickte ich das Licht der Welt in einer Familie der Wissenschaft und Forschung. Ich erlebte meine Eltern überwiegend in weißen Kitteln und bei den
Mahlzeiten diskutierend. Als Kind litt ich unter der Gewissheit, das meine Eltern gar nicht registrierten, dass es mich gab. Später, als ich anfing zu verstehen, um welche
Themen diese Gespräche gingen, wurde meine Neugier geweckt und so versuchte ich
zunehmend der Thematik zu folgen. Ich stellte immer mehr Fragen oder forschte auf eigene Faust weiter. Als es um meine Berufsfindung ging, entschied ich mich für die
Psychologie und Psychiatrie. Ich machte meinen Dr. in diesen Fächern und da ich von zu Hause aus mit der Chemie und Biologie aufgewachsen war, fiel es mir nicht sonderlich schwer, auch in diesen Fächern meinen Dr. zu machen. Vielleicht auch nur, um meinen Eltern zu gefallen.
Meine Liebe jedoch galt der Psychiatrie. Mein Bestreben und Ziel auf diesem Gebiet, eine bessere Lebensqualität für diese kranken Menschen zu finden. Durch den
finanziellen Rückhalt meiner Familie konnte ich meine gewählten Berufe freischaffend ausüben. So wechselte ich ständig mein Arbeitsgebiet, wenn mir klar wurde, dass ich in meiner alten Position nichts mehr lernen konnte. Mein Leben gehörte der Forschung und meine persönlichen, zwischenmenschlichen Beziehungen, waren und blieben bisher immer nur kurze, dafür aber sehr intensive Episoden.
Bis man mir Dr. Peter Goodman vorstellte.
Damals, auf der Tagung über den Fortschritt der Genmanipulation. Als Neurologe forschte auf dem Gebiet wie sich das Gehirn eines genmanipulierten Menschen verhält, ob und wie es sich weiterentwickelt, eventuell zurückentwickelt, oder ob ein Stillstand eintritt.
Als mathematisches Genie konnte er seine Erkenntnisse auch in verständliche, nachvollziehbare Formeln umsetzen und man brauchte nicht unbedingt Mathematiker zu sein, um diese Formeln zu verstehen.
An seine Rede auf dieser Tagung kann ich mich noch gut erinnern. Ich hing wie gebannt an seinen Lippen. Seine Rede war kurz, leidenschaftslos, um nicht zu sagen, emotionslos. Die Erkenntnisse, die er gewonnen hatte, waren aber so tief greifend, dass es mir eiskalt den Rücken runterlief.
Den Rest der Tagung bekam ich nur halb mit. Meine Gedanken waren bei Peters Rede und meinen damaligen Patienten in der Psychiatrie der University in Berkeley, Californien.
Um meinen Patienten besser helfen zu können setzte auch ich genmanipulierte Arzneien ein. Sie wirkten schneller und effizienter. Doch seit den neuesten Erkenntnissen von Goodmans Forschungen befürchtete ich langfristig eine, nicht einkalkulierbare
genetisch bedingte, physische Veränderung meiner Patienten. Das Erbgut, die DNS des gesamten Lebens, war in ernster Gefahr. Ich stellte mir die Frage, ob es die Sache wert sei. Meine Schützlinge lebten in ihren Welten, zu denen ich keinen Zutritt hatte. Dabei ging es doch nur um die einfache Frage: „Was ist Wahrheit und was ist Lüge!“ Die Patienten waren überwiegend die schweren Fälle von Paranoia. Sie litten unter den unglaublichsten Wahnvorstellungen, waren abwechselnd unangemessen aggressiv, oder extrem lethargisch. Sie hatten ihre eigenen Wahrheiten und wurden fuchsteufelswild, wenn ich versuchte ihnen klarzumachen, dass ihre Sicht der Wahrheit, eine für ihre Umwelt nicht akzeptable sei.
Doch innerlich fragte ich mich, woher ich mir das Recht nahm ihre Wahrheiten, oder Wahrnehmungen, als falsch hinzustellen. Was berechtigte mich, ihnen meine Sicht der Wahrheit aufzuzwingen, nur um sie dann als geheilt entlassen zu können? Meine naive Fragestellung brachte mich schlicht in ungeheuere Gewissensbisse. Ich wusste, dass ich mich und meine Patienten belog, wenn ich ihnen versicherte, dass ich sie heilen könnte. Das Höchste, dass wir auf normalem Wege erreichen konnten war, ihre Erkrankung so weit abzumildern, dass die Patienten keine Gefahr mehr für sich und ihrer
unmittelbaren Umgebung waren. Ich wusste, dass diese Gefahren nicht nur von meinen Patienten kamen, sondern auch von den Personen ihres Umfeldes, die mit der, in ihren Augen verrückten, Wahrnehmung meiner Patienten nicht klar kamen.
So forschte ich nach einem Mittel, dass über die allgemein gültigen Wahrheiten hinausging und so den Kern der Wahrhaftigkeit, der einzig wahren Wahrheit, offenbaren sollte.
Gleichzeit suchte ich nach einer Möglichkeit die Gehirnzellen, die für das Phänomen der Angst und Angstneurosen verantwortlich waren, zu eliminieren. Da beides in den
Bereich der Psyche gehörten, wollte ich keine Arznei, das Einfluss auf das genetische Erbgut des Menschen hatte. So begann ich auf dem Gebiet der Homöopathie weiterzuforschen. Da meines Erachtens die bisher gewonnenen Erkenntnisse aus der Naturheilkunde noch nicht ausgeschöpft waren und ich vom reichen, noch unerforschten Potenzial in dieser Richtung überzeugt war.
Ich hoffte im Stillen damit auch dem Chaos auf unserem Planeten ein Ende zu setzen.
Verantwortlich und eindeutig verursacht durch die globale Lügenpyramide in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und nicht zuletzt in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Angst, Nährboden für die Manipulationen, Korruptionen und die zunehmenden
unkontrollierten Aggressionen der menschlichen Rasse, hatten Ausmaße angenommen, die ein friedliches Zusammenleben zunehmend erschwerten. Selbst bei den Tieren konnte man diese Entwicklung feststellen.
So fing es an.
Auf der Suche nach diesem Mittel hatte ich begonnen zu experimentieren, analysieren, Berechnungen aufzustellen, und meine ersten Versuchsergebnisse an Ratten getestet.
Ich hatte mich ausgiebig mich mit der Physik auseinander gesetzt, Einstein studiert, in den alten Mythen der Menschheitsgeschichte gegraben und mich verbissen durch die Evolutionstheorie gewurstelt.
Sehr schnell stellte ich fest, dass ich diese Aufgabe allein nicht bewältigen konnte. Ich brauchte einen hervorragenden Neurologen und Mathematiker. Meine Wahl fiel auf
Peter Goodman. Groß, hager, einsilbig, ein Einsiedlerkrebs mit Hornbrille und den
unmöglichsten Fliegen auf seinen stets strahlend weißen Hemden. Seit der Tagung hatte ich alle seine Veröffentlichungen mit großem Interesse verfolgt. Als ich ihm den
Vorschlag einer Zusammenarbeit machte, war er zuerst sehr zurückhaltend. Mir war bekannt, dass ein Einsiedlerkrebs nicht gern mit anderen eng zusammenarbeitet. Doch ich wollte nur ihn. So erzählte ich im von meinen Forschungen, meiner Zielsetzung und meinen Hoffnungen. Nicht nur für meine Patienten, sondern auch, dass dieses Projekt ein Segen für die Menschheit sein könnte. Er hörte mir schweigend zu. Schließlich räumte er ein, dass auch er bereits in dieser Richtung zu forschen begonnen hatte. Streng Geheim, versteht sich.
Wir waren uns einig. Jeder forschte für sich und nur die Ergebnisse wurden
untereinander ausgetauscht, gedacht als Orientierung und Unterstützung des anderen. Wir arbeiteten zuerst ein Jahr allein zusammen und wurden dann zwangsläufig vor die Wahl gestellt, entweder unsere Forschungen einzustellen, oder uns einen
vertrauenswürdigen Physiker zu suchen.
Als wir Susan begegneten dankten wir Gott, denn sie war nicht nur intelligent, sondern auch vermögend. Sie besaß ein hypermodernes, voll ausgestattetes Labor, dass sie im Untergeschoss ihres großen Landhauses eingerichtet hatte. Es lag so einsam und versteckt, dass wir keine neugierigen Nachbarn zu fürchten hatten.
Wir beschlossen gemeinsam, unseren gewohnten Lebensrhythmus nicht aufzugeben und auch sonstige auffällige Veränderungen zu vermeiden. Jeder forschte mit den
Ergebnissen der andern für sich weiter. Einmal pro Woche, trafen wir uns zum Essen in einem neutralen Restaurant und tauschten unsere Erfahrungen aus. Benötigten wir Susans Labor, fuhren wir nur an den Wochenenden und dann auch erst nach Einbruch der Dunkelheit zu Susans Landhaus.
Unsere ungebrochene Motivation war die Neugier. Von Vorteil für unser Projekt, unsere unterschiedlichen Ansichten, Auffassungen und Moralvorstellungen. Die ureigensten Eigenschaften die jeder von uns in diese Gemeinschaft mitbrachte, Susans Emotionalität, Peters Rationalität und sein Hang zum Perfektionismus und schließlich meine kindliche Naivität war die perfekte Mischung für unsere Forschung. Wir diskutierten, stritten, debattierten bis spät in die Nacht, oder die Restaurantbesitzer uns schließlich an die frische Luft setzten, weil wir einfach vergessen hatten, dass diese schließlich vom Verzehr ihrer Gäste lebten.
Die vielen Rückschläge, die wir zu verzeichnen hatten, die monatelangen
Stillstände in denen keine Erfolge sichtbar waren und selbst die unterschiedlich langen Unterbrechungen waren kein Hinderungsgrund. Wir kehrten immer wieder an unsere Forschungen, mit neuen Ideen und neuen Kräften, zurück. Auf der Suche nach der Wahrhaftigkeit.
Trotz der tiefen Verbundenheit zwischen uns, die weit über eine normale Freundschaft ging, ertappten wir uns immer wieder dabei, dass auch wir oft zu den Lügen, Notlügen, Ausflüchten, oder Ausreden griffen. Dass wir unter Ängsten litten und jeder von uns seine kleinen Neurosen hatte.
Unsere Besessenheit, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen und ein Dasein ohne Angst, nur in dem Bewusstsein der einen wahren Wahrheit, möglich zu machen, stand immer an erster Stelle. Mal mehr, aber auch mal weniger. Das es möglich war, stand für uns außer Frage. Es gab die eine Wahrhaftigkeit. Wir mussten sie nur finden und für unsere Zwecke nutzbar machen.
Wie so oft bei Forschungsarbeiten, kam uns eines Tages der Zufall zu Hilfe. Susan rief mich eines Tages an und bat um ein sofortiges Treffen. Ihre Stimme klang aufgeregt, ihre Sätze waren wirr und ich hatte das Gefühl, sie stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ich setzte Peter davon in Kenntnis. Gemeinsam beschlossen wir umgehend zu Susan zu fahren. Ihr Verhalten am Telefon war so ungewöhnlich, dass wir uns ernsthaft Sorgen machten. Sie musste uns gehört haben, denn als wir eintrafen, stand Susan vor ihrer geschlossenen Eingangstür. Peter, der mich abgeholt hatte, schaltete den Motor ab und wir starrten wie gebannt auf die Gestalt, die da in der Dämmerung stand. Umgeben von einer strahlenden Aura, die uns fasst blendete. Susan erschien uns größer, ihre Körperhaltung war eine völlig andere. Als wir ausstiegen und auf sie zugingen erkannte ich sofort, dass Susan geistig abwesend war. Bewegungslos stand sie da und starrte in eine imaginäre Welt, oder in eine Unendlichkeit, von deren Existenz nur sie Kenntnis hatte. Nachdem Peter und ich Susan vorsichtig und sehr behutsam in ihr Wohnzimmer gebracht hatten, legten wir sie auf ihre Couch. Ich holte noch eine Decke für sie. Peter machte den Kamin an. Wir schwiegen, aber die Blicke die wir untereinander austauschten sprachen Bände. Peter öffnete eine Flasche Wein, ich holte die Gläser und wir setzen uns zu Susan. Jetzt konnte ich in ihr strahlendes Gesicht sehen. Ihre geöffneten Augen waren klar, sie hatte also keine Drogen genommen. Ein wissendes lächeln ließ ihr Gesicht bedeutend jünger, weicher und staunend erscheinen. Überhaupt, ich wurde den Verdacht nicht los, dass ihr Verhalten mich an ein sattes und rundum zufriedenes Baby erinnerte. Woher kam dieser absurde Gedanke? Keine Ahnung, aber je länger ich Susan anschaute, desto mehr verstärkte sich dieser Eindruck. Da wir nicht wussten was mit Susan passiert war, beschlossen wir abzuwarten, und sie auf keinen Fall aus diesem Zustand zu holen. Das Risiko war mir zu hoch, denn nicht selten passierte es, dass sich solche Zustände verschlimmerten. So mussten wir uns in Geduld üben und abwarten was mit Susan weiter geschehen würde.
Peter, dem Geduld in Gesellschaft ein Fremdwort war, beschloss ins Labor zu gehen, um dort vielleicht Hinweise auf Susans Verhalten zu finden.
Ich blieb sitzen und dachte nach. Die Körpertemperatur von Susan war gesunken die Abwesenheit ließ auf eine Art Trance oder tiefe Hypnose schließen. Nicht auszuschließen war auch eine Schockreaktion. Das Telefonat erhärtete meinen Verdacht. Die wirren, zusammenhanglosen Sätze, die auf eine schwere Panikattacke hinwiesen. Aber was konnte die Ursache gewesen sein.
Ich trank etwas Wein, zündete mir eine Zigarette an, achtete auf Susans gleichmäßige
Atemzüge und warte auf Peters Rückkehr.
Als Peter endlich zurückkam erschien es mir, als seien Stunden vergangen. In der Hand hielt er eine Pinzette, in der eine kleine Glasscherbe war. Ich erkannte sofort, das es das Bruchstück eines Reagenzglases war. Peter flüsterte mir zu, dass Susan vermutlich unbeabsichtigt mit unserem Forschungsserum in Berührung gekommen war. Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn unsere Versuche hatten ergeben, dass dieses Mittel nicht tödlich war. So hieß es für uns, wir mussten weiter warten.
Es wurde bereits hell, als wir sahen, dass Susan die Augen schloss und in einen normalen Schlaf fiel. Jetzt bemerkten wir auch unsere Anspannung, unsere Verkrampfung. Die Müdigkeit ließ uns frösteln. Ich holte noch ein paar Wolldecken.
Frischer Kaffeeduft weckte uns. Wir hörten Susan in der Küche hantieren, sie hatte das Radio an und ihr leises mitsummen verriet, dass sie keinerlei Nachwirkungen zu spüren schien. Ich weckte Peter. Als wir die Küche betraten, war der Frühstückstisch bereits gedeckt. Appetit hatten wir vor lauter Neugier nicht, aber Kaffee war genau das Richtige.
Susan erzählte uns, wie erstaunt sie über unsere Anwesenheit gewesen war. Sie wollte den Grund wissen. Ich informierte sie über ihren Anruf bei mir, ihre für uns ungewöhnliche Verfassung, in der sie sich gestern befunden hatte. Wir bemerkten Susan Erstaunen und ihre Nachdenklichkeit. Peter fragte sie direkt, ob sie im Labor mit dem Forschungsergebnis in Berührung gekommen war, denn er hatte das zerbrochene Reagenzglas gesehen. Er wollte wissen, was vorgefallen war. Als Susan begann zu erzählen, hörten wir ihr fassungslos zu.
Susan gestand uns, dass sie Stunden im Labor verbracht hatte und dort das Verhalten der Ratten aufmerksam studierte. Sie hatte bemerkt, dass diese Tiere an manchen Tagen sehr zutraulich, ruhig und keine Anzeichen von Ängsten zeigten. Im Gegenteil, die Ratten schienen glücklich zu sein. An solchen Tagen hatte Susan sich eine kleine Menge des Serums selbst injiziert. Sie hatte für sich beschlossen, als menschliche Testperson zu fungieren, da die Ratten ihr ja nicht sagen konnten, was sie in diesen Zuständen gerade dachten oder fühlten. Die Heimlichkeit ihrerseits wäre zwingend gewesen, da sie wusste, dass wir ihr das niemals gestattet hätten. Das unsere Forschungen sich auf dem richtigen Weg befanden, zeigte sich an den Resultaten. Sie hatte die Zustände der Angst und Sorglosigkeit am eigenen Leibe erfahren. Es wäre ein unbeschreibliches Gefühl gewesen.
Bis gestern.
Ihre Ungeduld war der Auslöser gewesen, die tausendfache Verdünnung unseres Serums, die wir den Ratten verabreichten, eigenmächtig zu umgehen und hatte sich ein paar Tropfen unverdünnt injiziert. Kurz darauf wurde sie von einer Panikattacke heimgesucht. Sie hatte Todesängste. Wahrscheinlich der Moment, wo sie angerufen hatte. Susan erinnerte sich noch daran, das dieser Zustand nicht lange angehalten hatte. Sie sei plötzlich ganz ruhig geworden. Leicht und seltsamerweise ein Gefühl von Schwerelosigkeit hatte sich eingestellt und der Wunsch zu fliegen. Das letzte an dass sie sich erinnerte war, dass sie an die frische Luft wollte und dann in einen Bewusstseinszustand trat, wo es keine Dualität mehr gab. Es war, als ob plötzlich das Denken aufhörte und sie in ein sprachloses Staunen versetzt wurde. Sie hatte plötzlich keine Fragen mehr, suchte auch keine Antworten. Alles erschien ihr in dem Zustand, des Hier und Jetzt, absolut richtig. Was dann geschah, daran konnte Susan sich nicht mehr erinnern.
Jetzt fühlte sie sich einfach nur unbeschreiblich glücklich. Sie trank von ihrem Kaffee und schaute uns prüfend an.
Peter und ich hatten Susans Bericht schweigend verfolgt. Wir konnten es nicht glauben. Hatten wir unser Ziel erreicht? Hatten wir wirklich ein Serum gefunden, dass die Menschheit glücklich machen würde? Konnte unser Serum tatsächlich Hass, Neid, Lüge, Habgier, Machtstreben, und vor allem die Angst des Individuums restlos aufheben?
Doch als wir Susans strahlende Gestalt sahen, dieses grenzenlos glückliche Gesicht betrachteten wussten wir, es war uns gelungen.
Unsere Arbeit war beendet und die Formel unseres Elixiers lag sicher im Safe der National Bank. Da wir getrennt geforscht, und nur unsere ureigensten Ergebnisse
weitergegeben hatten, befanden wir uns auch nicht in unmittelbarer Gefahr. Keiner von uns konnte allein diese Formel für sich herstellen.
Jetzt waren wir uns einig, dass wir unser Serum an Menschen testen sollten. Was wir brauchten waren menschliche Versuchspersonen. Eine Zielgruppe schwebte mir bereits vor. Mein derzeitiger Nebenjob, freiberufliche Psychiaterin im Sicherheitstrakt der Frauenvollzugsanstalt in San Franzisko.
Nach reiflicher Überlegungen kamen wir zu dem Schluss, das Frauengefängnis einfach, Projekt Nr. 01FG, zu nennen.
Als ich an jenem Tag das FG betrat, befand sich in meiner Handtasche eine kleine braune Flasche mit unserer Erfindung, dem Elixier der Wahrhaftigkeit. Da ich für die Medikamentenzuteilung der Insassen zuständig war, fiel es auch nicht bei der üblichen Personenkontrolle auf. Viele der neuen Arzneien wurden so getestet. Man verabreichte sie einfach und protokollierte erst danach sorgfältig, die beobachteten Reaktionen an den Versuchspersonen. Obwohl ich wusste, dass die Verabreichung dieses Elixiers, keine Todesfälle nach sich ziehen würde, war ich doch sehr aufgeregt. Peter hatte eine Gewichts-Durchschnittsberechnung der Insassen genommen. Von einer Ratte praktisch eine Hochrechnung auf den Menschen erstellt und die auf die Masse umgelegt. Susans eigenmächtige Handlung, heimlich Versuchskaninchen zu spielen, hatte zur Folge, dass wir weiter an der Verabreichungsform unseres Serums forschten.
Der Inhalt der Flasche, die er mir mitgegeben hatte, würde ausreichend sein. Eine Überdosierung war nicht zu erwarten. Eher das Gegenteil.
Es war kurz vor dem Mittagessen, als ich in meinem kleinen, provisorisch eingerichtetem Behandlungsraum den großen Wasserspender vorbereitete. Jeder der Insassinnen musste seine Medikamente in meinem Beisein einnehmen und mit einem Schluck Wasser, dass ich persönlich reichte, herunterspülen. Ein Kinderspiel sozusagen. Doch plötzlich packten mich die Gewissensbisse. Schließlich hatte ich einen Schwur geleistet. Alles nur zum Wohle meiner Patienten, in meiner Macht stehende, zu tun.
Jetzt stand ich hier mit einem Elixier, dessen Wohl nicht abzusehen war. Ich rief mir die Bilder der Versuchsratten und Susans Aussage ins Gedächtnis. Lange hatte ich mit dem Gedanken gespielt, dieses Elixier selbst einzunehmen. Aber wer sollte dann die Ergebnisse der Beobachtungen protokollieren? Als ich den Medikamentenwagen mit dem Wasserbehälter in den Speisesaal schob, dachte ich zwanghaft an Susans Gesicht. Ich hatte mich entschieden. Das Serum würde ich den fünfundzwanzig gefährlichsten Insassinnen der Haftanstalt verabreichen. Sozusagen als neue Therapieunterstützung. Es entsprach der Wahrheit, da dieses Mittel nur Einfluss auf die Psyche nahm. Wir hatten eine zeitliche Kalkulation der Wirkung des Elixiers aufgestellt. In zwanzig Minuten setzte die Wirkung ein. Aufhebung, durch Abbau im Organismus, in ca. vier Stunden. Immerhin wollten wir unsere Testpersonen behutsam an dieses Mittel heranführen.
Für mich wurde die Wartezeit zur körperlichen Qual. Die längsten zwanzig Minuten. Nach der Verabreichung ging ich durch die Tischreihen und sprach mit den Insassen über ihre Probleme, so wie ich es immer tat. Ich richtete es so ein, dass ich die Testpersonen immer im Auge behielt. Plötzlich sprangen einige panikartig auf und gingen aufeinander los. Es kam zu einem brutalen Handgemenge. Unkontrolliert, voller Hass und Zorn. Andere suchten Schutz in den Ecken des Saales. Sie rollten sich wie Embryos zusammen und wimmerten wie Babys. Einige standen wie zu einer Salzsäule erstarrt. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihre Münder wie zum tonlosen Schrei geöffnet. Hilflos starrte ich auf die Szene. Ich wollte nicht glauben, was ich sah.
In den Gesichtern der Testpersonen vollzog sich schlagartig der Gesichtsausdruck. Waren diese Züge eben noch von Hass, Angst, Aggression geprägt, wurden die Züge jetzt ungläubig, weich, fast durchsichtig. Ich konnte die Auras erkennen, die wie Heiligenscheine ihre Gestalt umhüllten. Ohnmächtig musste ich zusehen, wie Eine nach der Anderen langsam, wie in Zeitlupe in sich zusammenfiel.
Ich konnte nur noch deren Tod, hervorgerufen durch einen extremen Schock, diagnostizieren.
Nein, das habe ich nicht gewollt.